OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 18.12.2014 - 22 U 57/12
Fundstelle
openJur 2015, 3374
  • Rkr:

Ein als Belegarzt operierender Gynäkologe, dem mitgeteilt wird, die Patientin befinde sich zzt. in der Umstellung von Marcumar auf Heparin (sog. Bridging), ist nicht verpflichtet, sich von dessen tatsächlicher Durchführung zu überzeugen, wenn die OP kein besonderes Blutungsrisiko mit sich bringt (hier: Ausschabung der Gebärmutter).

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der 17. Zivilkammer des Landgerichts Darmstadt vom 15.02.2012 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Dieses Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Das angefochtene Urteil wird für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung erklärt.

Die Klägerin kann die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Vollstreckende Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Gründe

I.

Die Parteien streiten um Ansprüche der am ...1933 geborenen Klägerin nach einer gynäkologischen Operation am ...2007, die der Beklagte zu 1) als Belegarzt im Krankenhaus der vormaligen Beklagten zu 4), bei der die vormalige Beklagte zu 5) als Stationsschwester tätig ist, ausgeführt hat. Die vormalige Beklagte zu 2) war bei der Operation als Anästhesistin tätig; die vormalige Beklagte zu 3) war als angestellte Ärztin in der kardiologischen Praxis A die die Klägerin regelmäßig betreuende Kardiologin.

Auf Empfehlung ihrer Frauenärztin B stellte sich die Klägerin am ... 2007 beim Beklagten zu 1) vor und übergab diesem eine Überweisung. In der Zeit vor der Operation hatte die Klägerin seit mehr als einem Jahr Marcumar zur Blutverdünnung eingenommen, was sie aufgrund der Beratung in der kardiologischen Praxis in den Tagen vor der Operation absetzte, ohne mit Heparin versorgt zu werden. Die gynäkologische Operation als solche verlief komplikationslos; am Abend des Operationstags erlitt die Klägerin jedoch einen Hirninfarkt, der zu bleibenden körperlichen Einschränkungen führte.

Wegen der Einzelheiten des erstinstanzlichen Vorbringens der Parteien sowie wegen der erstinstanzlich gestellten Anträge und der erstinstanzlich durchgeführten Beweisaufnahme (Sachverständigengutachten vom 21.07.2010, Ergänzungsgutachten, bei Gericht eingegangen am 05.08.2011, und mündliche Erläuterung des Gutachtens durch den Sachverständigen C am 18.01.2012) wird auf das angefochtene Urteil des Landgerichts Bezug genommen.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen und im Wesentlichen ausgeführt, ein Behandlungsfehler der Beklagten sowie die Kausalität zwischen einer evtl. falschen Medikation und dem erlittenen Hirninfarkt seien nicht bewiesen.

Gegen das ihr am 28.02.2012 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 26.03.2012 Berufung eingelegt und diese nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 30.05.2012 am 29.05.2012 begründet.

Die Klägerin rügt die erstinstanzliche Beweisaufnahme als unvollständig und falsch gewürdigt und behauptet, es gehöre zu dem von einem als Belegarzt tätigen operierenden Gynäkologen einzuhalten fachärztlichen Standard, durch Nachfrage bei behandelnden Fach- oder Hausärzten zu klären und zu überwachen, dass eine notwendige Umstellung von Marcumar auf Heparin ordnungsgemäß erfolgt sei; eine solches Bridging wäre bei ihr auch objektiv erforderlich gewesen.

Die Klägerin hat nach entsprechender Erörterung in der mündlichen Berufungsverhandlung vom 01.08.2013 die Berufung bezüglich der vormaligen Beklagten zu 2) und 3) mit Schriftsatz vom 02.12.2013 zurückgenommen. Die klageerweiternd in der Berufungsinstanz gegen die Beklagten zu 4) und 5) mit Schriftsatz vom 16.12.2013 erhobene Klage hat die Klägerin nach entsprechendem Hinweis des Senats in der Berufungsverhandlung vom 27.02.2014 zurückgenommen.

