LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 29.01.2015 - L 10 VE 28/11
Fundstelle
openJur 2015, 4887
  • Rkr:
Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 31. März 2011 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um einen Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenrente gemäß § 1 OEG i.V.m. den Vorschriften des BVG.

Die 2002 geborene Klägerin beantragte im Juni 2008 durch ihren Prozessbevollmächtigten bei dem Beklagten Beschädigtenversorgung mit der Begründung, Opfer eines sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater (I.) geworden zu sein. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich Folgendes zugetragen:

Im Januar 2007 unterrichtete das Amt für soziale Dienste das Amtsgericht J. darüber, dass die Klägerin im Oktober 2006 von K. kommend mit ihrem allein sorgeberechtigtem Vater nach J. gezogen sei. Die Klägerin stamme aus der ersten Ehe des Kindesvaters, über die Kindesmutter (L.) sei nichts bekannt. Die zweite Ehefrau des leiblichen Vaters habe für die Klägerin die Mutterrolle übernommen, die Klägerin glaube, dass diese Frau ihre Mutter sei, sie kenne ihre leibliche Mutter nicht. Seit dem 15. Oktober 2006 erhalte die Familie keine Leistungen mehr von der Agentur für Arbeit, weil der Kindesvater sich in J. nicht ordnungsgemäß angemeldet habe, wovon die Familie gelebt habe, sei nicht nachvollziehbar. Aufgrund ausgeübter Straftaten sei der Vater der Klägerin inhaftiert worden; der letzte Antrag auf Haftverschonung vom 4. Januar 2007 sei abgelehnt worden, mit der Folge, dass der Vater voraussichtlich noch in dieser Woche für 18 Monate inhaftiert werde. Die Klägerin solle nach dem Willen des Kindesvaters in der Zeit der Inhaftierung von seiner Mutter (M., geb. 5. Juli 1957) und seiner Schwester (N., geb. 9. Mai 1988) versorgt und betreut werden. Insoweit sei jedoch Sorge um das Wohl des Kindes angebracht, denn das leibliche Kind der N. sei untergebracht, ein Kontakt zu diesem Kind bestehe nicht. In einem Gutachten werde N. attestiert, dass sie aufgrund ihrer Persönlichkeit nicht in der Lage sei, ein Kleinkind verlässlich zu betreuen. In demselben Gutachten werde auch der Mutter des Kindesvaters, Frau M., attestiert, dass sie aufgrund ihrer Persönlichkeitsstörung nicht dazu in der Lage sei, emotional stabile Beziehungen aufzubauen bzw. zu unterhalten; die eigenen Kinder seien zum Teil über viele Jahre untergebracht gewesen. In der dargestellten Familienentwicklung sei in dem Gutachten von häufigem sexuellen Missbrauch die Rede. Die Klärung mit dem Vater der Klägerin über den Verbleib der Klägerin während der Zeit der Inhaftierung sei mit diesem nicht möglich; selbst feststehende Fakten (Inhaftierung) würden von ihm in Abrede gestellt. Ebenfalls sei bekanntgeworden, dass sich der Vater der Klägerin in der Vergangenheit wenig um sein Kind gekümmert habe. Vielmehr solle seine zweite Ehefrau, Frau O. das Kind erzogen haben. Diese Frau sei allerdings nicht zur Aufnahme der Klägerin bereit. Aus vorgenannten Gründen sei das Kindeswohl gefährdet, sodass das Kind in Obhut genommen und in einer Pflegestelle untergebracht werden müsse.

Daraufhin wurde die Klägerin seit dem 19. Januar 2007 in einer Pflegefamilie (P. und Q.) untergebracht. Mit weiterem Bericht vom 5. Dezember 2007 berichtete das Amt für soziale Dienste des Landkreises Goslar dem Amtsgericht Goslar, dass zwischen der Klägerin und ihrem Vater sowie dessen Verwandtschaft regelmäßige Kontakte jeweils einmal wöchentlich für zwei Stunden umgesetzt worden seien. Diese Kontakte hätten in den Räumlichkeiten der Haftanstalt des Amtsgerichts stattgefunden und seien Anfangs vom zuständigen Bezirkssozialarbeiter Herrn R., anschließend durch die Pflegeeltern begleitet worden. Mit zunehmender Zeit habe die Klägerin nach den Besuchen bei ihrem Vater auffällig reagiert, auf die Pflegeeltern habe sie einen bedrückten Eindruck gemacht, ohne organische Ursache eingenässt und von Albträumen berichtet. Die Pflegeeltern hätten von jüngsten Ereignissen berichtet, wonach während eines Aufenthaltes im Kinderzimmer mit dem zehnjährigen Pflegesohn der Eheleute S. die Klägerin sexuelle Handlungen an diesem habe vornehmen wollen, was durch die anwesenden Pflegeeltern aber habe verhindert werden können. Auf Nachfrage habe die Klägerin berichtet, dass sie das bei ihrem Vater auch immer habe machen müssen, wenn er keine Freundin gehabt habe oder alleine zu Hause gewesen sei. Sie habe das nicht gewollt, sich aber nicht getraut, dem Vater das zu sagen. Der Vater habe laut Angaben der Klägerin auch in ihrer Gegenwart Sex mit Frauen gehabt, nur O. habe dies in Gegenwart des Kindes nicht gewollt. Die Klägerin befinde sich seitdem in psychotherapeutischer Behandlung bei Frau Dr.  T., diese sei seitens des zuständigen Bezirkssozialarbeiters Herrn R., mit der weiteren Behandlung der Klägerin beauftragt. Es werde angeregt, hilfsweise das Jugendamt Goslar zum Ergänzungspfleger zur Ausübung der Gesundheitsfürsorge zu bestellen. Mit weiterem Schreiben vom 11. Januar 2008 wandte sich das Amt für soziale Dienste des Landkreises Goslar erneut an das Amtsgericht, weil der Vater der Klägerin im Hinblick auf die Behandlung der Klägerin bei der Kinder- und Jugendpsychologin keine Rückmeldung gebe. Die Klägerin aber bedürfe dringend weiterer therapeutischer Gespräche, die mangels Zustimmung des Kindesvaters nicht gewährt werden könnten. Die Klägerin belaste ihren Vater immer mehr und äußere immer mehr Fakten, die auf einen Missbrauch durch den Vater hindeuteten, gegenüber den Pflegeeltern, die nicht in der Lage seien, therapeutisch zu reagieren, weil sie über keine entsprechende Ausbildung verfügten. Eine zeitnahe Entscheidung des Familiengerichts bezüglich der Bestellung des Jugendamtes zum Ergänzungspfleger zur Ausübung der Gesundheitsfürsorge sei hilfreich, um der Klägerin die erforderliche psychologische Betreuung schnellstmöglich gewähren zu können.

Im Januar 2008 regte das Amtsgericht Goslar (Familiengericht) bei der Staatsanwaltschaft Braunschweig die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen den Vater der Klägerin wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen an.

Mit Beschluss vom 23. Januar 2008 entzog das Familiengericht des Amtsgerichts Goslar im Wege der vorläufigen Anordnung zudem dem Vater der Klägerin das Recht zur Gesundheitsfürsorge (u.a.) und übertrug sie dem Jugendamt Goslar als Pfleger.

Den bei dem Beklagten gestellten Antrag auf Beschädigtenversorgung begründete die Klägerin unter Vorlage eines Berichtes ihrer behandelnden Kinder- und Jugendpsychologin T. vom 30. Oktober 2008. Diese diagnostizierte u.a. eine „emotionale Störung im Kindesalter, Bindungsstörung mit Enthemmung sowie Entwicklungsstörungen“ und berichtete, dass die Klägerin unter Ängsten leide, seit sie einmal allein ihren Vater im Gefängnis habe besuchen müssen. Nun wolle sie ihren Vater nicht mehr sehen und erfinde Geschichten, um nicht wieder ins Gefängnis zu müssen. Laut Bericht der Pflegemutter habe die Klägerin ihren Pflegebruder im Bett aufgefordert, mit ihr „Vater-Mutter-Kind“ zu spielen. Sie habe sich ausgezogen und gewollt, dass ihr Bruder sie anfasse. Dabei habe sie erzählt, dass ihr Vater das auch mit seiner Freundin gemacht habe und dass sie das mit ihm habe machen müssen, wenn die Freundin nicht anwesend gewesen sei. Weitere Hinweise auf einen möglicherweise vorliegenden Missbrauch hat die Ärztin nicht gefunden.

Der Beklagte zog die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Braunschweig (Az.: NZS 609 Js 6028/08) bei. Diese enthielt u.a. ein Protokoll über die Anhörung der Klägerin durch die Jugendrichterin U. am 28. Februar 2008. Die Ermittlungsakte enthielt darüber hinaus ein aussagepsychologisches Gutachten der Diplom-Psychologin Dr.  V. vom 26. Januar 2009. Die Gutachterin führte in diesen Gutachten aus, dass in der Aussage der Klägerin nur wenige Qualitätsmerkmale vorhanden seien, die insgesamt inhaltlich nicht ausreichten, um als erlebnisbasiert eingestuft zu werden. Es bestünden Anhaltspunkte, die gegen eine real erlebte Tat sprächen. Eine Beeinflussung der Aussage der Klägerin durch vorherige Suggestivbefragung sei nicht auszuschließen. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig hat daraufhin gemäß § 170 Abs. 2 StPO das Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten, I., mit Verfügung vom 11. Februar 2009 eingestellt.

Nach Auswertung der Ermittlungsakte lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 13. August 2009 den Antrag auf Beschädigtenversorgung mit der Begründung ab, es sei nicht als nachgewiesen anzusehen, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs i.S. des § 1 Abs. 1 OEG geworden sei. Den hiergegen erhobenen Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 12. Februar 2010 zurück.

Mit ihrer zum Sozialgericht Braunschweig erhobenen Klage hat die Klägerin das Ziel der Zahlung von Beschädigtenrente weiter verfolgt. Das Ermittlungsverfahren gegen ihren leiblichen Vater sei aus nicht nachvollziehbaren Gründen eingestellt worden. Davon abgesehen müsse im Versorgungsverfahren im Hinblick auf das Opfer eine eigenständige Prüfung stattfinden, die sich lediglich am Ergebnis des strafrechtlichen Verfahrens orientieren könne. Das intensive Nachfragen der Beteiligten deute keinesfalls darauf hin, dass eine längerfristige Beeinflussung stattgefunden habe. Sie habe ihrer Pflegemutter spontan im Auto über den sexuellen Missbrauch berichtet, zudem besitze sie Detailwissen, welches ein Kind in ihrem Alter über das Thema Sexualität in der Regel nicht habe.

Das Sozialgericht hat die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Braunschweig beigezogen und mit Urteil vom 31. März 2011 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass die Klägerin nicht Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden sei. Ein solcher sei weder nachgewiesen, noch könnten die Aussagen der Klägerin zum sexuellen Missbrauch nach § 6 Abs. 3 OEG i.V.m. § 15 Satz 1 KOVVfG der Entscheidung zugrunde gelegt werden. Diese Vorschrift greife deshalb nicht ein, weil in dem Gutachten der Dr.  V. vom 26. Januar 2009 die Angaben der Klägerin als nicht glaubhaft eingestuft werden konnten.

Gegen das ihr am 9. Mai 2011 zugestellte Urteil wendet sich die am 26. Mai 2011 eingegangene Berufung der Klägerin. Sie begehrt weiter Beschädigtenrente und meint, dass es verschiedene Signale und Folgen von sexuellem Missbrauch gebe, die bei ihr deutlich zu erkennen seien. Sie habe unvermittelt und spontan ihrer Pflegemutter von dem sexuellen Missbrauch berichtet, darüber hinaus habe sie im Alter von fünf Jahren die Missbrauchshandlungen mit ihrem Pflegebruder nachgespielt. Es sei völlig unwahrscheinlich, dass ein Kind in ihrem Alter die Größe des Gliedes, die Verwendung einer Creme und den beim Übergriff gefühlten Schmerz derartig beschreiben könne, wie es ihr möglich gewesen sei. Das eingeholte Glaubwürdigkeitsgutachten der Dr.  V. genüge nicht den grundlegenden wissenschaftlichen Anforderungen, die an ein solches Gutachten zu stellen seien.

Die Klägerin beantragt,

1. das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 31. März 2011 sowie den Bescheid des Beklagten vom 13. August 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 2010 aufzuheben,

2. den Beklagten zu verurteilen, ihr Beschädigtenrente nach den gesetzlichen Vorschriften zu bewilligen.

