OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29.10.2014 - OVG 6 K 85.14
Fundstelle
openJur 2014, 23014
  • Rkr:

1. Der Vergütungsanspruch des im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordneten Rechtsanwalts gegenüber der Staatskasse gilt für alle nach der Beiordnung verwirklichten Gebührentatbestände, auch wenn diese bereits vor der Beiordnung erfüllt waren.

2. Um mehrere Klagen im Zeitpunkt der Entscheidungsreife eines Prozesskostenhilfeantrags gebührenrechtlich als ein Verfahren ansehen zu können, bedarf es einer Verbindung durch Beschluss nach § 93 Satz 1 VwGO, der grundsätzlich durch sämtliche Mitglieder des Spruchkörpers vorzunehmen ist und nicht durch eine Eingangsverfügung des oder der Vorsitzenden eines Spruchkörpers ersetzt werden kann, in der die Führung beider Verfahren unter einem Aktenzeichen bestimmt wird.

Tenor

Auf die Beschwerde des Erinnerungsführers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 9. Mai 2014 aufgehoben und die Vergütungsfestsetzungsentscheidung der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle vom 26. Oktober 2012 dahin geändert, dass die dem Erinnerungsführer zu erstattenden Kosten auf 1.023,04 Euro festgesetzt werden.

Der Erinnerungsgegner trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Beschwerdeverfahrens; Auslagen werden nicht erstattet.

Gründe

I. Der Erinnerungsführer erhob für die beiden Kläger des Ausgangsverfahrens jeweils mit gesonderter Klageschrift Klage gegen zwei Bescheide des Erinnerungsgegners, mit denen jeweils die Feststellung des Verlustes des Rechts auf Einreise und Aufenthalt der beiden Kläger / Antragsteller des Ausgangsverfahrens festgestellt worden war. Zugleich beantragte er die Bewilligung von Prozesskostenhilfe bei Kläger. Mit der Eingangsverfügung wies der Vorsitzende des Ausgangsverfahrens des Verwaltungsgerichts beiden Klageverfahren zusammen ein Aktenzeichen zu (VG 27 L 102.09).

Nachdem die Kläger am 16. Dezember 2009 die formularmäßigen Erklärungen über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Prozesskostenhilfeverfahren vorgelegt hatten, wurde ihnen mit Beschluss vom 21. Dezember 2009 Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Erinnerungsführers für das Klageverfahren (VG 27 K 102.09) gewährt. Das Klageverfahren wurde mit Beschluss vom 2. Februar 2012 ausgesetzt.

In seinem Antrag auf Festsetzung der Vergütung für das Klageverfahren vom 4. Oktober 2012 begehrte der Erinnerungsführer die 1,3 fache Verfahrensgebühr sowie die Post- und Telekommunikationsdienstleistungspauschale jeweils zweimal. In ihrem Vergütungsfestsetzungsbeschluss von 26. Oktober 2012 setzte die Kostenbeamtin demgegenüber lediglich eine 1,3 fache Verfahrensgebühr und nur eine Postpauschale in Höhe von 20 Euro zuzüglich Umsatzsteuer fest, weil eine Verfahrensverbindung nicht stattgefunden habe und von Anfang an lediglich ein Verfahren beider Kläger geführt worden sei.

Die hiergegen gerichtete Erinnerung hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 9. Mai 2014 zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Prozesskostenhilfe sei erst mit Beschluss vom 21. Dezember 2009 bewilligt worden. Dieser Beschluss wirke nicht auf den Monat März 2009 zurück, in dem die Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz bei Gericht gesondert anhängig gemacht und sodann vom Verwaltungsgericht unter einem Aktenzeichen zusammengefasst und in der Folge in einem Verfahren behandelt worden seien. Prozesskostenhilfe werde nur für die Zukunft ab Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfegesuchs bewilligt. Zu diesem Zeitpunkt habe jedenfalls faktisch nur noch ein Eilverfahren für beide Eheleute vorgelegen. Auch die vom Erinnerungsführer hilfsweise begehrte Festsetzung einer Erhöhungsgebühr nach Nr. 1008 VV RVG scheide aus, weil es sich nicht um einen einheitlichen und identischen Streitgegenstand handele. Das ergebe sich auch aus der Streitwertfestsetzung. Der festgesetzte Wert von 10.000 Euro errechne sich nach entsprechenden Angaben im Ausgangsverfahren aus der Summe von jeweils 5.000 Euro. Damit fehle es an derselben Angelegenheit im Sinne von Nr. 1008 VV RVG.