Die Klägerin beantragt nunmehr:

1.Unter Abänderung des am 15.02.2012 verkündeten Urteils des Landgerichts Darmstadt, AZ: 17 O 371/09, wird der Beklagte zu 1) verurteilt, an die Klägerin aus ärztlich fehlerhafter interdisziplinärer Behandlung betreffend die Fachgebiete Kardiologie, Gynäkologie und Anästhesie in dem Zeitraum vom ...2007 bis ...2007 in O1 - Unterlassen einer präoperativen Medikation, Befunderhebung und Kontrolle und daraus resultierender Hirninfarkt nach der Operation - einen materiellen Schadensersatz in Höhe von 28.304,13 € zuzüglich 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit 01.06.2008 zu zahlen.2.Der Beklagte zu 1) wird verurteilt, aus der im vorstehenden Antrag zu Nr. 1 bezeichneten ärztlich fehlerhaften Behandlung ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen betragsmäßige Festsetzung in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst 5 % Zinsen gemäß § 247 Abs.1 BGB seit dem 01.06.2008 zu zahlen.3.Der Beklagte zu 1) wird verurteilt, aus der im Klageantrag zu Nr. 1 bezeichneten ärztlich fehlerhaften Behandlung an die Klägerin eine monatliche Schmerzensgeldrente in Höhe von 200,00 €, beginnend mit dem 01.06.2008 zu zahlen.4.Der Beklagte zu 1) wird verurteilt, an die Klägerin außergerichtliche Kosten in Höhe von 1.319,71 € zu zahlen.Der Beklagte zu 1) beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte zu 1) verteidigt das angefochtene Urteil und ist der Auffassung, jederzeit entsprechend dem fachärztlichen Standard gehandelt zu haben. Ein Bridging sei bei der Klägerin objektiv auch nicht erforderlich gewesen und hätte den Eintritt des Hirninfarkts nicht verhindert. Der Beklagte zu 1) behauptet zudem, der Kardiologe A habe ihm bei einem Telefonat am ...2007 fälschlicherweise mitgeteilt, die Umstellung von Marcumar auf Heparin sei bei der Klägerin erfolgt; eine entsprechende Auskunft hätte A auch erteilt, wenn der Beklagte zu 1) sich bereits vor der Operation am ...2007 bei ihm nach der Durchführung eines Bridgings bei der Klägerin erkundigt hätte.

Der Senat hat die Klägerin und den Beklagten zu 1) in der Berufungsverhandlung vom 01.08.2013 persönlich angehört. Anschließend hat der Senat Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen A in der Berufungsverhandlung am 27.02.2014 und Einholung eines fachärztlichen Gutachtens des Sachverständigen D, das der Sachverständige in der mündlichen Berufungsverhandlung vom 08.12.2014 mündlich erläutert hat.

Wegen der Einzelheiten des zweitinstanzlichen Parteivorbringens wird auf die in der Berufungsinstanz gewechselten Schriftsätze Bezug genommen. Wegen des Ergebnisses der Parteianhörung und der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsprotokolle vom 01.08.2013, 27.02.2014 und 08.12.2014 verwiesen.

II.

Die zulässige Berufung ist, soweit sie noch verfolgt wird, nicht begründet.

Nach dem Ergebnis der in der Berufungsinstanz durchgeführten Beweisaufnahme und in Würdigung der schriftsätzlichen Ausführungen der Parteien sowie des Ergebnisses der zweitinstanzlich durchgeführten Parteianhörungen kann eine Pflichtverletzung des Beklagten zu 1) gegenüber der Klägerin durch Verletzung des im Jahre 2007 geltenden fachärztlichen Standards eines als Belegarzt operierenden Gynäkologen nicht festgestellt werden. Dabei kann es dahingestellt bleiben, ob ein Bridging bei der Klägerin angesichts ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen objektiv erforderlich war und den Eintritt des Hirninfarkts am Abend des Operationstags verhindert hätte. Ebenfalls kann hier dahingestellt bleiben, ob die verantwortlichen Ärzte der die Klägerin behandelnden kardiologischen Gemeinschaftspraxis den von ihnen einzuhaltenden organisatorischen und fachärztlichen Standard bei der präoperativen Behandlung der Klägerin verletzt haben, weil diese Ärzte am vorliegenden Verfahren nicht beteiligt sind oder waren. Entscheidend für eine Haftung des Beklagten zu 1) ist allein, ob er als Belegarzt tätiger operierender Gynäkologe den für ihn geltenden fachärztlichen Standard eingehalten hat.

