OLG München, Urteil vom 12.12.2013 - 1 U 498/13
Fundstelle
openJur 2014, 21509
  • Rkr:
Tenor

I. Auf Berufung der Klägerin wird das Grundurteil des Landgerichts Ingolstadt vom 4.11.2009, 52 O 1231/08 insoweit abgeändert, als dass die Klage hinsichtlich des Schadensersatzanspruchs gerichtet auf das positive Interesse wegen der am 15.05.2008 erfolgten Aufhebung des Vergabeverfahrens dem Grunde nach gerechtfertigt ist.

II. Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.

III. Wegen der Höhe des materiellen Schadensersatzanspruchs wird das Verfahren an das Landgericht Ingolstadt zurückverwiesen.

IV. Von den Kosten des Berufungsverfahrens und des Revisionsverfahrens tragen die Klägerin 46% und die Beklagte 54%. Von den Kosten der Streitverkündung trägt die Klägerin 46%, im übrigen trägt die Streitverkündete ihre Kosten selbst.

V. Die Revision wird nicht zugelassen. VI. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Die Parteien streiten um Schadensersatz aus der Durchführung eines öffentlich-rechtlichen Ausschreibungsverfahrens – Friedhofserweiterung mit Neubau der Friedhofsmauer und Aussegnungshalle – in der Gemeinde P.

Auf Grundlage der Bekanntgabe im Staatsanzeiger vom 28.03.08 führte die Beklagte hinsichtlich des Bauvorhabens „Friedhofserweiterung mit Neubau der Friedhofsmauer und Aussegnungshalle" das öffentlich-rechtliche Ausschreibungsverfahren nach VOB/A durch. Der Termin zur Eröffnung der Angebote wurde bestimmt auf 14.04.2008, 14 h.

Die Klägerin gab ein Angebot ab, das unter Berücksichtigung eines Preisnachlasses mit einer Angebotssumme von € 261.368,78 abschloss. Es war von einer Angestellten ohne einen Vertretungszusatz unterzeichnet und mit dem Firmenstempel der Klägerin versehen.

Kurz vor dem Eröffnungstermin wurde dem Bürgermeister der Beklagten mitgeteilt, dass ein weiterer Bewerber zum falschen Abgabelokal gefahren sei. Die Beklagte entschied zuzuwarten und das verspätete Angebot des weiteren Bieters zu öffnen.

Die Klägerin hatte bis zum Zeitpunkt der Öffnung des verspäteten Gebotes das bislang günstigste Angebot abgegeben, wurde jedoch durch das neuerliche Gebot unterboten.

Unter dem 16.04.2008 stellte die Klägerin bei der VOB-Stelle der Regierung von Oberbayern einen Nachprüfungsantrag. Die Verbescheidung der VOB Stelle vom 05.05.2008 ging dahin, dass das verspätete Gebot nicht berücksichtigt werden dürfe.

Mit Schreiben vom 15.05.2008 hob die Beklagte im Nachgang, gestützt auf § 26 Nr. 1 c VOB/A, wegen fehlender Sicherung der Finanzierbarkeit das Vergabeverfahren auf. Gleichzeitig sollte eine lediglich beschränkte Ausschreibung durchgeführt werden. Auf erneuten Protest der Klägerin hin bestätigte die VOB-Stelle am 27.05.2008 zumindest die formale Richtigkeit der Aufhebung des ersten Ausschreibungsverfahrens.

Bei der im Nachgang durchgeführten beschränkten Ausschreibung wurde die Klägerin nicht mehr beteiligt. Der Zuschlag wurde am 27.05.2008 auf ein Gebot von € 242.000,-- erteilt.

Die Klägerin erhob mit Schriftsatz vom 24.7.2008 Teilklage auf Erstattung ihres positiven Interesses in Höhe von € 5.001,00, wobei sie den Gesamtschaden auf € 71.431,12 bezifferte. Die Beklagte reichte mit Schriftsatz vom 10.2.2009 Widerklage ein, mit der sie die Feststellung begehrte, dass der Klägerin auch kein weiterer Schadensersatz zusteht.