3. für den Fall der Zurückweisung der Berufung, die Revision zuzulassen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 31. März 2011 zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil und seinen mit ihm überprüften Bescheid für zutreffend.

Der Senat hat im vorbereitenden Verfahren Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen I., M., W., X. sowie O.. Darüber hinaus hat er ein Glaubhaftigkeitsgutachten über die Klägerin von der Sachverständigen Prof. Dr.  Y. vom 14. Oktober 2014 eingeholt. Der Inhalt der Zeugenaussagen und des Gutachtens wird – soweit entscheidungserheblich – in den Entscheidungsgründen dargestellt. Schließlich hat der Senat die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Braunschweig (Az.: NZS 609 Js 6028/08) einschließlich des aussagepsychologischen Gutachtens der Dr.  V. vom 26. Januar 2009 beigezogen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, die Verwaltungsakte des Beklagten sowie die beigezogene Akte Bezug genommen. Sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Gründe

Die statthafte Berufung der Klägerin ist form- und fristgerecht eingelegt und auch im Übrigen zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet.

Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid des Beklagten ist nicht rechtswidrig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung von Beschädigtenrente wegen Folgen sexuellen Missbrauches, weil nicht festgestellt werden kann, dass sie Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs i.S.d. § 1 Abs. 1 OEG geworden ist.

Ein Entschädigungsanspruch nach dem OEG setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 S. 1 OEG gegeben sind. Danach erhält eine natürliche Person ("wer"), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs. 1 S. 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist bei der Auslegung des Rechtsbegriffs "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" i.S. des § 1 Abs. 1 S. 1 OEG entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen; von subjektiven Merkmalen (wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht des Täters) hat sich die Auslegung insoweit weitestgehend gelöst (vgl. hierzu BSG Urteil vom 7. April 2011, B 9 VG 2/10 R, SozR 4-3800 § 1 Nr. 18 Rn. 32 mwN). Dabei hat das BSG je nach Fallkonstellation unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Gesichtspunkte hervorgehoben. Leitlinie ist insoweit der sich aus dem Sinn und Zweck des OEG ergebende Gedanke des Opferschutzes. Das Vorliegen eines tätlichen Angriffs hat das BSG daher aus der Sicht eines objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden. Allgemein ist es in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass als tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger bzw. rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen ist, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer – jedenfalls versuchten – vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (vgl. nur BSG Urteil vom 29. April 2010, B 9 VG 1/09 R, SozR 4-3800 § 1 Nr. 17 Rn. 25 mwN). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff i.S. des § 240 StGB zeichnet sich der tätliche Angriff i.S. des § 1 Abs. 1 S. 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein (vgl. BSG Urteil vom 7. April 2011, B 9 VG 2/10 R, SozR 4-3800 § 1 Nr. 18 Rn. 36 mwN).

In Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern i.S. von § 176 StGB hat das BSG den Begriff des tätlichen Angriffs noch weiter verstanden. Danach kommt es nicht darauf an, welche innere Einstellung der Täter zu dem Opfer hatte und wie das Opfer die Tat empfunden hat. Allein entscheidend ist, dass die Begehensweise, also sexuelle Handlungen, eine Straftat war (vgl. BSG Urteil vom 29. April 2010, B 9 VG 1/09 R, SozR 4-3800 § 1 Nr. 17 Rn. 28 mwN). Auch der "gewaltlose" sexuelle Missbrauch eines Kindes kann demnach ein tätlicher Angriff i.S. des § 1 Abs. 1 S. 1 OEG sein (BSG Urteile vom 18. Oktober 1995, 9 RVg 4/93, SozR 3-3800 § 1 Nr. 6 S. 23 f. und 9 RVg 7/93, SozR 3-3800 § 1 Nr. 7 S. 28 f.). Diese erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs ist speziell in Fällen eines sexuellen Missbrauchs von Kindern aus Gründen des sozialen und psychischen Schutzes der Opfer unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des OEG geboten.

Der Senat schließt sich dieser Auslegung des Rechtsbegriffs "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" i.S. des § 1 Abs. 1 S. 1 OEG an. Er sieht sich jedoch nicht in der Lage, einen sexuellen Missbrauch der Klägerin durch ihren Vater und damit einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff i.S.d. § 1 Abs. 1 OEG als bewiesen bzw. glaubhaft gemacht festzustellen.

Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das soziale Entschädigungsrecht, also auch das OEG, drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang hier: tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 S. 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, sind hinsichtlich des schädigenden Vorgangs bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen und Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verloren gegangen sind.

Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen. Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG Urteil vom 24. November 2010, B 11 AL 35/09 R, zit. nach Juris). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 128 Rn. 3b mwN).

Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit i.S. des § 1 Abs. 3 S 1 BVG ist gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (vgl. BSG Beschluss vom 8. August 2001, B 9 V 23/01 B, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4 S. 14 mwN). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein "deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.

Bei dem "Glaubhafterscheinen" i.S. des § 15 S. 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 128 Rn. 3d mwN), d.h. der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl. BSG Beschluss vom 8. August 2001, B 9 V 23/01 B, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4 S. 14 f mwN). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, d.h. es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 128 Rn. 3d mwN), weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Gericht ist allerdings im Einzelfall grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung, § 128 Abs. 1 S. 1 SGG; vgl BSG Beschluss vom 8. August 2001, B 9 V 23/01 B, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4 S. 15).

1. a) Der von der Klägerin behauptete sexuelle Missbrauch durch ihren Vater ist nicht zur Überzeugung des Senats nachgewiesen worden. Unmittelbare Tatzeugen sind nicht vorhanden. Der beschuldigte Vater der Klägerin, I., hat die Vorwürfe bestritten und stattdessen betont, die Klägerin nicht sexuell missbraucht zu haben. Die Zeugin M. – Mutter des beschuldigten Vaters und Großmutter der Klägerin – hat ausgesagt, dass sie aus eigener Wahrnehmung keine Angaben zu den behaupteten Taten machen könne, weil sie nicht beobachtet habe, dass die Klägerin durch ihren Sohn sexuell missbraucht worden sei. Sie sei der Auffassung, dass das Ganze nicht stimme und der Klägerin das „von irgendjemandem eingetrichtert worden sein müsse“. Anders könne sie sich das nicht erklären. Bei den Zeugen P. und Q. handelt es sich um die Pflegeeltern der Klägerin, bei denen die Klägerin zeitlich erst nach den angeschuldigten Taten aufgenommen worden ist. Sie können bereits aus der Natur der Sache zu dem sexuellen Missbrauch keine Angaben aus eigener Beobachtung machen. Schließlich hat die Zeugin O., die geschiedene Ehefrau des Vaters der Klägerin, die bis ca. Frühjahr 2006 mit dem Vater und der Klägerin in einem gemeinsamen Haushalt gelebt hat, ausgesagt, sexuellen Missbrauch durch den Vater an der Klägerin nicht beobachtet zu haben. Andere Beweismittel bzw. Zeugen, die die Angaben der Klägerin aus eigener Beobachtung bestätigen könnten, sind nicht ersichtlich. Dies gilt insbesondere auch für die von der Klägerin benannten Zeuginnen Z. und AA. (früher: AB.). Die Dipl.-Psych. Z. hat im Rahmen ihrer Tätigkeit für die Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche in J. zu der Klägerin und ihren Pflegeeltern ausweislich der Schreiben vom 29.Oktober 2012 und 27. Februar 2013 erstmals im Februar 2012 Kontakt gehabt. Und die Zeugin AC., hat als „Schwester“ der Klägerin ebenfalls als Pflegekind in der Familie S. gelebt und damit auch zeitlich erst nach den angeschuldigten Taten erstmals Kontakt zu der Klägerin gehabt. Damit können aber auch diese Zeuginnen zu dem sexuellen Missbrauch keine Angaben aus eigener Beobachtung machen.

b) Entgegen der Auffassung der Klägerin kann der sexuelle Missbrauch durch den Vater auch nicht aus der medizinischen Diagnose „sonstige emotionale Störungen im Kindesalter, Bindungsstörungen des Kindesalters mit Enthemmung, kombinierte umschriebene Entwicklungsstörungen“ oder auffälliges Sozialverhalten (z.B. Angst, Albträume, Einnässen) geschlussfolgert werden. Der Senat geht in ständiger Rechtsprechung (vgl. Beschlüsse vom 2. Juni 2009, Az. L 10 VG 3/06, 11. Juni 2009, Az. L 10 VG 1/08; Urteil vom 22. Juli 2010, Az. L 10 VG 21/07) und in Übereinstimmung mit dem 13. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 5. Juni 2008, Az. L 13 VG 1/05) davon aus, dass aus einer Diagnose keine Ableitungen auf das Vorliegen einer sexuellen Missbrauchserfahrung in der Biographie möglich sind und schon gar nicht auf eine spezifische Person als möglichen Täter. Es mag zwar sein, dass ein sexueller Missbrauch als Kind in einer großen Anzahl von Fällen zu speziellen psychischen Erkrankungen führt. Die Wahrscheinlichkeit hinsichtlich des Kausalzusammenhangs vermag jedoch nicht die Notwendigkeit einer vollen richterlichen Überzeugung von der Erfüllung des objektiven Tatbestandsmerkmals „eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs“ gerade im Falle der Klägerin zu ersetzen. Denn es gibt auch Fälle von emotionalen Störungen bzw. Bindungsstörungen im Kindesalter sowie Entwicklungsstörungen, die nicht mit einem sexuellen Missbrauch in Zusammenhang stehen. Dasselbe gilt für das von der Klägerin beschriebene auffällige Verhalten: Dass Kinder von Angst und Albträumen berichten und ohne organische Ursache einnässen, geschieht nach Kenntnis des Senates auch, wenn diese zuvor nicht Opfer sexuellen Missbrauches geworden sind. Allein die Möglichkeit, dass ein frühkindlicher Missbrauch zu derartigen Krankheitsbildern und Verhaltensweisen führen kann, reicht nicht aus, den Beweis als geführt anzusehen, der angeschuldigte Angriff habe so tatsächlich stattgefunden (vgl. Senatsbeschluss vom 11. Juni 2009, Az. L 10 VG 1/08; ebenso LSG Niedersachsen Bremen, Urteil vom 5. Juni 2008, Az. L 13 VG 1/05).

2. Das Vorliegen eines sexuellen Missbrauchs der Klägerin durch ihren Vater lässt sich auch nicht unter Zugrundelegung der Beweiserleichterung nach § 6 Abs. 3 OEG i.V.m. § 15 KOVVfG annehmen. Nach § 15 S. 1 KOVVfG sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, soweit die Angaben nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Beweiserleichterung des § 15 S. 1 KOVVfG ist auch anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind (vgl. BSG Urteil vom 31. Mai 1989, 9 RVg 3/89, SozR 1500 § 128 Nr. 39 S 46). Zudem sind nach der Rechtsprechung des BSG – der der Senat folgt – nach dem Sinn und Zweck des § 15 S. 1 KOVVfG nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen, die von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht (vgl. §§ 383 ff ZPO) Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende Person, die eine schädigende Handlung bestreitet. Die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 S. 1 KOVVfG bezieht, ist in diesem Fall nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist. Die Beweiserleichterung des § 15 S. 1 KOVVfG gelangt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen nicht vorhanden sind (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013, B 9 V 3/12 R, zit. nach Juris).

Dieser Auslegung folgend ist § 15 S. 1 KOVVfG vorliegend anzuwenden. Der beschuldigte Vater der Klägerin streitet den behaupteten Missbrauch ab und Tatzeugen, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können, sind nicht vorhanden.

