LSG der Länder Berlin und Brandenburg, Urteil vom 15.01.2015 - L 13 SB 128/13
Fundstelle
openJur 2015, 4751
  • Rkr:
Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 22. April 2013 aufgehoben. Der Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 25. November 2010 in der Fassung des Bescheides vom 7. Februar 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. März 2012 verpflichtet, zu Gunsten der Klägerin mit Wirkung vom 22. April 2010 einen Grad der Behinderung von 70 und die gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen G und B festzustellen.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Kosten sind für das gesamte Verfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Zuerkennung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) und die Zuerkennung der Merkzeichen G und B.

Die im Jahre 1947 geborene Klägerin leidet vor allem an einer psychischen Erkrankung sowie an weiteren, insbesondere orthopädischen, Einschränkungen.

Am 22. April 2010 beantragte sie beim Beklagten die Zuerkennung eines GdB und die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen G und B. Mit Bescheid vom 25. November 2010 stellte der Beklagte bei der Klägerin einen GdB von 30 fest und lehnte die Zuerkennung von Merkzeichen ab. Im anschließenden Widerspruchsverfahren erteilte der Beklagte am 7. Februar 2011 der Klägerin einen weiteren Bescheid, in dem er den GdB auf 50 festsetzte, die Zuerkennung der Merkzeichen G und B aber weiterhin ablehnte. Dem lag insbesondere zugrunde, dass eine psychische Erkrankung nunmehr mit dem Einzel-GdB von 50 bewertet wurde. Den Widerspruch wies der Beklagte im Übrigen mit Widerspruchsbescheid vom 1. März 2011 zurück.

Im anschließenden Rechtsstreit vor dem Sozialgericht Berlin hat aufgrund richterlicher Beweisanordnung am 4. Januar 2012 der Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. S ein medizinisches Sachverständigengutachten erstattet. Darin hat er bei der Klägerin eine psychische Erkrankung in Gestalt von Depression, Angststörung und Schmerzkrankheit festgestellt und diese mit einem Einzel-GdB von 50 bewertet. Zugleich hat er eine Wirbelsäulenfunktionsstörung und Verschleiß mit einem Einzel-GdB von 20 belegt und einen Kniegelenksverschleiß mit einem Einzel-GdB von 10. Insgesamt sei der GdB weiterhin auf 50 einzuschätzen. Die Voraussetzungen für die Merkzeichen G und B lägen nicht vor, weil die Klägerin noch eine Wegstrecke von etwa 2.000 m innerhalb von etwa 30 bis 40 Minuten zu Fuß zurücklegen könne. Mit Gerichtsbescheid vom 22. April 2013 hat das Sozialgericht, insbesondere auch auf das vorangegangene Sachverständigengutachten gestützt, die Klage abgewiesen.

Im anschließenden Berufungsverfahren hat aufgrund richterlicher Beweisanordnung am 30. April 2014 die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. M ein medizinisches Sachverständigengutachten erstattet. Darin ist sie zu der Einschätzung gelangt, die Klägerin leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung, die mit einem Einzel-GdB von 70 zu bewerten sei, außerdem an Bluthochdruck, Übergewicht, Polyarthrose, einem Wurzelkompressionssyndrom L5 und an einer Sensibilitätsstörung im Nervus Ulnaris, die jeweils mit einem Einzel-GdB von 10 oder darunter einzuschätzen seien. Der GdB insgesamt betrage einen Wert von 90. Es lägen zwar Funktionsstörungen der Beine vor, diese bedingten aber nicht einen GdB von 50. Es lägen keine hirnorganischen Anfälle vor. Es komme allerdings zu anfallsweise auftretenden Orientierungsstörungen bei dissoziativen, d. h. psychogenen Bewusstseinsveränderungen. Die genaue Häufigkeit sei nicht bekannt. Diese Anfälle träten nur außerhalb des Hauses auf. Die Klägerin sei bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln auf fremde Hilfe angewiesen. Insgesamt bestehe der Zustand unverändert seit Antragstellung.

Die Klägerin beantragt ihrem Vorbringen zufolge,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 22. April 2013 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 25. November 2010 in der Fassung des Bescheides vom 7. Februar 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. März 2012 zu verpflichten, mit Wirkung vom 22. April 2010 zugunsten der Klägerin einen GdB von mindestens 70 und die gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen G und B festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Der Einschätzung der Sachverständigen Dr. M sei nicht zu folgen.

Gründe

Die Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG), sie ist auch überwiegend begründet. Die angefochtenen Entscheidungen waren zu ändern, denn der Klägerin steht mit Wirkung vom 22. April 2010 ein Anspruch zu auf Feststellung eines GdB von 70 und der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen G und B.