Die Klägerin und Widerbeklagte hat vorgetragen:

Nach der Feststellung der Ungültigkeit des Gebotes der Firma M. beim Eröffnungstermin vom 14.04.2008 hätte sie den Zuschlag als günstigste Bieterin erhalten müssen. Durch die Berücksichtigung eines verspäteten Angebotes sowie Durchführung einer lediglich beschränkten Ausschreibung bei gleichbleibendem Leistungsverzeichnis sei sie sachfremd aus dem Verfahren gedrängt worden. Aufgrund der Verletzung vorvertraglicher Verhandlungen stünde ihr deshalb ein Schadensersatzanspruch zu. Die Klage werde aufgrund der schwerwiegenden Pflichtverletzung auf das positive Interesse gerichtet. Der Hinweis der Beklagten auf fehlende Sicherung der Finanzierbarkeit sei lediglich ein Vorwand gewesen, um sie auszuschließen. Die im Nachgang erzielte Angebotssumme von € 242.000,00 stelle keine erhebliche Minderung gegenüber dem klägerischen Gebot dar. Durch das Verhalten der Beklagten sehe sie sich im Ausschreibungsverfahren diskriminiert. Im Rahmen des positiven Interesses errechne sich ihr Schadensersatzanspruch auf € 71.431,12 unter Anrechnung ersparter Material- und Stoff- sowie Lohnkosten. Die Widerklage sei abzuweisen.

Die Klägerin hat beantragt,

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin € 5.001,-- nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.

2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin € 459,40 außergerichtliche Rechtsanwaltskosten nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.

3. Die Widerklage wird abgewiesen.

Die Beklagte und Widerklägerin hat beantragt:

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Es wird festgestellt, dass die Klägerin und Widerbeklagte keinen Anspruch auf Zahlung eines weiteren Betrages von € 66.430,12 gegenüber der Beklagten und Widerklägerin aus der Vergabe der Maßnahme Friedhofserweiterung mit Neubau der Friedhofsmauer und Aussegnungshalle, Leistung: Erdarbeiten, Beton-, Maurer- und Putzarbeiten, hat.

Die Beklagte und Widerklägerin hat vorgetragen:

Das erste Ausschreibungsverfahren sei aufgrund Überschreitung der geschätzten Kosten und nicht gesicherter Finanzierbarkeit aufgehoben worden. Dabei habe die Beklagte von Kostenschätzungen der Lars C. GmbH über brutto € 229.715,29 ausgehen dürfen. Die vorgelegte Berechnung vom 28.2.2007 belaufe sich zwar auf € 316.288,22, davon sollten jedoch nicht sämtliche Leistungen in Auftrag gegeben werden, so dass sich der Betrag entsprechend reduziert habe. Die Kostenberechnung entspreche den Vorgaben nach DIN 276, sei sorgfältig erstellt worden und weise ein vertretbares Ergebnis auf. Bei Ausschluss des klägerischen Gebotes wegen formaler Mängel und des Gebotes eines weiteren Bieters wegen Verspätung habe das nächste Angebot über € 268.486,07 gelautet. Dies hätte eine Überschreitung der Kostenschätzung um ca. 16,8 % und damit fehlende Sicherung der Finanzierbarkeit bedeutet. Das Ergebnis der Durchführung der beschränkten Ausschreibung habe zu einem letztlich finanzierbaren Betrag von € 242.000,00 geführt. Aus dem Sachverhalt um die beschränkte Ausschreibung könne die Klägerin keinerlei Ansprüche herleiten, zumal sie an dieser Ausschreibung nicht beteiligt gewesen sei. Ferner sei die Entscheidung zur Durchführung der Beschränkung rechtmäßig gewesen. Das Angebot der Klägerin habe nicht den Vorgaben des § 21 Nr. 1 I bis III VOB/A entsprochen, zumal die Vertretungsmacht des Unterzeichners des klägerischen Gebotes bestritten werde.

Das Landgericht gab mit Urteil vom 4.11.2009 der Klage dem Grunde nach statt und führte zur Begründung aus, dass der Klägerin zwar kein Anspruch auf Erstattung des positiven Interesses zustehe, aber ein solcher auf Ersatz des negativen Interesses auf Grund der Nichtbeteiligung an der zweiten Ausschreibung.