Die Behauptung der Klägerin, sie sei in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden, ist für den Senat jedoch nicht glaubhaft. Er stützt sich dabei insbesondere auf das von ihm veranlasste Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr.  Y.: Den Maßgaben in dem Urteil des BSG vom 17. April 2013 (Az. B 9 V 3/12 R) folgend hat der Senat Beweis erhoben auch durch Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens über die Klägerin unter besonderer Berücksichtigung von § 15 KOVVfG durch diese Sachverständige. Daraus ergibt sich für den vorliegenden Rechtsstreit Folgendes:

a) Die Sachverständige Prof. Dr.  Y. hat ihrem Gutachten zunächst grundsätzliche Erkenntnisse zu aussagepsychologischen Gutachten vorangestellt und Ziel und Methodik der aussagepsychologischen Begutachtung erläutert. Dabei ist der Senat davon überzeugt, dass die Ausführungen der Sachverständigen den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis in diesem Fachgebiet wiederspiegeln und sich auch genauso in der entsprechenden Fachliteratur wiederfinden (vgl. u. a.: Renate Volbert „Glaubhaftigkeitsbegutachtung: Wie man die aussagepsychologische Methodik verstehen und missverstehen kann“ in: Interdisziplinäre Fachzeitschrift für Prävention und Intervention, Heft 2 2009, Seite 52 ff.; Luise Greuel, „Was ist Glaubhaftigkeitsbegutachtung (nicht)? Zum Problem der Dogmatisierung in einen wissenschaftlichen Diskurs“ in: Interdisziplinäre Fachzeitschrift für Prävention und Intervention, Heft 2 2009, Seite 70 ff.). Bei der Sachverständigen Prof. Dr.  Y. handelt es sich um eine allgemein anerkannte Expertin auf dem Gebiet der Glaubhaftigkeitsbegutachtung, die seit 1986 forensisch-psychologische Sachverständigentätigkeit mit dem Schwerpunkt aussagepsychologische Glaubhaftigkeitsbegutachtung in Fällen sexueller Gewalt- und Missbrauchsdelikte leistet und durch zahlreiche Buch- und Zeitschriftenpublikationen zu den Schwerpunkten Aussage-, Kriminal-, Vernehmungs- und Polizeipsychologie bekannt ist. Auch das BSG hat sich in seiner Entscheidung vom 17. April 2013 wiederholt auf Publikationen dieser Sachverständigen bezogen.

Prof. Dr.  Y. hat in ihrem Gutachten zunächst deutlich gemacht, dass die aussagepsychologische Begutachtung zur Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage zu den zentralen Aufgabenfeldern der forensischen Psychologie gehört und deren methodischen Prinzipien unterworfen ist. Die übergeordnete Fragestellung in der psychodiagnostischen Untersuchung laute generell: Wie ist das vorliegende menschliche Verhalten zu erklären? Übertragen auf die aussagepsychologische Glaubhaftigkeitsbegutachtung ergebe sich die übergeordnete Frage: Wie kann das Zustandekommen der in Rede stehenden Zeugenaussage psychologisch am besten erklärt werden?  Damit gehe es bei der Glaubhaftigkeitsbegutachtung lediglich um die Frage, ob es für die Aussage (z. B. einer Zeugin) andere wahrscheinliche Erklärungsmöglichkeiten als den Rückgriff auf Selbsterlebtes gebe. Die Zielsetzung der aussagepsychologischen Glaubhaftigkeitsbegutachtung bestehe keinesfalls darin festzustellen, ob eine Person ohne jeden Zweifel die Wahrheit berichte. Aussagen zur Faktizität eines wie auch immer gearteten Erlebnissachverhaltes würden durch aussagepsychologische Gutachten grundsätzlich nicht getroffen. Die aussagepsychologische Begutachtung liefere vielmehr Wahrscheinlichkeitsaussagen zu der Frage, ob die Person die vorliegende Aussage auf dem Hintergrund ihrer individuellen Fähigkeiten unter den gegebenen Befragungsumständen und unter Berücksichtigung der im konkreten Fall möglichen (auto-)suggestiven Einflüsse hätte erstatten und aufrechterhalten können, ohne dass sie auf einem wirklichen Erlebnishintergrund basiert. Das Ziel der aussagepsychologischen Begutachtung bestehe darin, den Erlebnisbezug und die Zuverlässigkeit einer konkreten Aussage zu substantiieren.

Die Sachverständige Prof. Dr.  Y. hat weiter betont, dass sich die aussagepsychologische Begutachtung also nicht mit der

- allgemeinen Glaubwürdigkeit einer Person im Sinne einer überdauernden Wahrheitsliebe, Ehrlichkeit oder gar moralischen Integrität befasse, sondern nur mit der konkreten Aussage. Glaubhaftigkeitsbegutachtung sei Leistungsdiagnostik, d.h., es gehe nicht um die Frage, ob eine konkrete Person aus habituellen Gründen die Unwahrheit sagen würde, sondern es gelte ganz konkret die Frage zu beantworten, ob diese Person von ihren psychischen Leistungsvoraussetzungen her und unter den gegebenen Umständen die vorliegenden Aussage vorgebracht und aufrechterhalten haben könnte, ohne dass sie sich hierbei auf einen wirklichen Erlebnishintergrund bezieht.

- Faktizität der geschilderten Ereignisse befasse. Glaubhaftigkeitsbegutachtungen zielten nicht auf die Bewertung von Fakten ab, sondern einzig und allein auf die Generierung und Beurteilung von Gedächtnisrepräsentationen, also (verbalisierten) Erinnerungen. Die Annahme sei falsch, dass Glaubhaftigkeitsgutachten im Ergebnis feststellen könnten, ob ein geschildertes Tatgeschehen stattgefunden habe oder nicht bzw. „ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen“.

- Lügendetektion befasse. Aussagepsychologische Gutachten könnten weder verifizieren, dass sich ein Geschehen tatsächlich so zugetragen hat, wie geschildert, noch könnten sie faktisch feststellen, dass es sich bei einer Aussage tatsächlich um eine Lüge handele.

Im positiven Fall könnten aussagepsychologische Gutachten Zweifel an der Erlebnisbasis und Zuverlässigkeit einer konkreten Aussage zurückweisen. Die aussagepsychologische Glaubhaftigkeitsbegutachtung sei letztlich eine Methode zur Substantiierung des Erlebnisgehalts einer Aussage – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Im Hinblick auf die Methodik der Hypothesenbildung und Hypothesenprüfung hat die Sachverständige anschaulich erklärt, dass Psychodiagnostik zunächst einmal nichts anderes als das systematische Überprüfen von Hypothesen bzw. Erklärungsmodellen für das Zustandekommen eines konkreten Verhaltens: hier der Entstehung einer konkreten Aussage, sei. Dieser Grundsatz sei bereits 1970 formuliert worden und begründe bis heute das Primat der hypothesengeleiteten Diagnostik. Es handele sich also keineswegs um eine „Neuerfindung“ des BGH aus dem Jahre 1999, wie verschiedentlich suggeriert werde. Selbstverständlich habe der BGH nur die langjährigen fachlichen Standards der Psychodiagnostik rezipiert und in die von ihm formulierten „wissenschaftlichen Anforderungen an aussagepsychologische Gutachten“ aufgenommen. Dass dieser sich zur Veranschaulichung des hypothesengeleiteten Begutachtungsansatzes der Analogie zur im experimentellen Methodenverständnis vorherrschenden Unterscheidung von Null- und Alternativhypothese bedient habe, habe sich im forensischen Diskurs allerdings als eher kontraproduktiv erwiesen. So sei die ursprünglich intendierte Sensibilisierung für die Notwendigkeit einer ergebnisoffenen Hypothesenprüfung im Sinne einer „Ausschlussdiagnostik“ verfehlt worden. Die Sachverständige Prof. Dr.  Y. hat dabei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass vor diesem Hintergrund ihres Erachtens gänzlich auf die Verwendung des Begriffs der „Nullhypothese“ verzichtet werden sollte, weil er in hohem Maße zur Desorientierung aller Beteiligten und damit letztlich zu (vermeidbaren) Missverständnissen in gerichtlichen Verfahren führe: So werde die irrige Annahme vertreten, dass psychologische Sachverständige so lange unterstellten, „dass ein angebliches oder tatsächliches Opfer eines Missbrauchs die Unwahrheit sage, bis diese Vermutung angesichts einer überwältigenden Fülle in entgegenstehender Befunde beim besten Willen nicht mehr aufrechtzuerhalten sei.“ Eine derartige Fehlkonzeption verkenne jedoch völlig, dass die Berücksichtigung und systematische Überprüfung von Hypothesen zum Wesen der Psychodiagnostik schlechthin gehöre.

Auch unter diesem Aspekt habe der BGH in seinem Folgeurteil vom 30. Mai 2000 eine für die forensische Praxis nutzbringende Klarstellung vorgenommen und explizit dargelegt, dass es sich bei den von Sachverständigen zu generierenden Untersuchungshypothesen um rein gedankliche Prüfschritte handele. Entscheidend sei, so die Sachverständige, dass unter Berücksichtigung aller im Einzelfall sinnvollen bzw. relevanten Erklärungsmodelle Annahmen über das Zustandekommen der konkreten Aussage generiert und durch geeignete psychodiagnostische Untersuchungsstrategien systematisch überprüft würden. Ob man dieses basale Prinzip der Psychodiagnostik als „Nullhypothesen“-Prüfung bezeichne oder nicht, sei für die Sache selbst völlig unerheblich.

Bei der aussagepsychologischen Glaubhaftigkeitsbegutachtung gehe es also letztlich darum festzustellen, ob es gewichtige Anhaltspunkte dafür gebe, dass die Aussage auf einer anderen Basis als dem Rückgriff auf tatsächliche Erlebniserinnerungen zustande gekommen sein könnte. Es sei die übergeordnete Untersuchungsfragestellung zu beantworten:

„Könnte dieser Zeuge/Kläger mit den gegebenen individuellen Voraussetzungen unter den gegebenen Befragungsumständen und unter Berücksichtigung der im konkreten Fall möglichen Einflüsse von Dritten seine spezifische Aussage über die fraglichen Ereignisse machen, wenn er diese überhaupt nicht oder nicht in der geschilderten Form erlebt hätte?“

Nur wenn sämtliche der im Einzelfall relevanten Konkurrenzannahmen zur Erlebnishypothese zurückgewiesen werden könnten, weil sie sich nicht schlüssig mit den erhobenen Befunden in Einklang bringen ließen, sei der logische Schluss gedeckt, dass die Aussage nicht anders als durch den Rückgriff auf wirkliche Erlebnisse erklärt werden könne. Glaubhaftigkeitsbegutachtung funktioniere also als eine Art Ausschlussdiagnostik. Der Erlebnisgehalt einer Aussage werde nicht positiv festgestellt, sondern es würden, im Idealfall, alternative Erklärungen und damit Zweifel an der Erlebnisbasis und Zuverlässigkeit einer Aussage zurückgewiesen. Wenn diese nicht zurückgewiesen werden könnten, sei daraus nicht zwangsläufig ableitbar, dass es sich tatsächlich auch um eine Falschaussage handeln müsse, diese Möglichkeit könne nur nicht mit der gebotenen Zuverlässigkeit ausgeschlossen werden.

Prof. Dr.  Y. hat betont, dass Rückschlüsse auf die faktische Grundlage einer Aussage allein der richterlichen Beweiswürdigung obliegen. Wissenschaftlich gedeckt sei in derartigen Fällen nur die Aussage, dass sich Zweifel am Erlebnisgehalt der Aussage, eventuell sogar auf mehreren Prüfebenen, nicht ausräumen ließen.

Weiter hat die Sachverständige erklärt, dass sich der normative Begriff der „Glaubhaftigkeit“ quasi als ein sprachliches Kürzel für das Vorliegen von drei psychologischen Voraussetzungen darstelle, die allesamt erfüllt sein müssen, damit Erlebnisgehalt und Zuverlässigkeit einer konkreten Aussage bestätigt werden könnten. Hierbei handele es sich um:

- Aussagetüchtigkeit (Ausschluss individueller Leistungsdefizite)

- Aussagequalität (Ausschluss intentionaler Falschaussagen)

- Aussagezuverlässigkeit (Ausschluss nicht-intentionaler Aussagefehler)

Streng genommen lieferten aussagepsychologische Gutachten zur Glaubhaftigkeit einer Aussage ausschließlich Antworten zu diesen drei übergeordneten Fragestellungen, der hieraus resultierende Schluss auf die „Glaubhaftigkeit“ der Aussage sei allein dem erkennenden Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung überlassen.