II. Die hiergegen gerichtete Beschwerde, über die gemäß § 56 Abs. 2 Satz 1 RVG in Verbindung mit § 33 Abs. 8 Satz 1 RVG der Einzelrichter entscheidet, ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat zu Unrecht entschieden, dass der Erinnerungsführer die Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 VV RVG und die Post- und Telekommunikationsdienstleistungspauschale nach Nr. 7002 VV RVG nur einmal im Rahmen des Prozesskostenhilfeverfahrens gegenüber der Staatskasse geltend machen kann.

6Dabei hat es zwar zutreffend angenommen, dass der Vergütungsanspruch des im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordneten Rechtsanwalts gegenüber der Staatskasse allein diejenigen Tätigkeiten erfasst, die der Anwalt nach dem Wirksamwerden seiner Beiordnung geleistet hat, nicht aber auch etwaige Tätigkeiten aus der vorangegangenen Zeit als Wahlanwalt (BGH, Beschluss vom 10.Oktober 1995 - VI ZR 396/94 -, AGS 1997, S. 141, Rn. 5 bei juris m.w.N.). Der Vergütungsanspruch gilt daher für alle nach der Beiordnung verwirklichten Gebührentatbestände, auch wenn diese bereits vor der Beiordnung erfüllt waren (Senatsbeschluss vom 15. August 2014 - OVG 6 K 70.14 - unter Berufung auf BGH, Beschluss vom 21. Februar 2008 - I ZR 142/06 -, Rn. 5 bei juris), so dass es hinsichtlich der hier streitigen Gebühren für die Erstattungsfähigkeit aus der Staatskasse nicht - wie der Erinnerungsführer meint - auf die prozessuale Situation im Zeitpunkt des Klageeingangs bei Gericht, sondern auf die prozessuale Situation im Zeitpunkt der Bewilligung der Prozesskostenhilfe bzw. der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfegesuchs ankommt. Das Verwaltungsgericht hat aber verkannt, dass hier gleichwohl gebührenrechtlich von zwei Verfahren auszugehen war. Dass die beiden getrennt erhobenen, jeweils eine Gebühr nach Nr. 3100 und nach Nr. 7002 VV RVG auslösenden Klagen der Kläger des Ausgangsverfahrens bereits unmittelbar nach Eingang bei Gericht faktisch zu einem einzigen Verfahren verbunden und unter einem einzigen Aktenzeichen geführt wurden, rechtfertigt keine andere Entscheidung.

7Um die beiden Klagen im Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags gebührenrechtlich als ein Verfahren ansehen zu können, hätte es einer Verbindung durch Beschluss nach § 93 Satz 1 VwGO bedurft. Die im Ermessen des Gerichts stehende Verbindung verschiedener Verfahren zu einem einzigen Verfahren erfolgt nach dem eindeutigen Wortlaut der Norm „durch Beschluss“, der unabhängig von der strittigen Frage, ob er ausdrücklich ergehen muss oder konkludent erfolgen kann, grundsätzlich durch sämtliche Mitglieder des Spruchkörpers vorzunehmen ist. Er kann daher schon aus diesem Grunde nicht durch eine Eingangsverfügung des oder der Vorsitzenden eines Spruchkörpers ersetzt werden, in der die Führung beider Verfahren unter einem Aktenzeichen bestimmt wird. Diese gerichtsverwaltungstechnische Handhabung lässt die gebührenrechtlichen Ansprüche gegenüber der Staatskasse im Rahmen des Prozesskostenhilfeverfahrens vielmehr unberührt.

Die Weiterführung der beiden Klagen als ein einzelnes Verfahren nach der am 31. August 2009 erfolgten Übertragung auf den Vorsitzenden als Einzelrichter vermag einen (konkludenten) Verbindungsbeschluss nicht zu ersetzen. Der Vorsitzende knüpfte bei seinem weiteren Vorgehen lediglich an die vorgefundene prozessuale Situation an, ohne durch eigenes weiteres Verhalten neue Tatsachen zu schaffen.