Rechtsgrundlage für die Feststellungsansprüche ist § 69 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX). Bei der Bemessung des GdB ist die Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersmedV) zu berücksichtigen. Maßgeblich ist hierbei zunächst Teil B 3.7 der VersmedV, hier werden die GdB-Bewertungen von Neurosen, Persönlichkeitsstörungen und Folgen psychischer Traumen geregelt. Danach besteht bei schweren Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten, die im Falle der Klägerin unstreitig bestehen, ein Bewertungsrahmen von 50 bis 70. Während der Beklagte eine Einschätzung am unteren Rande dieses Bewertungsrahmens vorgenommen und einen Einzel-GdB von 50 insoweit in Ansatz gebracht hat, ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass statt dessen ein Wert am oberen Rande des Bewertungsrahmens, mithin ein Einzel-GdB von 70, angemessen ist. Der Senat folgt dabei insbesondere der Einschätzung der Sachverständigen M die herausgearbeitet hat, dass die Klägerin aufgrund der Tatsache, dass sie in einem sowjetischen Deportationslager aufgewachsen ist, an einer posttraumatischen Belastungsstörung unter anderem mit vegetativen Symptomen und dissoziativen Symptomen in Form von Bewegungsstörungen, Orientierungsstörungen, Sprachverständnis-Störungen leidet. Hierbei ist ein Einzel-GdB von 70 angemessen.

Allerdings ist damit auch der Gesamtwert des GdB erreicht gemäß Teil A 3 VersmedV. Nach Ziff. c ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB zehn oder zwanzig oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Gemäß Ziff. d ee führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, grundsätzlich nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Zwar bestehen bei der Klägerin drei weitere Gesundheitsstörungen, die jeweils mit einem GdB von 10 zu bewerten sind, nämlich Übergewicht, Polyarthrose und ein Wurzelkompressionssyndrom L5, darüber hinaus ein Bluthochdruck und eine Sensibilitätsstörung im Nervus ulnaris, die jeweils mit einem GdB von weniger als 10 zu bewerten sind, doch können diese nicht zu einer Erhöhung des Gesamt-GdB führen. Auch wenn die Sachverständige zu Recht darauf hingewiesen hat, dass Schmerzen und Übergewicht sich ungünstig auf die psychiatrischen Einschränkungen auswirken, kann hierbei indessen nicht angenommen werden, dass darin eine Verstärkung im Sinne der VersmedV begründet liegt.

Des Weiteren sind auch die Voraussetzungen des Merkzeichens G erfüllt. Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX). Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder Andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.

Das Gesetz fordert in § 145 Abs. 1 Satz 1, § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX eine doppelte Kausalität: Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit muss eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung muss sein Gehvermögen einschränken. Die Anhaltspunkte und die Versorgungsmedizinverordnung beschreiben dazu Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G als erfüllt anzusehen sind und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen können (Bundessozialgericht, Urteil vom 24. April 2008, B 9/9a SB 7/06 R, Juris Rn. 12). Dabei gibt die VersmedV an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden kann, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens „in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist“. Damit tragen die Kriterien der VersmedV dem Umstand Rechnung, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filtern die Kriterien der VersmedV all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (vgl. BSG, a.a.O. m.w.N.). Die so verstandenen gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G erfüllt die Klägerin. Sie kann außerhalb des Hauses keine Wegstrecke unter normalen Bedingungen, das heißt also in diesem Fall ohne Begleitung, zurücklegen, denn es besteht aus behinderungsbedingten Gründen sofort die Gefahr, dass die Klägerin orientierungslos wird und sich verläuft. Dies beruht darauf, dass bei der Klägerin anfallsweise auftretende Orientierungsstörungen bei dissoziativen, das heißt psychogenen Bewusstseinsveränderungen bestehen. Zwar beruhen diese nicht auf hirnorganischen Anfällen, sie sind jedoch in gleicher Weise wie hirnorganische Anfälle auf psychische Erkrankungen mit Behinderungscharakter zurückzuführen und erfüllen damit die vorgenannten Kriterien nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts für das Vorliegen des Merkzeichens G. Aus demselben Grunde ist auch das Merkzeichen B zuzuerkennen, weil die Klägerin – wie bereits ausgeführt – aufgrund ihrer Behinderung, insbesondere der anfallsweise auftretenden Orientierungsstörungen bei dissoziativem, das heißt psychogenen Bewusstseinsveränderungen, der ständigen Begleitung bedarf.

Im Übrigen war die Berufung zurückzuweisen. Soweit die Klägerin einen höheren GdB als den Wert von 70 begehrt, konnte sie mit ihrer Berufung keinen Erfolg haben, weil – wie bereits ausgeführt – ihr Gesamt-GdB den Wert von 70 nicht übersteigt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nicht vorliegen gemäß § 160 Abs. 2 SGG.

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