Dabei müsse bei der Überprüfung der Aussagezuverlässigkeit der Frage nachgegangen werden, ob für die vorliegende Aussage auch nicht-intentionale Verfälschungs- und/oder Verzerrungseffekte ausgeschlossen werden könnten. Im Rahmen dieser sog. Fehlerquellenanalyse gehe es primär darum, durch Rekonstruktion der Aussageentstehung und Aussageentwicklung festzustellen, ob Hinweise auf innere und/oder äußere Bedingungsfaktoren der Aussage vorliegen, von denen aus der gedächtnispsychologischen Forschung bekannt sei, dass sie grundsätzlich mit einem (u.U. sogar gravierend) erhöhten Risiko für Wahrnehmungs- und/oder Erinnerungsverfälschungen einhergingen. Sollten sich im konkreten Einzelfall eine Vielzahl von Indikatoren für die Ausbildung einer falschen Erinnerung auffinden lassen, so dass die Aussage durch hoch suggestive (interne wie externe) Einflussfaktoren überlagert oder sogar erst generiert worden sein könnte, dann sei die Methode der Aussageanalyse nicht mehr durchführbar. Suggerierte Aussagen könnten in ihrer Qualität erlebnisgestützten Aussagen sehr ähnlich sein, gerade dann, wenn die Aussageperson sich über einen langen Zeitraum sehr intensiv mit entsprechenden „Erinnerungsbildern“ und Vorstellungen auseinandergesetzt habe, bis sie zur subjektiven Gewissheit geworden sei. D.h. aber auch, dass weder die Aussageperson selbst noch die aussagepsychologische Methode dazu in der Lage sei, zwischen erlebnisbasierten und suggerierten Aussagen trennscharf zu unterscheiden. Prof. Dr.  Y. hat betont, dass es derzeit keine wissenschaftliche Methode gebe, die diese Abgrenzung zwischen erlebnisfundierten und suggerierten Aussagen oder gar den positiven Nachweis einer Pseudoerinnerung erlauben würde. Für die Begutachtung bedeute dies, dass mit dem Nachweis eines hohen Suggestionspotentials in der Aussageentwicklung die Begutachtung abgeschlossen sei. Der Erlebnisbezug der Aussage könne dann nicht mehr bestätigt werden, weil andere Erklärungen – hier: suggestive Generierung und Kontamination der Aussage – (mindestens) ebenso wahrscheinlich seien.

Ergänzend zu diesen allgemeinen Ausführungen hat die Sachverständige Prof. Dr.  Y. dann im Folgenden dargelegt, dass die vom BSG in seiner Rechtsprechung vom 17. April 2013 erhobene Forderung der besonderen Berücksichtigung von § 15 KOVVfG bei der Glaubhaftigkeitsbegutachtung mit den fachwissenschaftlichen Inferenzregeln der psychologischen Diagnostik nicht vereinbar ist und insofern von aussagepsychologischen Gutachten nicht eingelöst werden kann. Hier liege eine Vermischung von zwei unterschiedlichen, voneinander unabhängigen Ebenen vor, nämlich der Ebene der psychologischen Hypothesenprüfung bzw. Inferenz auf der einen und der Ebene der richterlichen Beweiswürdigung auf der anderen Seite. Diese Vermischung sei möglicherweise darauf zurückzuführen, dass die aussagepsychologische Methodik zumindest in Teilaspekten missverstanden und dementsprechend bei der Aufstellung dieser normativen Forderung von falschen Prämissen ausgegangen worden sei. Insbesondere seien die folgenden falschen Prämissen in vorliegendem Kontext von zentraler Bedeutung:

- dass es sich bei der aussagepsychologischen Begutachtung um einen besonders strengen, primär an den Beweismaßstäben des Strafrechts (Vollbeweis) ausgerichteten Beurteilungsprozess handele (BSG, Urteil vom 17. April 2013, B 9 VR 3/12 R, Rn. 55)

- dass aussagepsychologische Gutachten zu einer dichotomen „Glaubhaftigkeitsdiagnose führten (BSG, Urteil vom 17. April 2013, B 9 V 3/12 R, Rn. 55)

- dass der Prozess der (aussage-)psychologischen Hypothesenprüfung ähnlich einem statistischem Hypothesentest funktioniere und vor dem Hintergrund vorab festgelegter Wahrscheinlichkeitsgrade („sehr hohe Wahrscheinlichkeit“ vs. „relative Wahrscheinlichkeit“) durchgeführt werden könne (BSG, Urteil vom 17. April 2013, B 9 VR 3/12 R, Rn. 56)

- dass sich zwischen den im konkreten Einzelfall jeweils relevanten Hypothesen ein „möglichst klarer Unterschied in ihrer Geltungswahrscheinlichkeit bzw. praktischen Gewissheit“ ergeben müsse (BSG, Urteil vom 17. April 2013, B 9 V 3/12 R, Rn. 57)

Prof. Dr.  Y. hat in diesem Zusammenhang klargestellt, dass psychologische Begutachtung im Allgemeinen und aussagepsychologische Begutachtung im Besonderen grundsätzlich unabhängig von prozessrechtlichen Rahmenbedingungen und normativen Beweisregeln ist. Aus der Tatsache, dass Glaubhaftigkeitsgutachten überwiegend in Strafverfahren erstattet würden, sei verschiedentlich abgeleitet worden, dass hier die (besonders strengen) Beweismaßstäbe des Strafrechts (Vollbeweis) an die zu begutachtende Aussage angelegt würden. Unter Bezugnahme auf das BGH-Urteil zu Mindeststandards der aussagepsychologischen Begutachtung sei in diesem Zusammenhang zudem darauf verwiesen worden, dass die aussagepsychologische Begutachtung besonders gut mit dem rechtsstaatlichen Prinzip der Unschuldsvermutung korrespondiere und den strengen Beweisregeln des Strafrechts damit in besonderer Weise genüge. Prof. Dr.  Y. hat eingeräumt, dass diese Analogie zwar nahe liege; sie hat aber betont, dass die strafrechtliche Unschuldsvermutung als solche selbstverständlich nicht die (aussage-)psychologische Prüfstrategie begründe. Es könne auch nicht die Rede davon sein, dass sich die aussagepsychologische Begutachtung an diesem normativen Beurteilungsmaßstab orientiere. Ausschlaggebend für die psychologische Hypothesenprüfung und Befundintegration seien ausschließlich fachwissenschaftliche Schlussfolgerungsregeln der Psychodiagnostik. Zusammenfassend hat die Sachverständige konstatiert, dass es sich bei der aussagepsychologischen Hypothesenprüfung keinesfalls um die Anwendung prozessrechtlich spezifischer oder gar „besonders strenger“ Beurteilungsregeln handele, sondern um die Anwendung grundlegender logischer Prinzipien, die in allen Bereichen der psychologischen Diagnostik auf die Hypothesenprüfung angewendet würden. Diese Prinzipien hätten nichts mit (mehr oder weniger strengen) normativen Beweismaßstäben zu tun, sondern seien ausschließlich fachwissenschaftlichen Inferenzregeln und basalen logischen Schlussfolgerungsregeln geschuldet. Ein sachgerecht erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten sei also per se nicht darauf ausgerichtet, den Vollbeweis zu der Frage zu erbringen, ob die Angaben des Zeugen/Antragstellers zutreffend sind. Es sei vielmehr darauf ausgerichtet, die im Einzelfall relevanten Möglichkeiten für das Zustandekommen einer Aussage zu explizieren, durch systematische psychodiagnostische Befunderhebung deren jeweilige Plausibilität mit psychologischen Erkenntnissen und Gesetzmäßigkeiten zu überprüfen und nachvollziehbar zu begründen, ob und ggf. inwieweit die psychologischen Befunde die Aussagetüchtigkeit des Zeugen/Antragstellers, den Erlebnisbezug sowie die Zuverlässigkeit seiner Aussage substantiieren.

Beweisfragen, ob Aussagen über einen inkriminierten Sachverhalt als „in hohem Maße wahrscheinlich glaubhaft“ oder „mit relativer Wahrscheinlichkeit glaubhaft“ zu beurteilen seien, könnten von aussagepsychologischen Sachverständigen nicht beantwortet werden. Es handele sich im Übrigen auch um ein Missverständnis, wenn davon ausgegangen werde, dass ein aussagepsychologischer Sachverständiger Angaben erst als glaubhaft ansehe, wenn er alle Alternativhypothesen ausschließen könne (BSG, Urteil vom 17. April 2013, B 9 VR 3/12 R, Rn. 55). In aussagepsychologischen Gutachten stehe am Schluss des Bewertungsprozesses keine wie auch immer geartete „Glaubhaftigkeitsdiagnose“, sondern nur die Feststellung, dass Zweifel am Erlebnisbezug und der Zuverlässigkeit der Aussage ausgeräumt werden können oder eben auch nicht. Streng genommen lieferten aussagepsychologische Gutachten zur Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage ausschließlich Antworten auf die Frage nach der Aussagetüchtigkeit einer Aussageperson, der Qualität sowie der Zuverlässigkeit ihrer Aussage. Der hieraus resultierende Schluss auf die „Glaubhaftigkeit“ der Zeugenaussagen sei allein dem erkennenden Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung überlassen.

Auch orientiere sich die aussagepsychologische Begutachtung als Einzelfalldiagnostik nicht an extern vorgegebenen Grundwahrscheinlichkeiten. Die Psychologie sei eine empirische Wissenschaft und treffe demzufolge immer nur Wahrscheinlichkeitsaussagen. Wenn nun gefordert werde, dass aussagepsychologischen Sachverständigen im Rahmen der sozialgerichtlichen Begutachtung – im Hinblick auf § 15 S. 1 KOVVfG – aufgegeben werden soll, die Frage zu beantworten „ob die Angaben mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert angesehen werden können“ (BSG, Urteil vom 17. April 2013, B 9 V 3/12 R, Rn. 56), dann lasse sich dahinter das Bemühen erkennen, bei schwieriger Beweislage die Anforderungen an das Beweismittel „Aussage“ zu reduzieren. Dies sei eine normative Perspektive, die mit der aussagepsychologischen Perspektive und dem Sachverständigenstatus nicht kompatibel sei. Hierdurch würde letztlich eine unzulässige Vorverlagerung von Beweiswürdigung in den aussagepsychologischen Begutachtungsprozess erfolgen. Diese Forderung impliziere aber auch, dass man quasi im Sinne einer quantitativen Niveauabsenkung „weniger strenge“ Maßstäbe bei der aussagepsychologischen Hypothesenprüfung anlegen könne. Dies sei – so Prof. Dr.  Y. – in der Sache aber nicht möglich. Sowohl auf der Ebene der Einzelbewertungen als auch bei der Integration der Befunde zu einem diagnostischen Gesamturteil stelle sich nur die Frage, ob diese konkrete Aussageperson diese spezifische Aussage machen könnte, wenn sie sich nicht auf ein Erlebnis in der Wachwirklichkeit beziehen würde. Wie hoch die „Messlatte“ für die Annahme der Erlebnishypothese im Einzelfall sei, ergebe sich also zwingend aus den individuellen Kompetenzen der Aussageperson und könne nicht beliebig abgesenkt werden.

Zusammenfassend hat die Sachverständige klargestellt, dass aussagepsychologische Gutachten von ihrer Logik her nicht darauf ausgerichtet seien, die differentielle Wahrscheinlichkeit der Alternativhypothesen zu prüfen. Es gehe ausschließlich um die Substantiierung des Erlebnisbezuges einer Aussage. Sei diese nicht möglich, könnten andere Ursachen für die Aussage nicht ausgeschlossen werden (non liquet). Damit sei die Begutachtung abgeschlossen. Der Nachweis einer intentionalen Falschaussage oder einer Pseudoerinnerung könne mit aussagepsychologischen Methoden im Regelfall letztlich nicht geführt werden.

Ergänzend hat die Sachverständige darauf hingewiesen, dass auch die Frage zu verneinen sei, ob es in einem sachgerecht erstellten Glaubhaftigkeitsgutachten möglich sei, so lange systematisch und unvoreingenommen nach Fakten zu den verschiedenen Hypothesen zu suchen, bis sich ein möglichst klarer Unterschied in ihrer Geltungswahrscheinlichkeit bzw. praktischen Gewissheit ergibt. Dass die diagnostische Hypothesenprüfung grundsätzlich systematisch und ergebnisoffen erfolge, sei bereits hinreichend dargelegt worden. Das Ziel dieser systematischen Hypothesenprüfung bestehe aber nun gerade nicht darin, Aussagen über die wahrscheinliche Gültigkeit der Alternativhypothesen zu machen. Es sei nur möglich, Aussagen darüber zu machen, ob die im Einzelfall erhobenen Befunde allein durch den Erlebnisbezug der Aussage erklärt werden könnten oder nicht. Verkürzt formuliert gebe es im Grunde nur zwei mögliche diagnostische Entscheidungen:

- die vorliegenden Befunde ließen sich allein mit dem Rückgriff auf tatsächliche Erlebniserinnerungen erklären

- die vorliegenden Befunde ließen auch andere Erklärungen zu; die Aussage müsse nicht zwangsläufig erlebnisbasiert sein.