Die Klägerin legte mit Schriftsatz vom 3.12.2009 gegen das ihr am 6.11.2009 zugestellte Urteil Berufung ein und begründete diese mit Schriftsatz vom 6.4.2010. Die Beklagte legte mit Schriftsatz vom 7.12.2009 gegen das ihr am 9.11.2009 zugestellte Urteil Berufung ein und begründete diese mit Schriftsatz vom 8.4.2010.

Der 21.Zivilsenat des OLG München (Az. 21 U 5466/09) wies mit Urteil vom 5. 7. 2010 unter Zurückweisung des Rechtsmittels der Klägerin die Klage insgesamt ab und erkannte nach dem Widerklageantrag. Zur Begründung führte der Senat aus, dass es an der Abgabe eines formal wirksamen Angebots fehle, da keine rechtswirksame Unterschrift vorliege.

Auf Revision der Klägerin hob der X. Zivilsenat des BGH (Az. X ZR 108/10, veröffentlicht in NZBau 2013,180)) das Urteil des 21. Zivilsenats auf, und verwies die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an den 1. Zivilsenat zurück. Der Bundesgerichtshof legte in seinem Urteil die Unterschriftsklausel dahingehend aus, dass der Unterzeichner bei Angebotsabgabe über die erforderliche Vertretungsmacht verfügt haben muss.

Die Beklagte verkündete mit Schriftsatz vom 5.7.2013 der Firma Lars C. GmbH den Streit. Die Streitverkündete erklärte mit Schriftsatz vom 24.7.2013 ihren Beitritt auf Beklagtenseite.

Nachdem die Klägerin hinsichtlich der übrigen Schadenssumme vor dem Landgericht Ingolstadt Zahlungsklage erhoben hatte, erklärten die Parteien unter jeweiliger Verwahrung gegen die Kostenlast in der mündlichen Verhandlung vom 21.11.2013 die Feststellungswiderklage für erledigt.

Die Klägerin trägt vor:

Das Landgericht habe zu Unrecht den Klageanspruch lediglich im Hinblick auf den Ersatz des negativen Interesses wegen der Nichtbeteiligung an der beschränkten Ausschreibung dem Grunde nach für begründet erklärt.

Es bestehe ein Anspruch auf Ersatz des positiven Interesses, da die Beklagte die öffentliche Ausschreibung rechtswidrig aufgehoben habe und die Klägerin bei rechtmäßiger Fortführung der öffentlichen Ausschreibung und nach Präklusion des zu spät erscheinenden Bieters den Zuschlag erhalten hätte müssen. Stattdessen habe die Beklagte die Klägerin an der sogleich durchgeführten beschränkten Ausschreibung nicht partizipieren lassen und bei gleichbleibendem Volumen und ohne eine neue Berechnung eingeholt zu haben die beschränkte Ausschreibung betrieben, die dann letztlich nach durchgeführter Baumaßnahme zu einer Schlussrechnungssumme von € 300.000,00 geführt habe. Die Klägerin sollte lege artis ausgeboten werden. Die Voraussetzungen für eine Aufhebung wegen fehlender Finanzierung und überhöhter Angebote hätten nicht vorgelegen.

Die vorgelegte Kostenrechnung laute betragsmäßig auf € 316.228,22 wobei diese Schätzung von der Beklagten mit Schriftsatz vom 15.5.2009 auf € 229.715,29 oder herunter gerechnet worden sei. Diese Kürzungen seien gänzlich nicht nachzuvollziehen und würden bestritten. Die von der Beklagten vorgelegte Kostenschätzung entspreche nicht einer aktuellen und einen realistischen Preisniveau berücksichtigenden Kostenschätzung. Wenn die Finanzierung eines Bauvorhabens tatsächlich nicht gesichert sei, dürfe auch nicht ausgeschrieben werden.

Die Berufung der Beklagten sei zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt:

1. Das Urteil des Landgerichts Ingolstadt insoweit abzuändern, als dass die Beklagte kostenpflichtig verpflichtet wird, an die Klägerin Schadensersatz in Form des positiven Interesses zu zahlen.

2. Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.

Die Beklagte und die Streitverkündete beantragen übereinstimmend:

1. Das Grundurteil des Landgerichts Ingolstadt vom 4.11.2009, 52 O 1231/08, wird aufgehoben und die Klage abgewiesen.

2. Die Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt vor:

Das Landgericht habe zu Unrecht die Klage wegen der Nichtbeteiligung der Klägerin an der beschränkte Ausschreibung dem Grunde nach für begründet erklärt.