Eine Pflichtverletzung des Beklagten zu 1) kann der Senat auf der Grundlage der von ihm getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht bejahen. Dabei ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme, der Parteianhörung und der Würdigung der vorgelegten und in der Berufungsverhandlung in Augenschein genommenen Urkunden, insbesondere der vom Beklagten zu 1) für die Klägerin geführten Patientenkartei (gelbe Karte, in blauer Mappe) und der darin befindlichen Privat-Überweisung der Fachärzte für Gynäkologie B vom ...2007, davon auszugehen, dass der Beklagte zu 1) beim Vorgespräch der Parteien am ...2007 von der Klägerin die o.g. Überweisung der Frauenärzte B überreicht bekam, ihm jedoch nicht ausdrücklich mündlich von der Klägerin mitgeteilt wurde, sie werde von der kardiologischen Praxis A „auf Heparin umgestellt“.

Beide Parteien schildern das zwischen ihnen geführte Vorgespräch durchaus unterschiedlich, wobei der Senat keiner der beiden Schilderungen in vollem Umfang zu folgen vermag: Soweit die Klägerin auf Vorhalt der Privat-Überweisung der Frauenärzte B gesagt hat, sie habe dieses Schriftstück „nie gesehen“, sondern dem Beklagten zu 1) ein anders aussehendes Schriftstück überreicht, geht der Senat von einer unzutreffenden Erinnerung der Klägerin aus. Ein anders aussehendes Schriftstück ist nie zur Akte gelangt. Die Echtheit der vorgelegten Überweisung ist unbestritten und es gibt keine nachvollziehbare Erklärung dafür, wie der Beklagte zu 1) in den Besitz der Überweisung gelangt sein soll, wenn nicht durch die Übergabe seitens der Klägerin beim Vorgespräch.

Andererseits ist der Senat auch nicht davon überzeugt, dass die Eintragung des Beklagten zu 1) in der Patientenkartei „Pat. wird von FA-Praxis A auf Heparin umgestellt“ den Inhalt des Vorgesprächs zwischen den Parteien zutreffend wiedergibt, nachdem die Klägerin ausdrücklich und mehrfach versichert hat, das Wort „Heparin“ sei im Gespräch zwischen ihr und dem Beklagten zu 1) nicht gefallen. Zwar kann einer formell und materiell ordnungsgemäßen Dokumentation, die keinerlei Anhalt für Veränderungen, Verfälschungen oder Widersprüchlichkeiten bietet, grundsätzlich seitens des Gerichts Glauben geschenkt werden (vgl. statt vieler OLG München 1 U 5092/10; Urteil vom 15.07.2011, Rdn. 26 ff, zitiert nach juris), jedoch ist im vorliegenden Fall der Beweiswert der Dokumentation des Beklagten zu 1) durch die Vernehmung des Zeugen A in erheblichem Maße erschüttert worden. Der Zeuge A hat glaubhaft und plausibel bekundet, er könne ausschließen, dass ein Telefonat, wie es der Beklagte für den ... 2007 in der Patientenkartei dokumentiert hat, stattgefunden hat. Der Senat ist nach dem Eindruck, den der Zeuge A in der mündlichen Verhandlung hinterlassen hat, davon überzeugt, dass der Zeuge bezüglich der Klägerin, einer Patientin, die er persönlich nicht behandelte (und noch nicht einmal kannte) ohne Einblick in die Computer-Dokumentation seiner Praxis keine Auskunft des vom Beklagten dokumentierten Inhalts gegeben hätte oder - einen Anruf des Beklagten zu 1) unterstellt - gegeben hat. Da die Aussage des Zeugen A nicht nur einen nebensächlichen und für die Entscheidung des Rechtsstreits unerheblichen Punkt (vgl. zu solchen Fragen OLG Oldenburg, 5 U 147/05, Urteil vom 28.02.2007, Rdn. 43, zitiert nach juris) betrifft, ist der Beweiswert der Patientenkartei in erheblichem Maße erschüttert. Sie kann bei der gegebenen Sachlage nicht die Vermutung rechtfertigen, der zwischen den Parteien streitige Inhalt des Vorgesprächs am ...2007 sei so gewesen, wie es der Beklagte dokumentiert hat.

Ist mithin davon auszugehen, dass dem Beklagten zu 1) nur die Information auf der Privat-Überweisung der Frauenärzte B „z.Zt. Umst. Marcumar-Heparin“ beim Vorgespräch zur Verfügung stand, ist zu beurteilen, ob der vom Beklagten einzuhaltende fachärztliche Standard es geboten hätte, nunmehr selbst in der die Klägerin betreuenden hausärztlichen und/oder kardiologischen Praxis nachzufragen, ob die Umstellung auf Heparin tatsächlich erfolgt war. Diese Frage ist nach dem Ergebnis der zweitinstanzlich durchgeführten Beweisaufnahme zu verneinen.

Der Sachverständige D hat bei seiner mündlichen Anhörung vor dem Senat detailliert und überzeugend dargetan, in welchem Umfang sich ein operierender Gynäkologe um die Frage der Marcumar- oder Heparin-Versorgung einer Patientin kümmern muss. Es kommt hierbei vor allem auf die Art des vorzunehmenden Eingriffs, dabei besonders auf das Risiko einer nichtstillbaren Blutung, an. Der bei der Klägerin vorzunehmende Eingriff war ein - üblicherweise ambulant durchzuführender - kleinerer Eingriff, der ca. fünf Minuten dauerte, und innerhalb der Gebärmutter, also einem muskulären Hohlorgan, erfolgte, wo das Risiko einer ausgedehnten Blutung generell eher gering ist. Die Vorerkrankungen der Klägerin erhöhten das Blutungsrisiko nicht. Der INR-Wert war so eingestellt, dass das Risiko einer unstillbaren Blutung minimiert war. Nachdem dem Beklagten durch die Privat-Überweisung der Frauenärzte B mitgeteilt worden war, dass die Umstellung von Marcumar auf Heparin sich derzeit in der Umsetzung befand, musste er zur Einhaltung des fachärztlichen Standards nicht nochmals von sich aus auf diese Frage zurückkommen, auch nicht unmittelbar vor der Operation. Anders als im Falle des OLG Köln 5 U 172/00, Urteil vom 02.04.2001, zitiert nach juris) hatte der Beklagte zu 1) nicht selbst die Umstellung von Marcumar auf Heparin angeordnet und damit ein besonderes Risiko für die Patientin geschaffen (darauf stellt das OLG Köln, a.a.O., in Rdn. 23 ab), sondern darauf vertraut, der von anderen initiierte laufende Umstellungsprozess werde - seine Notwendigkeit einmal unterstellt - ordnungsgemäß zu Ende geführt werden. Dies kann ihm nicht als Pflichtverletzung vorgeworfen werden. Es entspricht vielmehr den Grundsätzen der horizontalen Arbeitsteilung zwischen Fachärzten verschiedener Disziplinen.

Weiterhin entsprach es nach den Ausführungen des Sachverständigen, denen sich der Senat anschließt, dem für einen als Belegarzt operierenden Gynäkologen geltenden fachärztlichen Standard, bei der kurzen Visite am Nachmittag des Operationstags nur den klinischen Zustand der Patientin zu prüfen und nicht Einblick in die Pflegedokumentation zu nehmen. Die Visite des Belegarztes nach der Operation dient nicht der Kontrolle des Stationsbetriebs, sondern der Operateur vergewissert sich, ob die Patientin den Eingriff gut überstanden hat, kreislaufstabil und gut orientiert ist, oder ob es Anhaltspunkte für innere Blutungen oder andere Komplikationen gibt. Diesem Standard ist der Beklagte zu 1) gerecht geworden. Er traf die Klägerin am Nachmittag des Operationstags in gutem Zustand an. Damit, dass seine Anweisung, der Patientin - wie allen frisch operierten Patientinnen - am Tag des Eingriffs eine Heparinspritze zu verabreichen, vom Pflegepersonal unabgesprochen geändert worden sein könnte, musste er nicht rechnen.

Da die Berufung mithin insgesamt unbegründet ist, hat die Klägerin die gesamten Kosten der Berufungsinstanz zu tragen. Über die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 2) bis 5) wurde bereits mit Beschlüssen vom 12.12.2013 und 27.02.2014 entschieden. Im Übrigen folgt die Kostenentscheidung aus § 97 I ZPO.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO. Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht, da die Voraussetzungen des § 543 II ZPO nicht vorliegen.