KG, Beschluss vom 21.08.2014 - 1 Ws 61/14 - 161 AR 21/14
Fundstelle
openJur 2014, 22980
  • Rkr:

1. Der Umstand, dass sich die Schadenshöhe eines Vermögensdelikts noch nicht exakt beziffern lässt, steht der Annahme eines dringenden Tatverdachts nicht entgegen. Es muss lediglich mit der gebotenen hohen Wahrscheinlichkeit feststehen, dass (neben den weiteren Tatbestandsvoraussetzungen des Vermögensdelikts) ein Vermögensschaden vorliegt, wobei sich diese Einschätzung nach dem jeweiligen Stand der Ermittlungen richtet.

2. Hat der Beschuldigte seinen Wohnsitz im Ausland, begründet dies für sich allein keine Fluchtgefahr, kann aber bei der erforderlichen Gesamtwürdigung mitberücksichtigt werden. Es ist daher nicht zu beanstanden, wenn dies als Anhaltspunkt für die Fluchtgefahr gewertet wird.

Tenor

Die weitere Beschwerde des Beschuldigten gegen den Beschluss des Landgerichts Berlin vom 8. Juli 2014 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Gegen den Beschuldigten besteht der auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützte Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten vom 4. April 2014 – (351 Gs) 243 Js 56/14 (1120/14) –. Darin wird ihm zur Last gelegt, sich im Zeitraum von April 2008 bis Januar 2011 als Mitglied einer Bande gewerbsmäßig des Betruges in sechs Fällen und des vorsätzlichen unerlaubten Betreibens von Bankgeschäften in fünf Fällen schuldig gemacht zu haben. Er soll mit mehreren Mitbeschuldigten übereingekommen sein, einer Vielzahl geschäftlich unerfahrener Personen überteuerte, meist fremd genutzte Immobilien als „Steuerspar-Modell“ anzubieten und sie unter bewusst wahrheitswidrigen Angaben über Art und Beschaffenheit der Immobilie, den eintretenden Steuervorteil oder den monatlich aufzubringenden Eigenanteil zum Erwerb der Immobilie zu veranlassen. In den Unternehmen G. AG, P. Ltd. und V. GmbH & Co. KG, die an den Immobiliengeschäften auf Bauträgerseite beteiligt waren, soll der Beschuldigte leitende Funktionen innegehabt haben und dabei in engem Kontakt mit den Vertriebsunternehmen (C. GmbH, O. GmbH und I. GmbH) in Ausführung des Tatplanes in sechs Fällen einen deutlich überteuerten, unter anderem hohe Vermittlungsprovisionen einschließenden Kaufpreis festgelegt haben. Außerdem soll der Beschuldigte als Vorstand der G. AG in Kenntnis aller Umstände der C. GmbH Mittel für Kredite zur Verfügung gestellt haben, die diese Wohnungskäufern gewährte, ohne dass die C. GmbH über die zur Betreibung von Bankgeschäften erforderliche Erlaubnis verfügte. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Haftbefehl Bezug genommen.

Das Amtsgericht hat nach der Festnahme des Beschuldigten am 6. Mai 2014 die Vollziehung des Haftbefehls und mit Beschluss vom 27. Mai 2014 die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Die dagegen gerichtete Beschwerde hat das Landgericht durch den angefochtenen Beschluss verworfen. Die zulässige weitere Beschwerde des Beschuldigten hat keinen Erfolg.

1. Der Beschuldigte ist der ihm im Haftbefehl zur Last gelegten Straftaten aufgrund der dort genannten Beweismittel dringend verdächtig (§ 112 Abs. 1 Satz 1 StPO). Der Erörterung bedarf nur Folgendes:

Mit Recht weist die Verteidigung darauf hin, dass es nicht angeht, den durch die Täuschungshandlungen bewirkten jeweiligen Vermögensschaden der Käufer, wie in dem Haftbefehl geschehen, mit dem jeweiligen Kaufpreis gleichzusetzen (Beispiel: Fall 1 [Geschädigter: T.]: der Haftbefehl bemisst den Schaden bei einem Kaufpreis von 190.000,- Euro auf 190.000,- Euro). Ein Schaden im Sinne des § 263 StGB tritt nach ständiger Rechtsprechung ein, wenn die Vermögensverfügung unmittelbar zu einer nicht durch Zuwachs ausgeglichenen Minderung des wirtschaftlichen Gesamtwerts des Vermögens des Verfügenden führt (ständige Rechtsprechung, vgl. nur BGHSt 16, 220, 221). Maßgeblich ist der Zeitpunkt der Vermögensverfügung, also der Vergleich des Vermögenswerts unmittelbar vor und unmittelbar nach der Verfügung. Wie sich die Dinge später entwickeln, ist für den Tatbestand ohne Belang (vgl. BGHSt 30, 388, 389 f.); dies hat nur noch für die Strafzumessung Bedeutung (vgl. BGHSt 51, 10, 17). Danach ist hier in allen Fällen dem vereinbarten Kaufpreis jeweils der Verkehrswert der Immobilie im Zeitpunkt des Verkaufs gegenüberzustellen. Grundsätzlich erleidet, wie in dem angefochtenen Beschluss zutreffend ausgeführt, ein durch Täuschung zum Kaufabschluss bewogener Kunde nur dann einen Schaden, wenn die Sache objektiv den vereinbarten Preis nicht wert ist (vgl. auch BGH NStZ 2014, 318, 320f mit Ausführungen zum sog. „persönlichen Schadenseinschlag“).

Derzeit werden die Verkehrswerte der verkauften Immobilien durch Gutachten ermittelt, die die Staatsanwaltschaft in Auftrag gegeben hat. Da die Ergebnisse dieser Ermittlungen noch ausstehen, lässt sich die jeweilige Schadenshöhe gegenwärtig nicht exakt beziffern. Dies steht der Annahme des dringenden Tatverdachts jedoch nicht entgegen. Im Falle der (zu erwartenden) Anklageerhebung wird es letztlich Aufgabe des Gerichts sein, die Betrugsschäden konkret festzustellen und zu beziffern (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Mai 2014 – 4 StR 143/14 – bei juris = HRRS 2014 Nr. 661 unter Hinweis auf BVerfGE 126, 170, 229; 130, 1, 47). Gegebenenfalls ist der Schaden zu schätzen bzw. ein Mindestschaden festzustellen und zu benennen. Wenn ein Gericht wegen Betruges verurteilt und den Schadensumfang nicht oder nicht hinreichend beziffert, führt dies lediglich zur Aufhebung des Strafausspruchs, nicht aber des Schuldausspruchs, wenn anhand der sonstigen Feststellungen auszuschließen ist, dass überhaupt kein Schaden entstanden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Mai 2014 a.a.O. m.w.N.). Gefährdet aber die mangelhafte Bezifferung des Vermögensschadens nicht einmal den Bestand eines Schuldspruchs, gilt dies erst recht für die Bewertung des – der gerichtlichen Feststellung vorgelagerten – dringenden Tatverdachts. Insoweit muss für die Beurteilung, ob der Beschuldigte des Vermögensdelikts dringend verdächtig ist, lediglich mit der gebotenen hohen Wahrscheinlichkeit feststehen, dass (neben den weiteren Tatbestandsvoraussetzungen des Vermögensdelikts) ein Vermögensschaden vorliegt, wobei sich diese Einschätzung nach dem jeweiligen Stand der Ermittlungen richtet. Der Senat als Beschwerdegericht entnimmt den vorgelegten Ermittlungsakten, dass nach dem bisherigen Ermittlungsergebnis die den geschäftlich unerfahrenen Käufern veräußerten Immobilien mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit den Kaufpreis nicht wert waren und nach vorläufiger Wertung jedenfalls auszuschließen ist, dass überhaupt kein Schaden entstanden ist.

2. Es besteht auch der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO).

Fluchtgefahr ist gegeben, wenn bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalles eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Annahme spricht, der Beschuldigte werde sich zumindest für eine gewisse Zeit dem Strafverfahren entziehen, als für die Erwartung, er werde sich dem Verfahren zur Verfügung halten (vgl. hierzu und zum Nachfolgenden mit jeweiligen Nachweisen Senat, Beschluss vom 27. Juni 2014 – 1 Ws 48/14 –; KG StV 2012, 350 ). Bei der Prognoseentscheidung ist jede schematische Beurteilung anhand genereller Maßstäbe, insbesondere die Annahme, dass bei einer Straferwartung in bestimmter Höhe stets oder nie ein bedeutsamer Fluchtanreiz bestehe, unzulässig. Die zu erwartenden Rechtsfolgen allein können die Fluchtgefahr grundsätzlich nicht begründen. Sie sind aber der Ausgangspunkt für die Erwägung, ob ein aus der Straferwartung folgender Fluchtanreiz unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände zu der Annahme führt, der Beschuldigte werde diesem wahrscheinlich nachgeben und flüchtig werden. Die Straferwartung beurteilt sich hierbei nicht ausschließlich nach der subjektiven Vorstellung des Beschuldigten; abzustellen ist vielmehr auf den Erwartungshorizont des Haftrichters, in dessen Prognoseentscheidung die subjektive Erwartung des Beschuldigten allerdings mit einzubeziehen ist. Auf der Grundlage des tatsächlich zu erwartenden Freiheitsentzugessind die auf eine Flucht hindeutenden Umstände gegen diejenigen Tatsachen abzuwägen, die einer Flucht entgegenstehen. Je höher die konkrete Straferwartung ist, umso gewichtiger müssen die den Fluchtanreiz mindernden Gesichtspunkte sein. Bei der vorzunehmenden Gesamtwürdigung sind unter anderem die Persönlichkeit, die persönlichen Verhältnisse und das Vorleben des Beschuldigten, die Art und Schwere der ihm vorgeworfenen Tat, das Verhalten des Beschuldigten im bisherigen Ermittlungsverfahren wie auch in früheren Strafverfahren, drohende negative oder soziale Folgen der vorgeworfenen Tat, aber auch allgemeine kriminalistische Erfahrungen und die Natur des verfahrensgegenständlichen Tatvorwurfs, soweit diese Rückschlüsse auf das Verhalten des Beschuldigten nahe legt, zu berücksichtigen.

Bei Anlegung dieser Maßstäbe besteht die überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass sich der Angeklagte dem Verfahren durch Flucht entziehen wird.

Der Beschuldigte hat, obwohl er nicht vorbestraft ist, mit einer langjährigen Freiheitsstrafe zu rechnen, deren Vollstreckung von Gesetzes wegen nicht zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Die Mindeststrafe für die ihm zur Last gelegten Verbrechen beträgt jeweils ein Jahr (§ 263 Abs. 5 StGB); die Annahme minder schwerer Fälle liegt fern (vgl. Fischer, StGB 61. Aufl., § 263 Rdn. 229b). Zwar ist nach vorläufiger Würdigung davon auszugehen, dass die durch die Täuschungshandlungen bewirkten und noch im Einzelnen konkret zu beziffernden Vermögensschäden – wie dargelegt – unterhalb der in dem Haftbefehl genannten Beträgen liegen, was die Straferwartung mindert. Jedoch sind als verschuldete Auswirkungen der Tat (§ 46 Abs. 2 StGB) die weiteren negativen wirtschaftlichen Folgen für die Geschädigten zu berücksichtigen (vgl. BGH, Beschluss vom 2. Juli 2014 – 5 StR 182/14 – bei juris). Nach dem bisherigen Ergebnis der Ermittlungen haben sie infolge der arglistigen Handlungen des Beschuldigten und seiner Mittäter ganz erhebliche materielle Beeinträchtigungen ihrer Lebensführung hinzunehmen und leiden darunter. Diese das Tatbild maßgeblich prägenden Umstände werden sich voraussichtlich deutlich strafschärfend auswirken. Deshalb und auch wegen der nach dem bisherigen Ergebnis der Ermittlungen herausgehobenen Stellung des Beschuldigten in dem mit hoher krimineller Energie agierenden komplexen und intransparenten Unternehmensgeflecht sowie unter Beachtung der für die vorgeworfenen Vergehen des unerlaubten Betreibens von Bankgeschäften zu erwartenden Freiheitsstrafen geht der Senat davon aus, dass der Beschuldigte eine langjährige Gesamtfreiheitsstrafe zu erwarten hat. Auch wenn er als Erstverbüßer eine realistische Chance auf die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung nach zwei Dritteln (§ 57 Abs. 1 StGB) hat, gibt die Aussicht auf die Verbüßung der verbleibenden Freiheitsstrafe einen erheblichen Anreiz, sich dem weiteren Verfahren und der sich ggf. anschließenden Strafvollstreckung zu entziehen. Eine Flucht würde ihm durch seine vielfältigen Verbindungen in das Ausland erleichtert.

Dieser Fluchtanreiz für den Beschuldigten wird noch durch den Umstand gesteigert, dass gegen ihn ein weiteres Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft wegen gleichartiger Vorwürfe anhängig ist (X Js X). Zudem wird er sich voraussichtlich zivilrechtlichen Schadensersatzansprüchen der Immobilienkäufer ausgesetzt sehen.

Gewichtige Tatsachen, die einer Flucht entgegenstehen, sind nicht erkennbar. Der Beschuldigte hat in Deutschland im Wesentlichen keine persönlichen Bindungen mehr. Lediglich zu seiner Mutter, die in Berlin lebt, hat er offenbar ein engeres Verhältnis. Bei dieser wohnte er allerdings nicht, wenn er sich in Berlin aufhielt. Seine Lebensgefährtin befindet sich im Ausland (Großbritannien). Dass er bisher seinen Wohnsitz (wie seine Freundin) im Ausland hat, begründet zwar für sich allein keine Fluchtgefahr, kann aber bei der erforderlichen Gesamtwürdigung mitberücksichtigt werden. Es ist daher nicht zu beanstanden, dass das Landgericht in dem angefochtenen Beschluss dies jedenfalls als einen Anhaltspunkt für die Fluchtgefahr gewertet hat (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 57. Aufl., § 112 StPO Rdn. 17a, 20a m.w.N.).

Dass der Beschuldigte infolge seines Rückenleidens gesundheitlich beeinträchtigt und auf Medikamente angewiesen ist, lässt die Fluchtgefahr nicht entfallen, da er auch im Ausland oder im Falle eines Untertauchens in Deutschland sich mit den benötigten Medikamenten versorgen könnte. Der Vollständigkeit halber ist auch darauf hinzuweisen, dass bei Anlegung der insoweit maßgeblichen Grundsätze (vgl. nur OLG Nürnberg StV 2006, 314; OLG Düsseldorf NStZ 1993, 554; KG NStZ 1990, 142, jeweils m.w.N.) die Erkrankung den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft nicht unzulässig macht. Denn nur wenn die nahe liegende, konkrete Gefahr besteht, der Untersuchungsgefangene werde durch den Vollzug der Untersuchungshaft schwerwiegenden, irreparablen Schaden an seiner Gesundheit nehmen oder sogar sein Leben einbüßen, dürfte der Haftbefehl nicht weiter vollstreckt werden (vgl. BVerfGE 51, 324, 345 ff; Graf in KK-StPO 7. Aufl., § 112 Rdn. 54 m.w.N.). Das Rückenleiden des Angeklagten kann indes auch im Rahmen des Untersuchungshaftvollzuges angemessen behandelt werden.

3. Vor diesem Hintergrund lassen sich die Sicherung des Strafverfahrens und damit der Zweck der Untersuchungshaft derzeit nicht mit milderen Maßnahmen im Sinne des § 116 Abs. 1 StPO, auch nicht mit der angebotenen Sicherheitsleistung durch die Mutter des Beschuldigten, erreichen. Eine Haftverschonung setzte voraus, dass sich der Senat auf den Beschuldigten verlassen kann (ständige Rechtsprechung des Kammergerichts, vgl. etwa Beschlüsse vom 24. April 2014 – 1 Ws 29/14 – und 7. März 2014 – 4 Ws 21/14 –- m.w.N.). Die bekannt gewordenen persönlichen Verhältnisse des Beschuldigten und auch das Tatbild der ihm zur Last gelegten, auf Täuschung und Verschleierung ausgerichteten Verbrechen geben keinen Anlass zu solch einem Vertrauen. Zum Schreiben der Verteidigung vom 15. August 2014 merkt der Senat an, dass es zwar keine Verpflichtung im engeren Sinne gibt, „Wohnsitzwechsel im Ausland anzuzeigen“. Der Beschuldigte hat aber, indem er dies in Kenntnis der anhängigen Ermittlungsverfahren nicht getan hat, jedenfalls nicht die Chance zur Vertrauensbildung genutzt.

4. Der weitere Vollzug der jetzt dreieinhalb Monaten andauernden Untersuchungshaft steht zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe nicht außer Verhältnis (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.