Der Klägerin stehe kein Schadensersatz wegen der Aufhebung der Ausschreibung zu, da die Aufhebung nach § 26 Nr.1 c VOB/A zu Recht erfolgt sei. Die Kostenberechnung der Streitverkündeten sei sorgfältig erstellt worden, vertretbar und auch noch zu dem Zeitpunkt der Ausschreibung aktuell gewesen.

Die Ausschreibung hätte aufgehoben werden müssen, weil das günstigste Angebot die geschätzten Kosten um rund 16,8% überschritten habe und die Maßnahme damit nicht mehr finanzierbar gewesen wäre.

Bei der Frage, ob ein vertretbarer geschätzter Auftragswert deutlich überschritten werde sei nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht darauf abzustellen, ob ein offenbares Missverhältnis zwischen Preis und Leistung vorliege. Es könne daher zu der Beurteilung auch nicht auf die Rechtsprechung zu § 25 Nr.3 Abs.1 VOB/A a.F. (§ 16 Abs.6 Nr.1 VOB/A n.F.) zurückgegriffen werden. Anderenfalls wäre eine sanktionslose Aufhebung nur möglich, wenn zugleich die Voraussetzungen nach § 25 Nr.3 Abs.1 VOB/A a.F. bzw. § 16 Abs.6 Nr.1 VOB/A n.F gegeben wären.

Im Übrigen nimmt der Senat auf die zwischen den Parteien im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze Bezug.

Gründe

Die zulässige Berufung der Klägerin erwies sich als begründet, die der Beklagten dagegen als unbegründet.

A. Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet.

B.I. Die Berufung der Klägerin ist zulässig, da sie durch das Grundurteil beschwert wird.

Die Beschwer der Klägerin ergibt sich daraus, dass sie einen Schadenersatzanspruch wegen der rechtswidrigen Aufhebung des Vergabeverfahrens begehrt hat und das Landgericht die Klage lediglich hinsichtlich der Nichtbeteiligung der Klägerin an der beschränkten Vergabe für berechtigt erklärt hat. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs beschwert ein Grundurteil eine Partei soweit es für sie negative Bindungswirkung hat (vergleiche BGH NJW-RR 2007,138). Die Bindungswirkung des landgerichtlichen Urteils reicht zumindest soweit, als dass der Klägerin nur wegen der Nichtbeteiligung an dem beschränkten Ausschreibungsverfahren nicht jedoch wegen einer möglichen rechtswidrigen Aufhebung des Vergabeverfahrens Ansprüche zustehen.

II. Die Berufung der Klägerin war erfolgreich, da die Aufhebung der Ausschreibung rechtswidrig war und die Voraussetzungen für einen Schadensersatzanspruch auf Ersatz des entgangenen Gewinns (positives Interesse) vorliegen.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs setzt ein auf das positive Interesse gerichteter Schadensersatzanspruch eines Bieters voraus, dass dem Bieter bei ordnungsgemäßem Verlauf des Vergabeverfahrens der Zuschlag hätte erteilt werden müssen, der ausgeschriebene oder ein diesem wirtschaftlich gleichzusetzender Auftrag vergeben worden ist und die Vergabestelle das Vergabeverfahren nicht vergaberechtskonform aufheben konnte, weil die Voraussetzungen aus § 26 Nr.1 VOB/A a.?F. nicht vorlagen.

Die ersten beiden Voraussetzungen sind erfüllt, da der Klägerin als günstigster Bieter der Zuschlag erteilt hätte werden müssen und ein wirtschaftlich gleichzusetzender Auftrag vergeben wurde.

Nach Bewertung des Senates war die Aufhebung der Ausschreibung rechtswidrig, da keine schwer wiegenden Gründe nach § 26 Nr.1 VOB/A a.?F gegeben waren. Als schwer wiegende Gründe kamen vorliegend in Betracht eine fehlende Finanzierbarkeit des Vorhabens und eine beträchtlich Differenz zwischen dem Schätzungsergebnis bzw. dem Wert der Leistung und dem günstigsten Angebot.