Darüber hinaus könnten aussagepsychologische Gutachten – gerade bei inkonsistenter Befundlage – zusätzliche psychologische Erkenntnisse und Hintergrundinformationen beisteuern, die zu einer differenzierten rechtlichen Würdigung dieser Befundlagen beitragen könnten.

In Bezug auf die intentionale Falschaussage sei in diesem Zusammenhang auch zu berücksichtigen, dass es schlicht keine wissenschaftlich validen Positivmerkmale für das Vorliegen einer Lüge gebe. Von daher könnten aussagepsychologische Gutachten – jenseits von Spekulationen – auch keine validen Aussagen darüber treffen, ob bei einem „Non Liquet“ das Vorliegen einer Falschaussage denn wahrscheinlicher sei als der Rückgriff auf eine originäre Erlebniserinnerung. Ein aussagepsychologisches Gutachten könne zwar erläutern, dass keine der aus psychologischer Perspektive nahe liegenden Erklärungen für die vorgefundene schlechte Aussagequalität identifiziert werden könne, ein Beleg oder eine Überlegenheit der Falschaussagehypothese sei damit aber nicht gegeben.

Im Hinblick auf die Pseudoerinnerung hat die Sachverständige vergleichbare Ausführungen gemacht und betont, dass es gleichfalls keine wissenschaftliche Methode zur Unterscheidung von wahren und suggerierten Aussagen gebe. Aus diesem Grund werde – bei sehr hohem Suggestionspotenzial in der Aussagegenese und Aussageentwicklung – üblicherweise auch auf die Durchführung einer Qualitätsanalyse der Aussage verzichtet, weil sie ohnehin zu keinem anderen Urteil mehr führen könne. In einem derartigen Fall obliege es dem aussagepsychologischen Sachverständigen, nachvollziehbar aufzuzeigen, an welchen Punkten der Aussageentwicklung suggestionsrelevante Einflussfaktoren wirksam geworden sind und wie hoch dieses Suggestionspotential auf die konkrete Aussage aus psychologischer Sicht einzuschätzen sei.

Zwar sei von anderer Seite darauf hingewiesen worden, dass man in besonders extremen Fällen – etwa bei andauernder suggestiver Aufdeckungs- und/oder Erinnerungsarbeit – auch zu der Schlussfolgerung kommen könne, dass es deutlich mehr Hinweise für die Suggestionshypothese als für die Erlebnishypothese gebe, dann nämlich, wenn sich aufzeigen lasse, dass Suggestionsprozesse nicht nur potenziell, sondern tatsächlich wirksam worden seien. Tatsächlich hält Prof. Dr.  Y. es allerdings für problematisch, bei Vorliegen auch einer Vielzahl von Indikatoren für eine Pseudoerinnerung die Überlegenheit der Suggestionshypothese psychodiagnostisch zu begründen. Denn, so die Sachverständige, man dürfe nicht übersehen, dass auch Erinnerungen an originär Selbsterlebtes durch Suggestionsprozesse überlagert werden könnten. In diesem Falle wären etwaige originäre Erinnerungsanteile allerdings nicht mehr als solche zu identifizieren. Zudem gebe es auch jene Fälle, in denen sich ursprünglich intentionale Falschaussagen unter extrem ungünstigen Suggestionsbedingungen (etwa wenn man sich lange und intensiv genug in der Vorstellung mit den ursprünglich erfundenen Szenarien beschäftigt) zu Pseudoerinnerungen entwickeln können, von deren „Wahrheit“ die betreffende Person subjektiv überzeugt sei. Damit könne auch bei der Abgrenzung von erlebnisfundierten und suggerierten Aussagen streng genommen keine valide Aussage über die Überlegenheit der Suggestionshypothese, wohl aber über das aus psychologischer Sicht bestehende Suggestionspotenzial getroffen werden. Dieses könne so hoch sein, dass der Erlebnisbezug der Aussage nicht mehr bestätigt werden könne. Unter extrem ungünstigen Bedingungen könnten massive Suggestionsprozesse sogar originär erlebnisbasierte Aussagen als Beweismittel „zerstören“.

Inwieweit eine in diesem Sinne qualitativ-psychologische Bewertung der Plausibilität konkurrierender Hypothesen für juristische Tatsachenfeststellung ausreicht, bleibe der richterlichen Beweiswürdigung – vor dem Hintergrund des jeweils anzulegenden Beweismaßstabes – vorbehalten. Die rechtliche Würdigung dieser Erkenntnisse und Schlussfolgerungen obliege letztlich dem Gericht.

b) Diese allgemeinen Erkenntnisse der aussagepsychologischen Begutachtung vorausgeschickt hat Prof. Dr.  Y. im Hinblick auf die Klägerin zunächst festgestellt, dass sich die Notwendigkeit ergibt, die Aussagetüchtigkeit der Klägerin sowohl in Bezug auf ihr kognitiv-funktionales Niveau im fraglichen Tatzeitraum (also im Alter von ca. drei bis vier Jahren), als auch zum Zeitpunkt der Aussageentstehung (fünftes bis sechstes Lebensjahr) zu bestimmen. Ausgesprochen differenziert, ausführlich und sachlich zutreffend hat sich die Sachverständige dafür zunächst mit den verschiedenen zeitlichen Eckpunkten zum fraglichen Tatzeitraum und der Aussageentwicklung auseinandergesetzt und ist zutreffend davon ausgegangen, dass sich der fragliche Tatzeitraum ca. vom zweiten Lebensjahr bis allerspätestens zum Lebensalter 4/5 Jahre der Klägerin zugetragen haben muss. Damit liegen Angaben eines Kindes im Vorschulalter vor, sodass die Frage der Aussagetüchtigkeit sowohl unter allgemeinen entwicklungspsychologischen Aspekten als auch vor dem Hintergrund spezifischer Entwicklungsstörungen der Klägerin von zentraler Bedeutung ist.

aa) Die Sachverständige hat darauf hingewiesen, dass unter Berücksichtigung entwicklungspsychologischer Aspekte davon auszugehen sei, dass sich die Klägerin sowohl zum Zeitpunkt der inkriminierten Missbrauchstaten wie auch der Erstmitteilung und Erstaussage in einer Entwicklungsphase befunden hat, in der sich die für die Aussagetüchtigkeit maßgeblichen psychischen und kognitiven Funktionen gerade erst ausbilden bzw. konsolidieren. Selbst unter optimalen Sozialisationsbedingungen, so die Sachverständige, werde man einem Kind vor dem vierten Lebensjahr nur im Ausnahmefall Aussagetüchtigkeit attestieren können. Exemplarisch hat die Sachverständige einige kognitive Funktionseinschränkungen bzw. Defizite für Kinder dieser Altersgruppe wie folgt skizziert:

- Die Informationsverarbeitungskapazität sehr junger Kinder sei zwangsläufig noch eingeschränkt, sodass sie bereits auf der Wahrnehmungsebene nur einen relativ geringen Anteil an Informationen aufnehmen und gedächtnismäßig repräsentieren könnten. Kognitive Fehler seien insbesondere dann zu erwarten, wenn zum Zeitpunkt der Wahrnehmung die sprachlichen Kompetenzen noch nicht ausgebildet seien, um das Wahrgenommene narrativ organisieren zu können. Die narrative Organisation des Erlebten sei notwendig, um dieses im autobiographischen Gedächtnis „speichern“ zu können.

- Vorschulkinder könnten unter Umständen zwar Ereignisse angemessen, wenn auch unvollständig wahrnehmen und über längere Zeit behalten, doch fehlten ihnen kognitive Fähigkeiten zum eigenständigen Organisieren und Abrufen von Gedächtnisinhalten. Sie seien vielmehr auf externe Hilfestellungen und Hinweisreize angewiesen, sodass ihre Angaben insbesondere bei komplexen Aufgabenstellungen sehr fehler- und – im Falle inhaltlicher Vorgaben – im hohen Maße suggestionsanfällig seien.

- Bei Kindern im Vorschulalter dominiere das sog. „magische Denken“, so dass die Wirklichkeitskontrolle noch nicht hinreichend zuverlässig ausgebildet sei. Sehr jungen Kindern falle es insbesondere schwer, zwischen verschiedenen Gedächtnisquellen zuverlässig zu differenzieren. Eine zuverlässige Erinnerung setze ja nicht nur voraus, dass man den Inhalt des fraglichen Ereignisses rekonstruieren könne, sondern es müsse auch eine verlässliche Zuordnung erfolgen, aus welcher Quelle (z.B. selbst erlebt, gesehen, gehört) sich diese Erinnerung speise. Diese Fähigkeit zur Quellendiskrimination sei bei Kindern im Vorschulalter noch nicht hinreichend ausgebildet, was dazu führen könne, dass sie zu der (falschen) Überzeugung gelangten, tatsächlich nicht Erlebtes, aber intensiv Vorgestelltes oder Besprochenes selbst erlebt zu haben.

- Kindern dieser Altersgruppe mangele es zudem am Verständnis dafür, dass Überzeugungen als mentale Repräsentationen nicht gleichbedeutend mit der Wirklichkeit seien. Insbesondere fehle ihnen die Einsicht, dass Menschen von falschen Vorannahmen (false beliefs) ausgehen könnten und sie seien daher auch nicht in der Lage, diese zu erkennen, wenn sie beispielsweise in einer Befragungssituation hiermit konfrontiert würden. Dies erkläre die deutlich erhöhte Suggestionsanfälligkeit von Kindern dieser Altersgruppe. Aufgrund mangelnder metakognitiver Fähigkeiten in diesem spezifischen Bereich sei es Kindern im Vorschulalter nicht möglich, in „gutem“, aber „falschem“ Glauben vorgetragene (suggestive) Vorgaben des Befragenden als solche zu erkennen und sich gegen diese abzugrenzen.

- Aufgrund der geringen Sprach- und Kommunikationskompetenz gelinge es jungen Kindern noch nicht, komplexe Sachverhalte kohärent darzustellen. Oftmals berichteten sie nur Fragmente, die aus sich heraus nur sehr bedingt nachvollziehbar und verständlich seien. Dementsprechend müsse der Zuhörer aus diesen Fragmenten nachträglich einen Ereignisablauf konstruieren, was natürlich dann zu erheblichen Fehlern führen könne, wenn das eigentliche Geschehen unbekannt sei. Aufgrund der bereits beschriebenen Defizite im metakognitiven Bereich seien junge Kinder dann aber nicht in der Lage, etwaige fehlerhafte Konstruktionen („false beliefs“) zu erkennen und zu korrigieren.

- Bei Kindern im Vorschulalter sei zudem das Begriffs- und Frageverständnis deutlich eingeschränkt. Sie seien beispielsweise nicht in der Lage, im Rahmen eines Frage-Antwort-Dialogs ihre Aufmerksamkeit auf mehr als einen zentralen thematischen Aspekt zu lenken, sodass bei Befragungen hier durchgängig mit syntaktisch einfachen und eindeutigen Frageformulierungen auf niedrigstem Abstraktionsniveau operiert werden müsse. Darüber hinaus bereite es ihnen aus bislang noch nicht hinreichend geklärten Gründen erhebliche Schwierigkeiten, geschlossene Ja-Nein-Fragen angemessen zu verarbeiten. Bis zum sechsten Lebensjahr zeigten Kinder einen deutlichen „Ja-Sage-Bias“, d.h., sie bejahten geschlossene Fragen, auch wenn sie diese nicht verstanden hätten bzw. die Antworten auf die Fragen gar nicht kennen würden – quasi aus einer allgemeinen „Ja-Sage-Tendenz“ heraus.

Prof. Dr.  Y. hat konstatiert, dass die empirischen Befunde zur Entwicklung kognitiver Voraussetzungen für die Erstattung zuverlässiger Aussagen auf das vierte Lebensjahr konvergieren. Damit werde also eine untere Altersgrenze markiert, ab der Aussagetüchtigkeit angenommen werden könne, wenngleich nicht in jedem Einzelfall zwingend angenommen werden müsse. Erst im Grundschulalter bildeten sich allmählich die notwendigen kognitiven Funktionen aus, die zur Erstattung zuverlässiger Aussagen notwendig seien. Je jünger ein Kind sei, desto größer seien die tatsächlichen Leistungsunterschiede und die Abhängigkeit der Aussagetüchtigkeit vom konkreten Entwicklungs- und Befragungskontext.

