OLG Stuttgart, Beschluss vom 19.11.2014 - 2 Ws 142/14
Fundstelle
openJur 2015, 899
  • Rkr:

1. Nach dem Tod des Angeklagten ist der Verteidiger hinsichtlich der zu treffenden Kostenentscheidung beschwerdebefugt.

2. Außerhalb des Anwendungsbereichs der Unschuldsvermutung kann die Entscheidung über die notwendigen Auslagen des Angeklagten gemäß § 467 Abs. 3 Nr. 2 StPO nach Maßgabe des ohne die Verfahrenseinstellung zu erwartenden Verfahrensausgangs getroffen werden.

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde des Verteidigers gegen den Beschluss des Landgerichts Ravensburg vom 18. Juli 2014 wird die dort getroffene Kostenentscheidung wie folgt abgeändert:

Die Staatskasse trägt die Kosten des Verfahrens und zwei Drittel der notwendigen Auslagen des Angeklagten in den Berufungsverfahren vor dem Landgericht Ravensburg und im Revisionsverfahren vor dem Oberlandesgericht Stuttgart. Im Übrigen werden die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse nicht auferlegt.

2. Die Gebühr für das Beschwerdeverfahren wird auf die Hälfte ermäßigt. Die Staatskasse trägt die Hälfte der dem Nachlass des Angeklagten im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen.

Gründe

I.

Am 6. Juni 2011 verurteilte das Amtsgerichts Tettnang den Angeklagten wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr zu der Freiheitsstrafe von fünf Monaten ohne Strafaussetzung zur Bewährung. Der Angeklagte hatte die Tat gestanden. Seine rechtzeitig eingelegte Berufung gegen das Urteil, die er vor der Berufungshauptverhandlung auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte, wurde durch Urteil des Landgerichts Ravensburg vom 29. August 2011 als unbegründet verworfen. Auf seine Revision hob der Senat mit Beschluss vom 8. Dezember 2011 das Urteil des Landgerichts Ravensburg auf, weil anhand der vom Landgericht getroffenen Feststellungen nicht überprüft werden konnte, ob die Berufungskammer zu Recht von der Wirksamkeit der Berufungsbeschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch ausgegangen war. Am 1. Oktober 2013 begann die nun zuständige Berufungskammer beim Landgericht Ravensburg die neue Berufungshauptverhandlung durch einen Gutachtensauftrag an einen psychiatrischen Sachverständigen zur Klärung der Voraussetzungen des § 21 StGB vorzubereiten. Am 12. Februar 2014 verstarb der Angeklagte. Darauf stellte das Landgericht mit dem im Kostenpunkt angefochtenen Beschluss vom 18. Juli 2014 das Strafverfahren ein. Zugleich ordnete es an, dass die Staatskasse die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der notwendigen Auslagen des Angeklagten, die dieser selbst (bzw. sein Nachlass) tragen sollte, trägt.

II.

Auf die zulässige sofortige Beschwerde des Verteidigers gegen die Kostenentscheidung im Beschluss des Landgerichts Ravensburg vom 18. Juli 2014 ändert der Senat diese dahin ab, dass die Staatskasse neben den Kosten des Verfahrens zwei Drittel der notwendigen Auslagen des Angeklagten in den Berufungsverfahren vor dem Landgericht Ravensburg und im Revisionsverfahren vor dem Oberlandesgericht Stuttgart zu tragen hat. Die notwendigen Auslagen des Angeklagten im Verfahren vor dem Amtsgericht Ravensburg und ein Drittel seiner notwendigen Auslagen in den Berufungsverfahren und im Revisionsverfahren werden der Staatskasse nicht auferlegt.

1. In der Rechtsprechung ist umstritten, ob der Wahlverteidiger nach dem Tod des Angeklagten befugt ist, Beschwerde gegen gerichtliche Entscheidungen einzulegen. Bejaht wurde dies vom Oberlandesgericht Nürnberg (Beschluss vom 30. März 2010 - 1 Ws 113/10, bei juris), verneint wurde es früher von den Oberlandesgerichten München (NStZ 2003, 501) und Hamburg (NStZ 2004, 280 f.). Der Senat folgt der Auffassung des Oberlandesgerichts Nürnberg, dass die Beschwerdebefugnis des Verteidigers fortbesteht. Der Sache nach wurde die Rechtsfrage vom Bundesgerichtshof (BGHSt 45, 108 ff.) im Beschluss vom 8. Juni 1999 zu den Rechtsfolgen des Todes des Betroffenen während des Bußgeldverfahrens im hier angenommenen Sinn entschieden. Der Bundesgerichtshof hält es nämlich ausdrücklich für geboten, im Fall des Todes des Betroffenen während des gerichtlichen Verfahrens eine Kosten- und Auslagenentscheidung zu treffen (a.a.O., Rn. 27 bei juris). Im Strafverfahren, dessen Regelungen § 46 Abs. 1 OWiG grundsätzlich für sinngemäß anwendbar erklärt, gilt nichts anderes. Dann kann es aber nicht ernstlich zweifelhaft sein, dass dem Nachlass des Angeklagten auch die Befugnis zur Einlegung der sofortigen Beschwerde gegen die Kosten- und Auslagenentscheidung des Gerichts zusteht, die § 464 Abs. 3 StPO vorsieht. Andernfalls hätte der Nachlass eine schwächere Rechtsstellung als ein von einer sonstigen Verfahrenseinstellung nach § 206a StPO betroffener Angeklagter, obwohl er von der Regelung der Kosten- und Auslagenfolgen des Verfahrens unmittelbar betroffen wird. Das Fortwirken der Vollmacht des Wahlverteidigers im Verfahren folgt dann aus § 672 Abs. 1 i.V.m. § 168 BGB. Der Wert des Beschwerdegegenstands in der Sache übersteigt 200 Euro ( 304 Abs. 3 StPO).

2. § 467 Abs. 1 StPO ordnet an, dass die notwendigen Auslagen des Angeklagten im Fall der Verfahrenseinstellung der Staatskasse zur Last fallen. Nach § 467 Abs. 3 Nr. 2 StPO kann das Gericht hiervon absehen, wenn der Angeklagte wegen einer Straftat nur deshalb nicht verurteilt wird, weil ein Verfahrenshindernis besteht. Die herrschende Auffassung (OLG Nürnberg a.a.O.; Gieg in Karlsruher Kommentar, StPO, 7. Auflage, § 467 Rn. 10, 10a; Hilger in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Auflage, § 467, Rn. 18) behandelt § 467 Abs. 3 Nr. 2 StPO als eine selten anzuwendende Ausnahmevorschrift. Aus der Voraussetzung, dass nur wegen des Verfahrenshindernisses nicht verurteilt wird, folgt dabei, dass im Zeitpunkt der Verfahrenseinstellung ein voller Schuldnachweis gegen den Angeklagten geführt sein muss, wobei allerdings ein umfassendes Tatgeständnis des Angeklagten genügt. Dem folgt auch der Senat. Ein solches umfassendes Tatgeständnis hat der Angeklagte in der Hauptverhandlung erster Instanz nach dem Hauptverhandlungsprotokoll des Amtsgerichts abgelegt. Im Beschwerdeverfahren kann der Senat gemäß § 309 Abs. 2 StPO das Hauptverhandlungsprotokoll erster Instanz - anders als im Revisionsverfahren - heranziehen. Auf Grund des Geständnisses wäre der Schuldspruch in der neuen Berufungsverhandlung bestätigt worden. Daraus folgt, dass im vorliegenden Fall die notwendigen Auslagen des Angeklagten im Verfahren vor dem Amtsgericht Tettnang nicht der Staatskasse aufzuerlegen sind, weil der Angeklagte nur aufgrund seines Versterbens nicht verurteilt worden ist. Der Senat sieht keine Veranlassung, bei der Ermessensausübung nach § 467 Abs. 3 Nr. 2 StPO von dieser Kostenfolge abzusehen.

Hinsichtlich der notwendigen Auslagen des verstorbenen Angeklagten in den Berufungsverfahren und im Revisionsverfahren stellt der Senat bei der Ermessensausübung nach § 467 Abs. 3 Nr. 2 StPO auf den wahrscheinlichen Verfahrensausgang im Falle des Nichtversterbens des Angeklagten ab. Auch insoweit ist nicht die Unschuldsvermutung, die regelmäßig die Kosten- und Auslagentragung der Staatskasse nahe legt, maßgebend, weil diese für die Rechtsfolgen der Tat nicht gilt (vgl. auch Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Auflage, Art. 6 MRK, Rn. 12). Vielmehr geht es nur noch um die Abwicklung der Kosten- und Auslagenfolgen des Verfahrens, für die - ähnlich wie im Zivilprozess bei der Erledigung der Hauptsache nach § 91a ZPO - der ohne die Einstellung zu erwartende Verfahrensausgang einen sachgerechten Maßstab bietet. Dabei ist zu beachten, dass nach § 473 Abs. 3 StPO die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse aufzuerlegen sind, wenn ein beschränktes Rechtsmittel Erfolg hat, und dass das nach § 473 Abs. 4 StPO bei einem Teilerfolg insoweit zu geschehen hat, als es unbillig wäre, den Angeklagten damit zu belasten. Im Zweifel ist auch zu berücksichtigen, dass der Verbleib der notwendigen Auslagen beim Angeklagten nach § 467 Abs. 3 Nr. 2 StPO Ausnahmecharakter hat.

Hierzu trägt der Beschwerdeführer zu Recht vor, dass die erhebliche Verfahrensverzögerung beim Landgericht Ravensburg nach der Aufhebung des ersten Berufungsurteils durch den Senat am 8. Dezember 2011 einerseits für die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung und andererseits für die Strafhöhe von Bedeutung gewesen wäre. Angemessen erscheint es nach der Auffassung des Senats, zwei Drittel der notwendigen Auslagen in den Berufungs- und Revisionsverfahren auf die Staatskasse zu übernehmen. Zum Einen konnte der Angeklagte zum Zeitpunkt seines Versterbens nach etwa 2,5 Jahren an vergangener Zeit seit seiner erstinstanzlichen Verurteilung am 6. Juni 2011 mit der Strafaussetzung zur Bewährung der festzusetzenden Freiheitsstrafe rechnen, die er angestrebt hatte und die von seinem Verteidiger schon in der Berufungshauptverhandlung am 29. August 2011 beantragt worden war. Zum Anderen wäre aufgrund des Zeitablaufs bei ansonsten nachvollziehbarer Strafhöhe des amtsgerichtlichen Urteils bei der Strafzumessung im engeren Sinn und bei der Bemessung eines Abschlags wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung nach der sog. Vollstreckungslösung (vgl. BGHSt 52, 124 ff., bei juris Rn. 56) ein - allerdings maßvoller - Abschlag zu gewähren gewesen. Im dargelegten Umfang hält es der Senat für unbillig, dem Nachlass des Angeklagten die Auslagenerstattung durch die Staatskasse zu verweigern.

Die Kostenentscheidung im Beschwerdeverfahren beruht auf § 473 Abs. 4 StPO. Den Teilerfolg der Kostenbeschwerde bewertet der Senat mit einhalb. Auch insoweit wäre es unbillig, den Nachlass des Angeklagten hiermit zu belasten.