Bayerischer VGH, Urteil vom 06.02.2015 - 15 B 14.1832
Fundstelle
openJur 2015, 4627
  • Rkr:
Tenor

I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 6. Februar 2013 wird geändert. Der Bescheid der Beklagten vom 29. August 2012 wird aufgehoben.

II. Die Beklagte und die Beigeladenen tragen die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen je zur Hälfte, die Beigeladenen haften untereinander gesamtschuldnerisch.

III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Die Kostenschuldner können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Kostengläubigerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich mit der vom Senat zugelassenen Berufung gegen eine Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg, mit der ihre Klage gegen die Baugenehmigung für die Errichtung und den Betrieb einer Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber auf dem Grundstück FlNr. ... und ... der Gemarkung M..., ... im Stadtgebiet der Beklagten, abgewiesen wurde.

Die Klägerin ist Eigentümerin des vom Baugrundstück nur durch die FlNr. ... der Gemarkung M...n, die Straße „A...“, getrennten Grundstücks FlNr. ... der Gemarkung M... Darauf befinden sich ein Verbrauchermarkt, ein Einkaufsmarkt, eine Bäckereifiliale, ein Chinarestaurant, Bowlingbahnen und ein Bürogebäude mit Friseur im Erdgeschoss und einer vom Geschäftsführer und einer Gesellschafterin der Klägerin bewohnten Betriebsleiterwohnung im vierten Obergeschoss. Nach den übereinstimmenden Angaben der Beteiligten entspricht die Eigenart der im unbeplanten Innenbereich liegenden näheren Umgebung einem Gewerbegebiet. Die Beklagte und – ihr folgend – das Verwaltungsgericht stufen das Vorhaben als Einrichtung für soziale Zwecke ein und halten es für im faktischen Gewerbegebiet ausnahmsweise zulassungsfähig.

Die Klägerin tritt dem unter Hinweis auf den wohnähnlichen Charakter der Nutzung des Vorhabens entgegen. Sie sieht ihren Gebietsbewahrungsanspruch, unabhängig von der Einordnung des Vorhabens als Anlage für soziale Zwecke oder als Wohnnutzung, als verletzt an, weil eine nicht gewerbeakzessorische Wohnnutzung jedenfalls nicht mit dem Charakter eines Gewerbegebiets vereinbar sei.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 6. Februar 2013 und den Bescheid der Beklagten vom 29. August 2012 aufzuheben und der Beklagten und den Beigeladenen die Kosten des Verfahrens anteilig aufzuerlegen.

Die Beklagte verteidigt das erstinstanzliche Urteil und beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beigeladenen beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Asylbewerberunterkunft sei für sich gesehen noch weniger wohnähnlich als die gesetzlich für zulässig erklärten Betriebswohnungen. Der Zwangscharakter der im Übrigen nur vorübergehenden Unterbringung überwiege. Eine für die Wohnnutzung typische eigenständige Gestaltung des häuslichen Lebens und die Gewährleistung der Intimsphäre seien nicht gegeben. Das ergebe sich hier vor allem aus der gemeinsamen Bad- und Küchenbenutzung. Außerdem unterliege das Leben vor Ort fremder Gestaltung durch die Heimleitung. Es seien gesetzliche Bestrebungen im Gange, die die planungsrechtlichen Voraussetzungen zugunsten von Asylbewerberunterkünften verbessern sollten.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.

Gründe

Über das Rechtsmittel der Klägerin kann ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten damit einverstanden sind (§ 101 Abs. 2 VwGO).

Die zulässige Berufung ist begründet, die Baugenehmigung der Beklagten ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in eigenen Rechten, § 125 Abs. 1 Satz 1, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist deshalb zu ändern; die Baugenehmigung für die streitgegenständliche Gemeinschaftsunterkunft für insgesamt 40 Personen in 15 Zimmern in zwei Gebäuden des ehemaligen Güterbahnhofs ist aufzuheben.

Der Klägerin steht der Anspruch auf die Bewahrung der Gebietsart zur Seite (BVerwG, U.v. 16.9.1993 – 4 C 28.91BVerwGE 94, 151, 156; B.v. 22.12.2011 – 4 B 32/11BauR 2012, 634 = juris Rn. 5). Danach kann der Eigentümer eines Grundstücks, das in einem Baugebiet liegt, welches einem der in den Vorschriften des ersten Abschnitts der Baunutzungsverordnung näher beschriebenen Typen entspricht, die Zulassung eines gebietsfremden Vorhabens unabhängig von den damit verbundenen tatsächlichen Beeinträchtigungen oder Störungen abwehren. Die hierfür nötigen Voraussetzungen sieht der Senat als gegeben an. Das streitgegenständliche Vorhaben ist gebietsunverträglich (vgl. BVerwG, U.v. 2.2.2012 – 4 C 14/10BVerwGE 142, 1 = juris Rn. 16 ; U.v. 18.11.2010 – 4 C 10/09BVerwGE 138, 166 = juris Rn. 19; B.v. 28.2.2008 – 4 B 62/07 – juris Rn 6; B.v. 13.5.2002 – 4 B 86/01 – DÖV 2002, 1043 = juris Rn. 9/10; U.v. 21.3.2002 – 4 C 1/02BVerwGE 116, 155 = juris Rn. 12/13, je m.zahlr.w.N.); es kann nicht im Wege einer Ausnahme zugelassen werden.

Die planungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens beurteilt sich nach § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 8 BauNVO. Die aufeinanderfolgend bebaute nähere Umgebung des Baugrundstücks wird im Westen durch die von Nord nach Süd verlaufende Bahnlinie K... – N..., im Norden durch den S...platz und im Osten durch die bogenförmig zuerst nach Südsüdosten weisende R...straße sowie anschließend durch die nach Süden und Südwesten führende A...straße eingerahmt. Außer den neben den Gleisen gelegenen Gebäuden des ehemaligen Güterbahnhofs befinden sich in diesem Areal auf großflächigen Grundstücken neben umfangreichen Park- und Lagerplätzen zahlreiche weitere Gebäude mit großen Grundrissen (allein die Gebäude auf dem Grundstück der Kläger sind insgesamt fast 100 m lang und bis zu etwa 25 m tief), deren Nutzung dem Umgriff nach den auch im Berufungsverfahren unwidersprochen gebliebenen Angaben aller Verfahrensbeteiligten den Charakter eines Gewerbegebiets i.S.v. § 8 BauNVO verleihen.

Die jüngere Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte und der Oberverwaltungsgerichte vertritt – soweit ersichtlich – einhellig die Meinung, dass Gemeinschaftsunterkünfte für Asylbewerber, auch wenn diese als Anlagen für soziale Zwecke im bauplanungsrechtlichen Sinn angesehen werden können, mit dem Charakter eines Gewerbegebiets unvereinbar sind (vgl.: VG Leipzig, B.v. 13.11.2014 – 4 L 1187/14 – juris Rn. 39; VG München, U.v. 3.6.2014 – M 1 K 14.339 – juris Rn. 16-19; OVG Hamburg, B.v 17.6.2013 – 2 Bs 151/13NVwZ-RR 2013, 990 = juris LS 2 und Rn. 17; VGH BW, B.v. 9.4.2014 – 8 S 1528/13NVwZ-RR 2014, 752 = juris Rn. 17; B.v. 14.3.2013 – 8 S 2504/12DVBl 2013, 795 = juris LS 2 und Rn. 13-19, je m.zahlr.w.N.). Diese Auffassung wird im Wesentlichen damit begründet, dass die Unterbringung von Asylbewerbern keine Funktion im Zusammenhang mit oder für eine der im Gewerbegebiet zulässigen Hauptnutzungsarten erfüllt. Die von § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO als ausnahmsweise zulassungsfähig erklärten Wohnungen, „die dem Gewerbebetrieb zugeordnet und ihm gegenüber … untergeordnet sind“, genießen die Vorteile ihrer betriebsnahen Unterbringung nur unter Inkaufnahme des von den Gewerbetrieben ausgehenden Störpotentials. Damit ist die Unterbringung von Asylbewerbern nicht vergleichbar. Ferner bildet eine Gemeinschaftsunterkunft für einen mehr als nur unbeachtlich kurzen Zeitraum den Lebensmittelpunkt des einzelnen Asylbewerbers. In Übereinstimmung mit den zitierten Erkenntnissen ist die tatsächlich stattfindende Nutzung – auch unter Berücksichtigung der Einwände der Beklagten wegen der näheren Ausgestaltung des Aufenthalts des betroffenen Personenkreises im streitgegenständlichen Vorhaben – nicht entscheidungserheblich anders einzustufen als das Wohnen im bauplanungsrechtlichen Sinn, sie ist „wohnähnlich“.

Der Gesetzgeber ist dieser rechtlichen Beurteilung bei der Einfügung von § 246 Abs. 10 Satz 1 BauGB durch das Gesetz über Maßnahmen im Bauplanungsrecht zur Erleichterung der Unterbringung von Flüchtlingen vom 20. November 2014 (BGBl. I S. 1748) im Ergebnis gefolgt (noch anders, die Möglichkeit einer ausnahmsweisen Zulassung vorsehend: Art. 1 § 2 Abs. 4 Satz 1 des Entwurfs des Bundesrats für ein Gesetz über Maßnahmen im Bauplanungsrecht zur Erleichterung der Unterbringung von Flüchtlingen, BT-Drs. 18/2752 vom 8.10.2014 S. 5; vgl. jedoch auch den Änderungsvorschlag der Bundesregierung, a.a.O. S. 9 ff.: Einfügung von § 246 Abs. 10). Nach der Gesetz gewordenen Regelung kann bis zum 31. Dezember 2019 in Gewerbegebieten (§ 8 der Baunutzungsverordnung, auch in Verbindung mit § 34 Abs. 2 BauGB) für Aufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftsunterkünfte oder sonstige Unterkünfte für Flüchtlinge oder Asylbegehrende von den Festsetzungen des Bebauungsplans befreit werden, wenn an dem Standort Anlagen für soziale Zwecke als Ausnahme zugelassen werden können oder allgemein zulässig sind und die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit öffentlichen Belangen vereinbar ist. Mit demselben Gesetz wurde auch § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB neu gefasst. Neben den schon bisher für eine Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplans erforderlichen Gründen des Wohls der Allgemeinheit kann jetzt auch der Bedarf zur Unterbringung von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden eine Befreiung rechtfertigen.

Diese Gesetzeslage gilt seit dem 26. November 2014 (vgl. Art. 2 des Gesetzes über Maßnahmen im Bauplanungsrecht zur Erleichterung der Unterbringung von Flüchtlingen, BGBl I S. 1748). Nachdem das Gesetz keine Übergangsvorschriften enthält, ist es sogleich anzuwenden und gemäß § 128 VwGO einer in der Berufungsinstanz ergehenden Entscheidung zugrunde zu legen (vgl. ferner zur Beachtlichkeit von Gesetzesänderungen während der Rechtshängigkeit: BVerwG, U.v. 17.12.1954 – V C 97.54BVerwGE 1, 291 = juris LS 2 und 3 sowie Rn. 12 ff.). Eine während des Rechtsstreits zugunsten des Bauherrn eintretende Änderung der Rechtslage ist auch bei baurechtlichen Nachbarklagen zu berücksichtigen (BVerwG, B.v. 23.4.1998 – 4 B 40/98BauR 1998, 995 = juris LS 2 und Rn. 3; B.v. 8.11.2010 – 4 B 43/10ZfBR 2011, 164 = juris Rn. 9, stRspr). Im Einzelfall ist eine Befreiung gerade auch für eine weder regelhaft noch ausnahmsweise zulässige Anlage denkbar (vgl. BVerwG, U.v. 18.11.2010 – 4 C 10/09BVerwGE 138, 166 = juris Rn. 29-34: Erweiterungsvorhaben einer in einem festgesetzten Industriegebiet genehmigten Syrisch-Orthodoxen Kirche um eine Krypta im vorhandenen Untergeschoss „als privaten Bestattungsplatz ausschließlich für verstorbene Geistliche“).

Diese neuen, seine Zulassung unter Befreiung von dem tatsächlichen Gebietscharakter der näheren Umgebung erleichternden Vorschriften kommen dem streitgegenständlichen Vorhaben hier jedoch nicht zu Gute, da es ausdrücklich nur im Wege der Ausnahme gemäß § 34 Abs. 2 Halbs. 2 Var. 1 BauGB i.V.m § 31 Abs. 1 BauGB zugelassen wurde. Eine Umdeutung (Art. 47 BayVwVfG) der Entscheidung der Beklagten in eine Befreiung kommt nicht in Betracht. Eine solche scheitert im vorliegenden Fall gemäß Art. 47 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 BayVwVfG jedenfalls daran, dass die Beklagte bewusst keine Befreiung, sondern ausdrücklich nur eine Ausnahme erteilen wollte, was zusätzlich aus ihren Stellungnahmen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren deutlich geworden ist.

Kosten: § 154 Abs. 1 und 3, § 159 VwGO; vorläufige Vollstreckbarkeit: § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 VwGO) liegen nicht vor.  

Beschluss

Der Streitwert wird für beide Rechtszüge auf 7.500 Euro festgesetzt (§ 52 Abs. 1 GKG unter Berücksichtigung der Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit – BayVBl Beilage 1/2014).