Konsequent zu ihren allgemeinen Ausführungen hat die Sachverständige sodann betont, dass die Klägerin zum Zeitpunkt der fraglichen Missbrauchshandlungen wie auch der Aussageentstehung und richterlichen Anhörung in einem Lebensalter gewesen ist, in dem sich bereits aus entwicklungspsychologischer Sicht erhebliche Zweifel am Vorliegen ihrer Aussagetüchtigkeit ergeben.

bb) An dieser Stelle ist die Sachverständige mit ihren Überlegungen aber nicht stehengeblieben; sie hat vielmehr zusätzlich die psychosozialen Auffälligkeiten der Klägerin in die Betrachtung einbezogen und hierzu ausgeführt, dass diese die allgemeinen Zweifel am Vorliegen einer Aussagetüchtigkeit noch erheblich steigern: So ist vorliegend zu berücksichtigen, dass die frühkindliche Entwicklung der Klägerin durch eine Vielzahl problematischer, pathogener Sozialisationsbedingungen geprägt ist. Die leibliche Mutter hat bereits nach der Geburt der Klägerin die Familie verlassen, so dass das Kind beim Vater und dessen Herkunftsfamilie aufgewachsen ist, in der sexueller Missbrauch generationenübergreifend eine Rolle gespielt hat. Sowohl der Großmutter als auch der Schwester väterlicherseits ist durch Gutachten aufgrund von Persönlichkeitsstörungen „Erziehungsunfähigkeit attestiert“ worden, so dass deren Kinder fremduntergebracht gewesen sind. Der Kindesvater gab eigene sexuelle Viktimisierungserfahrungen in der Kindheit an; er ist strafrechtlich mehrfach in Erscheinung getreten. Ab Juni 2003 ist der Kindsvater eine Beziehung mit seiner späteren Ehefrau O. eingegangen, im Februar 2005 ist der gemeinsame Sohn AD. geboren worden. Die Zeit der Ehe ist durch vielfältige Konflikte, finanzielle Notlagen und damit verbundene Wohnungswechsel sowie eine ungeregelte Erwerbstätigkeit des Vaters der Klägerin geprägt gewesen. Die Vater-Kind-Bindung ist unsicher gewesen, der Vater hat nur wenig Interesse an der Klägerin gezeigt, so dass sich die Zeugin O. hauptsächlich um die Versorgung und Erziehung des Kindes gekümmert hat. Im Januar 2006 ist dann die Trennung erfolgt und die Klägerin im väterlichen Haushalt verblieben. Hier haben Großmutter und Schwester väterlicherseits die Betreuung und Versorgung des Kindes in nennenswertem Umfang übernommen. Die Familie ist bereits seit Jahren durch das Jugendamt Braunschweig betreut worden. Der Kontakt ist dadurch abgebrochen, dass der Vater Wohnungswechsel nicht angezeigt hat, so dass das Jugendamt sowohl diesen als auch die Klägerin über längere Zeit gesucht hat. In dieser Zeit hat der Vater der Klägerin Beziehungen zu unterschiedlichen Frauen unterhalten. Im Oktober 2006 ist er gemeinsam mit seiner damaligen Lebensgefährtin von K. nach J. verzogen. Bereits nach relativ kurzer Zeit hat es „Hinweise aus der Bevölkerung“ auf mögliche Kindeswohlgefährdung an das dortige Jugendamt gegeben. Die anstehende Inhaftierung des Vaters ist im Zuge dieser Ermittlungen bekannt geworden. Im Januar 2007 hat dann das Jugendamt den Antrag auf Inobhutnahme und Unterbringung der Klägerin in einer Pflegestelle wegen bestehender Kindeswohlgefährdung gestellt. Im Januar 2007 hat der Vater der Klägerin eine mehrjährige Haftstrafe angetreten und die Klägerin ist in der Pflegefamilie S. untergebracht worden. In der Folgezeit hat sie ihren Vater im Rahmen begleiteter Umgangskontakte einmal im Monat in der Justizvollzugsanstalt besucht, wobei sie mit der Zeit zunehmend aversiv auf die Besuche in der JVA reagiert und nach den Besuchen beim Vater psychischen Auffälligkeiten (u.a. Einnässen, Albträume) gezeigt hat. Etwa im Herbst 2007 hat die Klägerin erstmals von sexuellen Übergriffen des Vaters gesprochen und im November 2007 ist sie von ihrer Pflegemutter erstmals der Kinder- und Jugendpsychiaterin T. wegen Angstzuständen vorgestellt worden. Dabei hat die Pflegemutter berichtet, die Klägerin leide unter Ängsten, seit sie einmal allein ihren Vater im Gefängnis habe besuchen müssen. Nun wolle sie dort nicht mehr hin, wolle ihren Vater nicht mehr sehen und erfinde Geschichten, um nicht wieder ins Gefängnis zu müssen. Seitdem träume sie schlecht.

Dies alles berücksichtigend hat die Sachverständige Prof. Dr.  Y. zum psychiatrischen Befund in Übereinstimmung mit der Aktenlage und den Beobachtungen der Pflegeeltern festgestellt, dass die Klägerin als „sehr distanzlos“ beschrieben worden ist. Beim Erstkontakt [Anm: mit der Kinder- und Jugendpsychiaterin T.] sei bereits bemerkt worden, dass Zeiterleben und Gedächtnis und Erinnerung sowie Aufmerksamkeit und Konzentrationsspanne bei der Klägerin nicht altersentsprechend seien, nach mehrmonatiger Psychotherapie habe Frau T. die psychischen Störungsbilder „sonstige emotionale Störungen des Kindesalters, Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung, kombinierte umschriebene Entwicklungsstörungen“ gestellt. Dies berücksichtigend hat die Sachverständige Prof. Dr.  Y. zusammengefasst, dass die frühkindliche Entwicklung der Klägerin also durch ein Bündel an Belastungsfaktoren geprägt gewesen ist, die pathogenes und traumatogenes Potential geborgen haben (soziale Desintegration, kriminelles und sexualisiertes Milieu in der Herkunftsfamilie, fehlende bzw. wechselnde Bindungspartner, unsichere Bindungen, häufige Wechsel (auch) des sozialen Wohnumfelds, körperliche, psychische und emotionale Vernachlässigung, mangelnde Förderung usw.). Diese Sozialisationsbedingungen waren nach Einschätzung der Sachverständigen bereits für sich genommen auch ohne Annahme eines etwaigen sexuellen Missbrauchs geeignet, das beschriebene Störungs- und Symptombild des Kindes zu begründen. In diesem Zusammenhang hat die Sachverständige auch explizit darauf hingewiesen, dass die beschriebenen Verhaltensauffälligkeiten keinesfalls spezifisch für ein zugrunde liegendes Missbrauchsgeschehen seien, sondern ausschließlich auf eine massive Beeinträchtigung bzw. Traumatisierung in der kindlichen Entwicklung hinwiesen. Sexueller Missbrauch sei nur eine Erklärungsmöglichkeit unter vielen für das Auftreten derartiger psychosozialer Auffälligkeiten; ein spezifisches „Missbrauchssyndrom“ gebe es nicht.

Prof. Dr.  Y. hat betont, dass unter dem Aspekt der Aussagetüchtigkeit insbesondere der Befund einer kognitiven Entwicklungsstörung mit Funktionsdefiziten in den Bereichen Zeiterleben, Gedächtnis, Erinnerung, Aufmerksamkeit und Konzentrationsspanne von zentraler Bedeutung sei. Die Klägerin habe sich zum Zeitpunkt der fraglichen Missbrauchshandlungen und der Aussageentstehung in einem Alter befunden, in dem die Aussagetüchtigkeit zweifelhaft sei. Wenn aber kognitive Entwicklungsstörungen vorlägen, die sich gerade in den genannten, die Aussagetüchtigkeit konstituierenden Funktionsbereichen manifestierten, dann könne die Aussagetüchtigkeit eines derart jungen Kindes nicht mehr bestätigt werden. Die empirische Befundlage zur kognitiven Entwicklung von Vorschulkindern im Allgemeinen, wie auch die diagnostizierten Entwicklungsstörungen bei der Klägerin im Besonderen, ließen die Bestätigung der Aussagetüchtigkeit nicht zu.

cc) Im Hinblick auf den Aspekt der Aussagezuverlässigkeit hat die Sachverständige darauf hingewiesen, dass der Kontext, in dem die Erstmitteilung des Kindes und die weitere Aussageentwicklung zustande gekommen seien, eine zentrale Rolle spiele. Maßgeblich für die Entstehung der vorliegenden Aussage sei ein Vorfall im Herbst 2007 gewesen, bei dem die Klägerin mit dem seinerzeit zehnjährigen Pflegesohn AE. im Kinderzimmer bei einer sexualisiert anmutenden Interaktion beobachtet worden sei. Über den genauen Ablauf dieses Vorfalls ließen sich den Akten keine eindeutigen Informationen entnehmen. Die 16jährige AF., die diesen Vorfall beobachtet und letztlich der Pflegemutter geschildert habe, habe in ihrer polizeilichen Vernehmung angegeben, dass die beiden Kinder mit „leicht heruntergezogener“ bzw. geöffneter Hose auf einer Matratze gelegen und auf dem besten Wege gewesen seien, sich anzufassen. Die Pflegemutter sei zunächst in ihrer Vernehmung im April 2008 davon ausgegangen, dass sich beide Kinder „die Hosen runtergezogen“ hätten, und „sich da so untersuchen“ wollten. Etwa fünf Jahre später habe sich diese Erinnerung bereits dahingehend verändert, dass sie nun von einer (Teil-)Entkleidung der Kinder und nicht nur versuchten, sondern tatsächlichen Manipulationshandlungen ausgegangen sei. Derartige Aussageveränderungen belegten eindrucksvoll die Rekonstruktivität des menschlichen Gedächtnisses. Erinnerungen veränderten sich über die Zeit, insbesondere bei intensiver Beschäftigung mit dem Gedächtnismaterial und würden dann vor dem Hintergrund bzw. durch die Brille des aktuellen Erfahrungsstands unter Umständen retrospektiv neu bewertet und umorganisiert.

Prof. Dr.  Y. hat herausgearbeitet, dass in der damaligen Ausgangssituation die Pflegemutter ausweislich der Vernehmungsaussagen zunächst von einer versuchten sexuellen Berührung zwischen den Kindern ausgegangen sei und gedacht habe, „dass die Kinder vielleicht Doktorspiele gemacht hätten“. Als sie die Klägerin hierauf angesprochen habe, habe die Klägerin spontan bekundet: „Das habe ich bei meinem AG. gesehen, der hat das mit seinen Freundinnen auch gemacht“. Diese Erstmitteilung des Kindes habe die Pflegemutter zunächst insofern erleichtert, als dass sie davon ausgegangen sei, dass das Kind das wohl nur gesehen habe. Im Innersten erschüttert habe sie dann aber die nachfolgende Bemerkung des Kindes, „dass sie das auch immer bei ihrem Vater habe machen müssen, wenn die Freundinnen nicht da gewesen seien“. Folge man den Angaben der Pflegemutter, sei diese nachträgliche Äußerung des Kindes plötzlich „erfolgt“; die genauen Umstände dieser Mitteilung ließen sich nach Aktenlage jedoch nicht zuverlässig rekonstruieren. Grundsätzlich seien Spontanbekundungen von Kindern zu sexuellen Übergriffen ernst zu nehmen; sie könnten einen Hinweis auf tatsächliche Missbrauchserfahrungen darstellen, wenn sie inhaltlich konkretisiert seien. Wenn man nun davon ausgehe, dass diese Äußerung der Klägerin über eigene sexuelle Erfahrungen mit dem Vater tatsächlich spontan und ohne weitere Nachfragen der Pflegemutter erfolgt sei, dann würde dies unter dem Aspekt der Zuverlässigkeit als eigenständige Bekundung des Kindes zu gelten haben. Ihre diesbezügliche Aussage würde durch die Eigenständigkeit der Erstmitteilung dann zusätzlich in ihrer diagnostischen Belegkraft für ein Missbrauchserlebnis gestärkt werden. Voraussetzung hierfür sei allerdings, dass sie „das“, was sie mit ihrem Vater habe machen müssen, auch in irgendeiner Form – zumindest ansatzweise – spontan konkretisiert hätte. Im vorliegenden Fall besteht die Problematik nach Einschätzung der Sachverständigen Prof. Dr.  Y. darin, dass eine eigenständige Aussage der Klägerin über die fraglichen Missbrauchshandlungen des Vaters zu diesem Zeitpunkt nicht vorliegt und durch die besonderen und in mehrfacher Hinsicht problematischen Rahmenbedingungen der weiteren Aussageentwicklung auch nicht erreicht werden könne. Ihre Erstmitteilung, sie habe „das“ mit ihrem Vater machen müssen, wenn dessen Freundinnen nicht da gewesen seien, sei zunächst einmal völlig vage, unbestimmt und interpretationsbedürftig.