1. Der Bundesgerichtshof hat im Revisionsurteil ausgeführt, dass der Grund der mangelnden Finanzierbarkeit vorliegend nicht bejaht werden kann, da die Beklagte den günstigsten Angebotspreis aus der beschränkten Ausschreibung als letztlich finanzierbar bezeichnet hat und dies nicht ausreicht, um den Anspruch auf entgangenen Gewinn eines Bieters mit einem höheren, aber den vertretbar geschätzten Auftragswert nicht deutlich übersteigenden Preis erfolgreich in Frage zu stellen.

2. Der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil weiter ausgeführt, dass es sich nicht durch allgemeinverbindliche Werte nach Höhe oder Prozentsätzen festlegen lässt, wann ein vertretbar geschätzter Auftragswert so „deutlich“ überschritten ist, dass eine sanktionslose Aufhebung der Ausschreibung nach § 26 Nr.1 c VOB/A a.?F. bzw. § 17 Absatz I Nr. 3 VOB/A n.?F. gerechtfertigt ist. Vielmehr ist eine alle Umstände des Einzelfalls einzubeziehende Interessenabwägung vorzunehmen. Dabei ist davon auszugehen, dass einerseits den öffentlichen Auftraggebern nicht das Risiko einer deutlich überhöhten Preisbildung weit jenseits einer vertretbaren Schätzung der Auftragswerte zugewiesen werden darf, sondern sie in solchen Fällen zur sanktionsfreien Aufhebung des Vergabeverfahrens berechtigt sein müssen, dass andererseits das Institut der Aufhebung des Vergabeverfahrens nicht zu einem für die Vergabestellen latent verfügbaren Instrument zur Korrektur der in öffentlichen Ausschreibungen bzw. offenen Verfahren erzielten Submissionsergebnisse geraten darf. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass diese Vorschrift nach Sinn und Zweck der Regelung eng auszulegen ist und dass auch mit angemessener Sorgfalt durchgeführte Schätzungen nur Prognoseentscheidungen sind, von denen die nachfolgenden Ausschreibungsergebnisse erfahrungsgemäß mitunter nicht unerheblich abweichen. Das Ausschreibungsergebnis muss deshalb in der Regel ganz beträchtlich über dem Schätzungsergebnis liegen, um die Aufhebung zu rechtfertigen (BGH a.a.O.).

Nach Auffassung des Senates kann unter Zugrundelegung der Kostenschätzung der Beklagten nicht festgestellt werden, dass das Angebot der Klägerin ganz beträchtlich über dem Schätzungsergebnis lag.

a) Die von der Klägerin bestrittene und von der Beklagten behauptete Vertretbarkeit der Schätzung bedurfte keiner abschließenden Klärung, da, auch wenn zugunsten der Beklagten angenommen wird, dass die Schätzung ein wirklichkeitsnahes Ergebnis ergeben hat, kein Grund zur Aufhebung bestanden hat. Nur wenn die Beklagte substantiiert vorgetragen hätte, dass die Schätzung überhöht sei und deshalb auf einen geringeren Wert der Leistung abzustellen sei, wäre der angemessene Wert durch ein Sachverständigengutachten zu ermitteln gewesen.

b) Der Senat ist der Auffassung, dass nach den oben genannten Grundsätzen die Differenz von ca.17% unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles keine ganz beträchtliche Abweichung von dem zugrundezulegenden Schätzungsergebnis darstellt.

Der Senat ist der Auffassung, dass bei der Frage, ob wegen einer ganz beträchtlichen Abweichung des Angebots von einer vertretbaren Schätzung auf die Grundsätze, ob ein den Ausschluss eines Angebotes rechtfertigendes Missverhältnis zwischen Leistung und Angebot vorliegt, zurückgegriffen werden kann, da eine vergleichbare Konstellation gegeben ist. Die Frage des Ausschlusses eines Angebotes wegen eines überhöhten Preises stellt sich nur dann ernsthaft, wenn keine weiteren Bieter aufgetreten sind und kommt somit einer Aufhebung gleich. Der Senat kann der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch nicht entnehmen, dass der Bundesgerichtshof zwischen einer ganz beträchtlichen Abweichung und einem unangemessenen hohen Preis wertungsmäßig unterscheiden will. Vielmehr verlangt der Bundesgerichtshofs eine Einzelfallentscheidung und mahnt, dass das Institut der Aufhebung des Vergabeverfahrens nicht zu einem für die Vergabestellen latent verfügbaren Instrument zur Korrektur der in öffentlichen Ausschreibungen bzw. offenen Verfahren erzielten Submissionsergebnisse geraten darf. Aus den Ausführungen ist zu entnehmen, dass nicht alleine auf eine prozentuale Differenz abgestellt werden kann, sondern auch darauf, ob das Instrumentarium nicht missbraucht wird. Diese Gefahr liegt aber dann nahe, wenn die Voraussetzungen des Ausschlusses eines Angebotes wegen eines unangemessen hohen Preises nicht vorliegen.