Auch mit der vom Verwaltungsgericht in diesem Zusammenhang angeführten Entscheidung des VGH München (Beschluss vom 8. September 1976 - 87 II 76 -, Rn. 11 bei juris) lässt sich vorliegend kein anderes Ergebnis begründen. Im dortigen Verfahren ging es um die Frage, ob die Augenscheinseinnahme in zwei im Übrigen getrennt geführten Verfahren durch einen damit beauftragten Richter eine einzige oder jeweils eine Beweisgebühr ausgelöst hatte. Der Verwaltungsgerichtshof hat angenommen, dass die Verwaltungsstreitsachen während der Beweisaufnahme eine Angelegenheit im Sinne der gebührenrechtlichen Vorschriften bildeten und dass es hierfür nicht eines ausdrücklichen Beschlusses nach § 93 Satz 1 VwGO bedurfte. Dieser Fall ist mit der hier gegebenen Konstellation schon deshalb nicht vergleichbar, weil die Verbindung der beiden dortigen Verfahren im Rahmen der Beweisaufnahme durch den insoweit zuständigen beauftragten Richter erfolgte.

Schließlich gilt auch unter dem Gesichtspunkt der „rügelosen Einlassung“, den das Verwaltungsgericht anführt, nichts Anderes. Das Verwaltungsgericht verweist insoweit auf einen Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. Dezember 2001 - 9 B 72.01 -, in welchem dieses ausführt, dass eine stillschweigende Trennung des Verfahrens, auf die sich die Verfahrensbeteiligten rügelos eingelassen hätten, mit einer Verfahrensrüge nicht als ermessensfehlerhaft beanstandet werden könne (Rn. 3 bei juris). Das Verwaltungsgericht entnimmt diesem Beschluss, dass eine solche stillschweigende Trennung bei rügeloser Einlassung jedenfalls „kein Nullum“ darstelle und dass Entsprechendes auch für eine stillschweigende Verbindung zu gelten habe. Diese Argumentation verkennt, dass die prozessuale Situation im dortigen Fall mit der hier fraglichen Konstellation nicht vergleichbar ist. Dem in der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts angeführten Aspekt des Rügeverlusts eines behaupteten Verfahrensverstoßes liegt der Gedanke einer Obliegenheitsverletzung zu Grunde. Ein Prozessbeteiligter ist gehalten, die von ihm reklamierten Verfahrensrechte wahrzunehmen und deren Verletzung sogleich zu rügen, wenn er sie als Verfahrensfehler in der Revisionsinstanz geltend machen will. Dieses Recht verliert er, wenn er seine insoweit bestehende Obliegenheit nicht wahrnimmt. Um diesen Gedanken für die vorliegende Konstellation fruchtbar zu machen, müsste eine Obliegenheit des Rechtsanwalts angenommen werden, Verfahrensrügen zu erheben, um nicht an sich bestehender gebührenrechtlicher Ansprüche verlustig zu gehen. Das erscheint schon aus rechtssystematischen Gründen nicht angängig. Ein solcher Gedanke ist dem anwaltlichen Gebührenrecht fremd.

Dessen ungeachtet spricht aus Sicht des Gebührenrechts ohnehin alles dafür, dass die Verbindung zweier Verfahren nach § 93 Satz 1 VwGO schon aus Gründen der prozessualen Klarheit eines förmlichen Beschlusses bedarf (vgl. Schmid, in Sodan/Ziekow, VwGO 4. Auflage 2014, § 93 Rn. 20).

Der Erinnerungsführer kann vor diesem Hintergrund die Festsetzung der 1,3 fachen Verfahrensgebühr sowie der Post- und Telekommunikationsdienstleistungspauschale in Höhe von 20 Euro nebst 19 % Umsatzsteuer jeweils zweimal für einen Streitwert von jeweils 5.000 Euro verlangen. Hinzu kommt die mit dem Kostenfestsetzungsantrag für beide Klagen gemeinsam geltend gemachte und zwischen den Beteiligten nicht im Streit stehende Dokumentenpauschale nach Nr. 7000 VV RVG von 31,90 Euro nebst Umsatzsteuer, also 37,96 Euro. Das entspricht in der Summe 1.023,04 Euro (303 Euro Gebühr * 1,3 = 393,90 Euro + 20 Euro + 19% = 492,54 Euro * 2 + 37,96 Euro).

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, § 56 Abs. 2 RVG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).