Die Sachverständige hat dann die Aussageentwicklung untersucht: Es sei nachvollziehbar und verständlich, dass die Pflegemutter auf diese kindliche Mitteilung zutiefst betroffen reagiert habe. Ihren Angaben lasse sich entnehmen, dass sie geradezu emotional erschüttert über die Möglichkeit eines sexuellen Missbrauchs gewesen sei. Fortan habe sie versucht, diese Ungewissheit aufzulösen und die „Wahrheit wissen“ zu wollen. Sie habe der Klägerin auf der einen Seite vermittelt, dass sie angesichts der Schwere der im Raum stehenden Vorwürfe unbedingt die Wahrheit sagen müsse, auf der anderen Seite habe sie das Kind „natürlich sehr intensiv befragt“. Die Pflegemutter habe sehr anschaulich und detailliert geschildert, in welcher Weise sie die Klägerin zu den fraglichen Missbrauchshandlungen befragt habe. Hierbei zeige sich ein Fragestil der sich vor dem Hintergrund des Entwicklungsstandes und der hiermit verbundenen kognitiven Defizite des Kindes als äußerst problematisch, da hoch suggestiv erweise. Die Pflegemutter habe nicht nur inhaltliche Vorgaben gemacht, sondern diese auch in geschlossenen Ja-Nein-Fragen an das Kind herangetragen. Es gebe nicht ein Aussagedetail in den später dokumentierten Aussagen der Klägerin, das nicht durch die Pflegemutter erstmals thematisiert bzw. vorgegeben worden wäre. Zur Veranschaulichung hat die Sachverständige Prof. Dr.  Y. exemplarisch für diesen Fragestil folgende Beispiele benannt:

- „ich habe dann gesagt und hat er dir auch wehgetan. Ja, er hätte ihr wehgetan“

- „Dann habe ich gesagt, hat er auch reingesteckt? Hat sie ja gesagt.“

- „Ich hab dann halt noch mal so ein bisschen nachgehakt, ja weil ich das auch für mich so wissen will, ne. Und sie hat dann auch wirklich angegeben, ja er hätte sein, sie sagt immer Ding dazu, unten reingesteckt. Aber so genau wo hat sie nicht gesagt. Das kann sie glaube ich nicht so angeben.“

- „Und ich hab dann gefragt, […] ob er irgendwelche Cremes benutzt hätte dazu, da hat sie gesagt, ja“.

- „Daraufhin habe ich dann gesagt: War es eine grüne Creme, oder eine weiße Creme, oder eine gelbe, oder eine durchsichtige“ und da hat die Kleine gesagt: „Das war eine durchsichtige Creme“.

Zusätzlich sei das Suggestionspotential dieses ohnehin mit einem hohen Suggestionspotential behafteten Befragungsstils durch die besondere Autorität und emotionale Bedeutung der Pflegefamilie für das Kind erhöht worden. Die Klägerin habe bis zu ihrer Unterbringung in der Pflegefamilie bereits eine Vielzahl an Bindungsabbrüchen erlebt und nun erstmals in der Pflegefamilie eine gewisse emotionale Stabilität und Nähe erfahren dürfen, von der sie offenkundig auch profitiert habe. Deshalb stelle die Pflegemutter eine besondere Autoritätsfigur dar, deren Glaubhaftigkeit für das Kind dementsprechend hoch gewesen sein dürfte. Damit aber erhöhe sich die Suggestionswirkung ihrer Vorgaben in den entsprechenden Befragungssituationen, zumal Kinder dieses Alters selbstverständlich davon ausgingen, dass Erwachsene die Wahrheit kennen, ihre inhaltlichen Vorgaben also „richtig“ seien.

Kinder bemühten sich zudem darum, „gute“ Gesprächspartner in derartigen Befragungssituationen zu sein und reagierten stark auf der appellativen Kommunikationsebene. Sie beantworteten, auch ohne Vorhandensein einer Wissens- oder Erinnerungsbasis, die Fragen Erwachsener. Schließlich könne auch nicht übersehen werden, dass von der Pflegemutter ein hoher Befragungsdruck auf das Kind ausgeübt worden sei. Dass dieser Befragungsdruck zu einer konfirmatorischen Verdachtsprüfung geführt habe, die Gespräche also einseitig auf Bestätigung des Missbrauchsverdachts ausgerichtet gewesen seien, verschärfe die Problematik um ein Vielfaches. Bereits in der Situation der Erstmitteilung, als die Klägerin sehr vage Andeutungen über ein mögliches Missbrauchsgeschehen gemacht haben solle, sei ihr vermittelt worden, dass dies etwas sehr „Schlimmes“ sei. In allen Bekundungen der Klägerin finde sich fortan die stereotyp anmutende Formulierung, der Vater habe „schlimme Sachen“ mit ihr gemacht. Wenn vor und/oder während einer Befragung negative Personenstereotype induziert würden, dann führe dies insbesondere bei Vorschulkindern, erst recht bei zusätzlicher Anwendung multipler suggestiver Fragetechniken, dazu, dass diese Negativattributionen in die spätere Aussage integriert, Abwertungen übernommen und auch etwaige neutrale Erlebnisse vor dem Hintergrund dieser abwertenden Voreinstellung uminterpretiert würden.

Bis es zur ersten richterlichen Anhörung des Kindes gekommen sei, seien über einen Zeitraum von mehreren Monaten intensive und hoch suggestive Befragungen des Kindes durchgeführt worden, die die Erinnerung und Aussage der Klägerin bereits erheblich überformt haben dürften. Prof. Dr.  Y. hat darauf hingewiesen, dass sich in der Aussageentwicklung alle bekannten Indikatoren für interrogative Suggestionsprozesse identifizieren ließen:

- Häufigkeit vorangegangener Gespräche

Je häufiger Gespräche über das fragliche Ereignis geführt würden, desto eher sei eine suggestive Verfälschung der Angaben auch in zentralen Aspekten des fraglichen Ereignisses möglich. Jede Befragung sei ein Lernprozess. In jeder Befragung würden schon allein durch den Wiederholungseffekt die besprochenen Inhalte verfestigt; darüber hinaus würde hier aber auch gelernt, welche Erwartungshaltung die befragende Person habe und welche Reaktionen beim Gegenüber durch bestimmte Antworten ausgelöst würden. Bei wiederholter (insbesondere suggestiver) Befragung lerne ein Kind aber auch, welche Antworten auf besonderes Interesse des Gegenübers stoßen bzw. positiv verstärkt würden. Im vorliegenden Falle lasse sich sogar feststellen, dass die Traumatisierung des fraglichen Missbrauchs zu einer verstärkten emotionalen Bindung zwischen der Klägerin und ihrer Pflegemutter geführt habe.

- Suggestive Befragungstechniken

- Voreinstellungen und Erwartungshaltungen der befragenden Person

Bei bestehenden Ausgangsverdacht bestehe die Gefahr, dass einseitig nur solche Informationen erhoben, berücksichtigt und im Lichte der Erwartungshaltung interpretiert würden, die die eigene Erwartung bestätigten, wohingegen alternative Erklärungsansätze systematisch ausgeblendet würden.

- Art der persönlichen Beziehung zwischen den Gesprächspartnern

Bei einer vertrauensvollen Beziehung oder einer Abhängigkeitsbeziehung könnten suggestive Einflüsse in besonderem Maße wirksam werden.

- Klarheit der Erinnerung zum Zeitpunkt der Erstmitteilungen

Je undifferenzierter die ersten Angaben zum fraglichen Ereignis seien, desto eher werde man von einer fehlenden oder aber unsicheren Erinnerungsgrundlage ausgehen müssen, so dass das Risiko eines rekonstruktiven Auffüllens von Erinnerungslücken durch suggestive Vorgaben deutlich erhöht sei.

- Induktion von Stereotypen

Die Induktion eines negativen Personenstereotyps vor oder während der Befragung könne in Verbindung mit einem insistierenden Befragungsstil zu Aussageverfälschungen (auch) im freien Bericht, vor allem aber zur fälschlichen Zustimmung zu geschlossenen Ja-Nein-Fragen und zu qualitativ eher karg anmutenden Ausschmückungen führen. Das Suggestionspotential geschlossener Fragen erhöhe sich insbesondere bei Kindern im Vorschulalter nach vorausgegangener Induktion von Stereotypen mit erheblichem Ausmaß.

- Veränderung der Aussage im zeitlichen Verlauf

Wenn sich im Verlauf der Aussageentwicklung deutliche Veränderungen in den Berichten über die fraglichen Ereignisse oder ihrer Bewertung ergäben, könne dies ein Hinweis auf die Wirkung suggestiver Einflüsse sein. Derart problematische Aussageveränderungen seien in der Aussage der Klägerin direkt beobachtbar und belegten, dass Suggestionseffekte stattgefunden hätten.

- Alter

Bei jüngeren Kindern sei die Wahrscheinlichkeit besonders groß, dass suggestive Einflüsse tatsächlich zu einer Verzerrung der Aussage oder sogar zur Implementierung einer Pseudoerinnerung führten. Die Klägerin habe sich zum Zeitpunkt der fraglichen Erlebnisse und der Aussageentstehung in einem kritischen Alter, in dem die Aussagetüchtigkeit noch nicht hinreichend ausgebildet sei, die Suggestionsanfälligkeit deutlich erhöht sei, befunden.

Bei retrospektiver Betrachtung müsse festgestellt werden, so die Sachverständige, dass die Aussage der Klägerin bereits zum Zeitpunkt der ersten richterlichen Anhörung im Februar 2008 in erheblichem Maße in ihrer Zuverlässigkeit beeinträchtigt gewesen sei. Weil diese Anhörung, wie auch die nachfolgende aussagepsychologische Exploration audiographiert worden seien, lasse sich das originäre Aussageverhalten der Klägerin nun erstmals unmittelbar beurteilen. Hierzu hat die Sachverständige Folgendes ausgeführt: Die Transkripte der richterlichen Anhörung und der aussagepsychologischen Exploration verstärkten die bislang erörterten Probleme in der Aussageentwicklung zusätzlich. Hier werde eine Multiproblemkonstellation deutlich, die u.a. durch folgende Besonderheiten charakterisiert werden könne:

- Mangelnde Aussagebereitschaft und Erinnerungskritik der Klägerin.

- Suggestive Befragung durch die Richterin und die Sachverständige.

- Erkennbare Suggestibilität des Kindes.

- Anwesenheit der Pflegemutter bei beiden Anhörungen.

Sowohl in der richterlichen Anhörung als auch in der psychologischen Exploration habe die Klägerin von Beginn an unmissverständlich deutlich gemacht, dass sie nicht bereit sei, Angaben zu den fraglichen sexuellen Missbrauchshandlungen zu machen. Schließlich sei bei zunehmender Abgelenktheit und Aussageunwilligkeit der Klägerin die Anhörung beendet worden. Selbst für ein Kind im Alter der Klägerin sei das Ausmaß bekundeten Aussagewiderstandes und hieraus resultierend mangelnder Erinnerungskritik eklatant gewesen. Wenn die Klägerin überhaupt Angaben zur Sache gemacht habe, seien diese sehr einsilbig ausgefallen, umfassten meist nur wenige Worte, nur selten habe die Klägerin einen kompletten Satz formuliert. Dieses spezifische Aussageverhalten verstärke die bereits unter kognitionspsychologischen Aspekten formulierten Zweifel an der Aussagetüchtigkeit des Kindes. Der Klägerin fehle es aber nicht nur an den erforderlichen sprachlichen Kompetenzen, sondern auch an der notwendigen Motivation, überhaupt erinnerungskritische Angaben zu machen. Die Aussage bestehe letztlich auf einer Aneinanderreihung isoliert vorgetragener Informationsfragmente, die von ihr nicht im Ansatz in einen übergeordneten Zusammenhang gebracht worden seien. Die Zuverlässigkeit einer Aussage ergebe sich jedoch nicht nur aus der abrufbaren Erinnerungsleistung, sondern sei auch zwingend an die Motivation gebunden, erinnerungskritisch Inhalte aus dem Gedächtnis abzurufen. Diese Zuverlässigkeitsmotivation sei bei Vorschulkindern generell nur defizitär ausgebildet, im vorliegenden Fall müsse sie auf der Basis der Gesprächsprotokolle negiert werden.

Generell gelte: Gegen den Willen und ohne die aktive Kooperation der aussagenden Person lasse sich keine zuverlässige Aussage generieren. Dies trifft im vorliegenden Fall nach Einschätzung von Prof. Dr.  Y. in besonderer Weise zu. Die Jugendrichterin und später auch die Sachverständige hätten sich angesichts der kindlichen Verweigerungshaltung gezwungen gesehen, ihrerseits sehr suggestiv, mehrheitlich unter Verwendung geschlossener Fragen das Gespräch zu führen und Antworten des Kindes gegen dessen massiven Aussagewiderstand zu forcieren. Von daher seien auch die von der Klägerin in diesen Befragungen generierten Angaben forensisch nicht verwertbar. Bei den Antworten der Klägerin handele es sich nicht um eigenständige Aussagen des Kindes, sondern ausschließlich um Zustimmungen zu vorgegebenen Suggestionsinhalten und damit um den Beleg einer erhöhten Suggestionsanfälligkeit der Klägerin. Auf diese Weise sei letztlich eine Aussage pseudokonkretisiert worden, ohne dass diese eine wie auch immer geartete Erlebnisgrundlage haben müsse.

Die Anwesenheit der Pflegemutter bei der richterlichen Anhörung und psychologischen Exploration habe die Suggestivität dieser Befragungssituationen zusätzlich erhöht. Es sei hinlänglich bekannt, dass Kinder in Anwesenheit emotional bedeutsamer Erwachsener noch stärker einem empfundenen Erwartungsdruck unterlägen als dies bei alleiniger Befragung schon der Fall sei. Dies gelte umso mehr, wenn diese erwachsene Person im Vorfeld mit auch für das Kind erkennbarer Aufdeckungsmotivation und unter Anwendung suggestiver Fragetechniken mit dem Kind über die fraglichen Ereignisse gesprochen habe. Unter diesen Bedingungen sei ein deutlich erhöhter Konformitätsdruck anzunehmen, d.h. Kinder seien dann in besonderer Weise bemüht, die Inhalte ihrer vormaligen Mitteilungen möglichst „richtig“ zu reproduzieren. Sie seien damit unabhängig vom tatsächlichen Wahrheitsgehalt auf ihre früheren Aussageversionen festgelegt.

Prof. Dr.  Y. hat zusammenfassend konstatiert, dass die Rekonstruktion der Aussageentstehung und Aussageentwicklung Hinweise auf substantielle Suggestionseffekte auf die Aussage der Klägerin liefere, die durch die Analyse des kindlichen Aussageverhaltens in den audiographierten Befragungen (richterliche Anhörung, aussagepsychologische Exploration) noch bekräftigt worden seien. Bei der vorliegenden Befundlage sei nicht nur von einem erhöhten Suggestionspotential und damit substantiellen Zweifeln an der Aussagezuverlässigkeit auszugehen, sondern es lägen direkte Indikatoren dafür vor, dass Suggestionseffekte auch tatsächlich wirksam geworden seien.

dd) Abschließend hat die Sachverständige Prof. Dr.  Y. darauf hingewiesen, dass aufgrund der dargelegten Befunde zur Aussagetüchtigkeit und Aussagezuverlässigkeit die Durchführung einer Qualitätsanalyse der Aussage obsolet sei. Sie hat betont, dass auch ohne die Suggestionsproblematik eine Erlebnisbasis der vorliegenden Aussage mit aussagepsychologischen Methoden nicht zu substantiieren sei. Um die Qualitätsanalyse der Aussage durchführen zu können, hätte es eines zumindest minimalen psychischen Gehalts der Aussage und einer wenigstens ansatzweise eigenständigen, zusammenhängenden Schilderung der Klägerin bedurft. Diese habe die Klägerin ausweislich der Gesprächstranskripte auf offene Erzählaufforderung aber nicht vorbringen können, sei es, dass sie aus entwicklungspsychologischen Gründen diese Leistung nicht erbringen konnte, sei es, dass sie über keine sichere Erinnerungs- oder gar Erlebnisbasis verfügte. Die Angaben der Klägerin auf offene Erzählaufforderungen seien letztlich darauf beschränkt gewesen, dass der Vater „etwas Schlimmes gemacht“, nämlich „angefasst, draufgelegt, wehgetan“ habe. Selbst für ein Kind in dem Alter der Klägerin falle die Aussage außergewöhnlich dürftig und unbestimmt aus. Es fänden sich nicht im Ansatz Interaktionsschilderungen oder Angaben zum möglichen Tatkontext, erst Recht keine Angaben, die es erlauben würden, die Hypothese einer Wahrnehmungsübertragung zurückzuweisen. Die Tatsache, dass die Klägerin das männliche Genital eines Erwachsenen bzw. Kindes ansatzweise beschreiben könne, sei im vorliegenden Zusammenhang diagnostisch irrelevant, da unstreitig sei, dass sie den Vater in unbekleidetem Zustand gesehen habe und den zehnjährigen AE. beim Duschen beobachtet habe.

Den Senat überzeugt die umfassende wissenschaftliche Darstellung kindlichen Erinnerungs- und Aussageverhaltens im Allgemeinen sowie die überaus sorgfältig zusammengetragene Tatsachenlage und Schlussfolgerung im Hinblick auf die Klägerin im Besonderen. Er schließt sich der Einschätzung der Sachverständigen Prof. Dr.  Y. an.

c) Aus den überzeugenden Darlegungen der Sachverständigen Prof. Dr.  Y. folgen für den Senat deshalb zwei Erkenntnisse:

aa) Die Sachverständige Prof. Dr.  Y. hat – auch unter Einbeziehung der mit Rücksicht auf den Beweismaßstab von § 15 KOVVfG anzustellenden besonderen Überlegungen – das Ergebnis der Gutachterin Dr.  V. bestätigt. Unter Berücksichtigung der Ausführungen in beiden Gutachten, der Aussagen der Zeugen I., M., W., X. sowie O., die den Missbrauch abgestritten haben bzw. keine eigenen Beobachtungen des sexuellen Missbrauches bezeugen konnten sowie der übrigen Aktenlage kann sich der Senat nicht die Überzeugung bilden, dass die Angaben der Klägerin über den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater relativ am wahrscheinlichsten sind.

Der Senat musste sich auch nicht gedrängt fühlen, auf Antrag der Klägerin noch die Zeuginnen Z. und AA. oder womöglich die Klägerin selbst zu hören. Wie bereits dargelegt, haben die Zeuginnen Z. und AA. keine eigenen Beobachtungen des sexuellen Missbrauches gemacht, ihnen hat die Klägerin lediglich von dem Missbrauch erzählt. Dabei haben beide Zeuginnen sogar schon umfangreich über das von der Klägerin Gehörte berichtet: Die Zeugin AH. (jetzt: AA.) hat in ihrer polizeilichen Vernehmung am 26. September 2008 ausführliche Angaben dazu gemacht, was ihr die Klägerin erzählt hat. Und die Zeugin Dipl.-Psych. Z. hat in ihren schriftlichen Stellungnahmen vom 29. Oktober 2012 und 27. Februar 2013 ebenfalls detailliert aufgeschrieben, was die Klägerin ihr berichtet und was sie selbst bei den Behandlungen der Klägerin beobachtet hat. Der Senat kann dabei unterstellen, dass die Angaben der Zeuginnen der Wahrheit entsprechen. Gleichwohl sind sie nicht geeignet, zur Überzeugung des Senates darzulegen, dass die Angaben der Klägerin über den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater relativ am wahrscheinlichsten sind. Berücksichtigt man das Ergebnis des Gutachtens der Sachverständigen Prof. Dr.  Y. im Hinblick auf Aussagetüchtigkeit und Aussagezuverlässigkeit der Klägerin, so können die Angaben der Zeuginnen – die ihr Wissen ja nur aufgrund der Aussagen der Klägerin haben – nicht über die Qualität der Aussage der Klägerin hinausgehen.

Im Hinblick auf eine persönliche Einvernahme der Klägerin folgt der Senat zum Schutze der (minderjährigen) Klägerin der Empfehlung der Sachverständigen Prof. Dr.  Y., die ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass aufgrund der dargelegten Umstände eine neuerliche Vernehmung der Klägerin weder angezeigt noch ethisch vertretbar ist. Diese Empfehlung ist deshalb konsequent, weil nach den Ausführungen der Sachverständigen die Klägerin selbst nicht dazu in der Lage ist, zwischen erlebnisbasierten und suggerierten Aussagen zu unterscheiden.

bb) Bei der aussagepsychologischen Hypothesenprüfung handelt es sich gerade nicht um die Anwendung prozessrechtlich spezifischer oder gar „besonders strenger“ Beurteilungsregeln, sondern um die Anwendung grundliegender logischer Prinzipien, die in allen Bereichen der psychologischen Diagnostik auf die Hypothesenprüfung angewendet werden. Diese Prinzipien haben nichts mit (mehr oder weniger strengen) normativen Beweismaßstäben zu tun. Ein sachgerecht erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten ist also per se nicht darauf ausgerichtet, den Vollbeweis zu der Frage zu erbringen, ob die Angaben des Zeugen/Antragstellers zutreffend sind. Es ist vielmehr darauf ausgerichtet, die im Einzelfall relevanten Möglichkeiten für das Zustandekommen einer Aussage zu explizieren, durch systematische psychodiagnostische Befunderhebung deren jeweilige Plausibilität mit psychologischen Erkenntnissen und Gesetzmäßigkeiten zu überprüfen und nachvollziehbar zu begründen, ob und ggf. inwieweit die psychologischen Befunde die Aussagetüchtigkeit des Zeugen/Antragstellers, den Erlebnisbezug sowie die Zuverlässigkeit seiner Aussage substantiieren. Beweisfragen, ob Aussagen über einen inkriminierten Sachverhalt als „in hohem Maße wahrscheinlich glaubhaft“ oder „mit relativer Wahrscheinlichkeit glaubhaft“ zu beurteilen seien, können von aussagepsychologischen Sachverständigen nicht beantwortet werden. Aussagepsychologische Gutachten sind nicht darauf ausgerichtet, die differentielle Wahrscheinlichkeit der Alternativhypothesen zu prüfen; es geht ausschließlich um die Substantiierung des Erlebnisbezuges einer Aussage. Ist diese nicht möglich, können andere Ursachen für die Aussage nicht ausgeschlossen werden. Damit ist die Begutachtung abgeschlossen. Der Nachweis einer intentionalen Falschaussage oder einer Pseudoerinnerung kann mit aussagepsychologischen Methoden im Regelfall letztlich nicht geführt werden.

Schließlich kann ein sachgerecht erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten nicht so lange systematisch und unvoreingenommen nach Fakten zu den verschiedenen Hypothesen suchen, bis sich ein möglichst klarer Unterschied in ihrer Geltungswahrscheinlichkeit bzw. praktischen Gewissheit ergibt. Das Ziel der systematischen Hypothesenprüfung besteht gerade nicht darin, Aussagen über die wahrscheinliche Gültigkeit der Alternativhypothesen zu machen. Es ist nur möglich, Aussagen darüber zu machen, ob die im Einzelfall erhobenen Befunde allein durch den Erlebnisbezug der Aussage erklärt werden oder nicht. Darüber hinaus können aussagepsychologische Gutachten – gerade bei inkonsistenter Befundlage – zusätzliche psychologische Erkenntnisse und Hintergrundinformationen beisteuern, die zu einer differenzierten rechtlichen Würdigung dieser Befundlagen beitragen können.

Beweisfragen, ob Aussagen über einen inkriminierten Sachverhalt als in hohem Maße wahrscheinlich glaubhaft oder mit relativer Wahrscheinlichkeit glaubhaft zu beurteilen sind, können von aussagepsychologischen Sachverständigen nicht beantwortet werden.

Daraus ergibt sich, dass dem aussagepsychologischen Sachverständigen grundsätzlich keine besonderen Beweisfragen allein im Hinblick auf den Beweismaßstab des § 15 KOVVfG gestellt werden müssen. Es ist und bleibt Aufgabe des Gerichts, den Sachverhalt zu würdigen – womöglich unter Heranziehung eines „normalen“ Glaubhaftigkeitsgutachtens – und sich eine Meinung dazu zu bilden, mit welchem Wahrscheinlichkeitsgrad die Angaben zutreffen und ob sie bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten relativ am wahrscheinlichsten sind.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der aufgeworfenen Fragen zum Umgang mit der Glaubhaftigkeitsbegutachtung im Hinblick auf den Beweismaßstab des § 15 KOVVfG hat der Senat die Revision zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).