Es liefe auf eine Korrektur eines unerwünschten Submissionsergebnisses hinaus, wenn ein Angebot nicht wegen eines unangemessenen Preises ausgeschlossen werden kann, d.h. berücksichtigt werden muss, aber die Vergabestelle das Vergabeverfahren dann wegen einer ganz beträchtlichen Abweichung, die unterhalb eines unangemessenen Preises zu anzusetzen wäre, sanktionsfrei aufheben könnte.

Eine Gleichsetzung „ganz beträchtlicher Abstand“ und „unangemessener hoher Preis“ führt auch nicht dazu, dass eine sanktionslose Aufhebung eines Vergabeverfahrens nur dann möglich ist, wenn die Voraussetzung nach § 16 Abs.6 Nr.1 VOB/A gegeben sind, da der Aufhebungsgrund der mangelnden Finanzierbarkeit davon unberührt bleibt.

Selbst wenn eine ganz beträchtliche Abweichung i.S. eines schwerwiegenden Grundes nach § 17 Abs.1 Nr.3 VOB/A und eines unangemessenen hohen Preises i.S. von § 16 Abs.6 Nr.1 VOB/A nicht gleichgesetzt werden könnte, müssen dann nachvollziehbare und gewichtige Gründe ersichtlich sein, die obgleich kein Ausschlussgrund nach § 16 Abs.6 Nr.1 VOB/A besteht, eine Aufhebung wegen einer ganz beträchtlichen Abweichung des Angebots von der Kostenschätzung rechtfertigen.

Nach Auffassung des Senats, liegt erst ab einem Abstand von etwa 20% ein Missverhältnis zwischen dem Wert der Leistung bzw. der Kostenschätzung und dem Angebot i.S. von § 16 Abs.6 Nr.1 VOB/A nahe (OLG Düsseldorf Beschluss vom 25.04.2012 VII-Verg 61/11; OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 30. März 2004, 11 Verg 4/04; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 23. März 2005, VII Verg 77/04). Der Senat vermag vorliegend keine über die prozentuale Differenz besonderen Umstände festzustellen, die eine Aufhebung rechtfertigen könnten. Die rechtswidrige Öffnung eines verspätet eingereichten günstigeren Angebots reicht nicht aus, sondern begründet vielmehr die Vermutung, dass ein unerwünschtes Submissionsergebnis korrigiert werden soll.

Zusammengefasst ist festzustellen, dass die prozentuale Differenz von ca.17% einen unangemessenen Preis noch nicht nahe liegt und weitere durchgreifende Gründe nicht ersichtlich sind, die die Einstufung als ganz beträchtlichen Abstand zwischen Schätzung und Angebot rechtfertigen könnten, so dass die Aufhebungsentscheidung der Beklagten rechtswidrig war.

C. Die Berufung der Beklagten war zurückzuweisen, da - wie ausgeführt – der Klägerin der geltend gemachte Schadensersatzanspruch dem Grunde nach zusteht.

D. Das Verfahren war auf übereinstimmende Anträge der Parteien nach § 538 Abs.2 Nr.4 ZPO an das Landgericht Ingolstadt zurückzuverweisen.

E. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 92, 97, 91a, 101 ZPO.

Insoweit die Parteien die Feststellungswiderklage übereinstimmend für erledigt erklärt haben, war in die Kostenentscheidung eine Quote von ½ zu ½ einzustellen, da völlig offen ist, in welcher Höhe die Klägerin einen entgangenen Gewinn belegen kann.

F. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr.10, 713 ZPO.

G. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO sind nicht gegeben. Dem Rechtsstreit kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu.