LSG der Länder Berlin und Brandenburg, Beschluss vom 11.08.2014 - L 9 KR 64/14 B ER
Fundstelle
openJur 2014, 21124
  • Rkr:
Tenor

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 30. Januar 2014 geändert. Die Antragsgegnerin wird im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, die Antragstellerin für die Zeit vom 11. August 2014 bis zum 11. November 2014 mit dem Arzneimittel Sandostatin LAR 20mg zu versorgen.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die Hälfte der dieser entstandenen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten. Im Übrigen sind keine Kosten zu erstatten.

Gründe

1.) Nach § 155 Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheidet der Vorsitzende über die Beschwerde allein, weil es sich um einen dringenden Fall i.S.d. genannten Vorschrift handelt. Im Hinblick auf die Schwere der Erkrankung der Antragstellerin sowie den mit einem weiteren Zuwarten auf eine Beschwerdeentscheidung verbundenen (vorläufigen ) Rechtsverlust, dass ihr die begehrte Leistung lediglich ab dem Zeitpunkt der Entscheidung des Senats zugesprochen werden kann, ist nunmehr sofort über die Beschwerde zu entscheiden.

2.) Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Die Entscheidung des Sozialgerichts, die Verpflichtung der Antragsgegnerin im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes abzulehnen, die Antragstellerin vorläufig mit dem Arzneimittel Sandostatin LAR 20mg zu versorgen, ist u.a. im Hinblick auf die Vorlage einer ärztlichen Verordnung für das begehrte Arzneimittel im Beschwerdeverfahren zu ändern und die Antragsgegnerin zu der begehrten Leistung für den Zeitraum von drei Monaten zu verpflichten.

3.) Nach § 86b Abs. 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Hierfür muss der Antragsteller grundsätzlich einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund mit der für die Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft machen (vgl. § 86b Abs. 2 Satz 2 und 4 i.V.m § 920 Zivilprozessordnung). Für das Vorliegen des Anordnungsanspruchs sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt (vgl. zum Folgenden insbesondere BSG, Urteil vom 03. Juli 2012, B 1 KR 25/11 R, BSGE 111, 168-177, SozR 4-2500 § 31 Nr. 22, SozR 4-2500 § 19 Nr. 7).

4.) Die Antragstellerin kann zwar nach § 27 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V) die Krankenbehandlung verlangen, die notwendig ist, um ihre polyzystische Lebererkrankung erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst neben der ärztlichen Behandlung u.a. auch die Versorgung der Versicherten mit Arzneimitteln (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V). Das Arzneimittel Sandostatin LAR 20mg ist aber mangels Arzneimittelzulassung für die Erkrankung der Antragstellerin nach den allgemeinen Grundsätzen nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) verordnungsfähig. Es ist auch nicht glaubhaft gemacht, dass die Antragstellerin einen Anspruch auf eine Versorgung nach den Grundsätzen des Off-Label-Use, der grundrechtsorientierten Leistungsausweitung oder des Seltenheitsfalles besitzt.

5.) Die Antragstellerin kann von der Beklagten eine Versorgung mit Sandostatin LAR 20mg nach den allgemeinen Grundsätzen nicht verlangen. Versicherte können die Versorgung mit vertragsärztlich verordneten Fertigarzneimitteln zu Lasten der GKV grundsätzlich ungeachtet weiterer Einschränkungen (vgl. §§ 31, 34 SGB V) nur beanspruchen, wenn eine arzneimittelrechtliche Zulassung für das Indikationsgebiet besteht, in dem sie angewendet werden sollen. Fertigarzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs. 1 Satz 3, § 12 Abs. 1 SGB V) dagegen nicht von der Leistungspflicht der GKV nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3, § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V umfasst, wenn ihnen die erforderliche (§ 21 Abs. 1 Arzneimittelgesetz <AMG>) arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BSGE 96, 153 = SozR 4-2500 § 27 Nr. 7, RdNr 22 m.w.N. - D-Ribose; BSGE 97, 112 = SozR 4-2500 § 31 Nr. 5, RdNr. 15 - Ilomedin; BSG SozR 4-2500 § 31 Nr. 6 RdNr. 9 - restless legs/Cabaseril; BSG SozR 4-2500 § 31 Nr. 15 RdNr. 21 ADHS/Methylphenidat).

So liegt es hier. Das begehrte Fertigarzneimittel Sandostatin LAR 20mg ist zulassungspflichtig. Es ist weder in Deutschland noch EU-weit als Arzneimittel für die Indikation der Behandlung der Zystenleber oder ein übergeordnetes Indikationsgebiet zugelassen, das die genannte Erkrankung mit umfasst. Das ist zwischen den Beteiligten auch nicht umstritten.

6.) Die Antragstellerin kann eine Versorgung mit Sandostatin LAR 20mg auch im Rahmen eines Off-Label-Use zur Behandlung der Zysten ihrer Leber auf Kosten der GKV weder nach § 35c SGB V noch nach allgemeinen Grundsätzen der Rechtsprechung beanspruchen. Für einen Anspruch aus § 35c SGB V liegt nichts vor. Entsprechend dem Rechtsgedanken der heute geltenden Anmerkung zu Abschnitt K Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL) bleiben die allgemeinen, vom BSG entwickelten Grundsätze für einen Off-Label-Use zu Lasten der GKV unberührt, wenn - wie hier - ein nicht in der AM-RL geregelter Off-Label-Use betroffen ist (vgl. BSG Urteil vom 8.11.2011 - B 1 KR 19/10 R - juris RdNr 16, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen).

7.) Die nach diesen Grundsätzen erforderlichen Voraussetzungen sind ebenfalls nicht erfüllt. Ein Off-Label-Use kommt danach nur in Betracht, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Therapie verfügbar ist und wenn 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann (vgl. z.B. BSGE 97, 112 = SozR 4-2500 § 31 Nr. 5, RdNr. 17 f. - Ilomedin; BSG, Urteil vom 8.11.2011, B 1 KR 19/10 R, juris). Abzustellen ist dabei auf die im jeweiligen Zeitpunkt der Behandlung vorliegenden Erkenntnisse (vgl. BSGE 95, 132 RdNr 20 = SozR 4-2500 § 31 Nr. 3 RdNr. 27 m.w.N. - Wobe-Mugos E; im Falle des Systemversagens BSG SozR 4-2500 § 27 Nr. 10 RdNr. 24 m.w.N. - Neuropsychologische Therapie).

Ob eine aufgrund der Datenlage begründete Erfolgsaussicht besteht, ist hier äußerst zweifelhaft und steht damit nicht mit der für eine stattgebende Entscheidung erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit fest. Von hinreichenden Erfolgsaussichten im dargelegten Sinne ist nur dann auszugehen, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das betroffene Arzneimittel für die relevante Indikation zugelassen werden kann. Es müssen also Erkenntnisse in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sein und einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen (vgl. z.B. BSGE 97, 112 = SozR 4-2500 § 31 Nr. 5, RdNr. 17 f. - Ilomedin; BSG, Urteil vom 8.11.2011, B 1 KR 19/10 R, juris). Das Vorliegen dieser Voraussetzung hat das Sozialgericht auf Grund der Stellungnahme des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) mit einer zumindest nachvollziehbaren Argumentation verneint; es bedarf jedenfalls weiterer Ermittlungen im Hauptsacheverfahren, ob den von den die Antragstellerin behandelnden Ärzten der Charité angegebenen Studien zu geringe Patientenzahlen und eine zu kurze Studiendauer zu Grunde lagen, um daraus hinreichende Erkenntnisse über die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Anwendung von Somatostatinanaloga in der streitgegenständlichen Indikation zu gewinnen. Bis dahin ist auch nach Auffassung des Senats die oben näher umschriebene Voraussetzung für einen Off-Label-Use zu Lasten der GKV nicht erfüllt.

8.) Die Antragstellerin kann Sandostatin LAR 20 mg auch nach den Grundsätzen einer grundrechtsorientierten Leistungsauslegung zu Lasten der Antragsgegnerin nicht verlangen. Eine grundrechtsorientierte Leistungsauslegung setzt u.a. zumindest voraus, dass Versicherte an einer Krankheit leiden, die mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung wertungsmäßig vergleichbar ist (vgl. z.B. BSGE 96, 153 = SozR 4-2500 § 27 Nr. 7, RdNr. 31 - D-Ribose; BSG SozR 4-2500 § 27 Nr. 16 m.w.N.; vgl. nunmehr auch § 2 Abs. 1a SGB V i.d.F. durch Art 1 Nr. 1 des GKV-VStG vom 22.12.2011, BGBl I 2983). Hierzu zählt etwa der Fall einer drohenden Erblindung (vgl. BSGE 106, 81 = SozR 4-1500 § 109 Nr. 3, RdNr. 31 m.w.N.), nicht aber eine Krankheit unterhalb dieser Schwelle. An einer so weitgehenden Betroffenheit der Antragstellerin fehlt es hier u.a. deshalb, weil die Funktion der Leber nach den Angaben der behandelnden Ärzte völlig normal ist. 9.) Die Antragstellerin kann Sandostatin LAR 20mg auch nach den Grundsätzen eines Seltenheitsfalles nicht beanspruchen. Danach steht einem Versicherten eine Anspruch auf die Versorgung mit einem Arzneimittel zu, wenn das Mittel zur Behandlung einer einzigartigen Krankheit in einer außergewöhnlichen medizinischen Situation auf diesem Wege legal zu beschaffen ist (BSGE 93, 236 = SozR 4-2500 § 27 Nr. 1, RdNr. 23 ff - Visudyne). Hierzu darf das festgestellte Krankheitsbild aufgrund seiner Singularität medizinisch nicht erforschbar sein (vgl. auch BSG, Urteil vom 8.11.2011, B 1 KR 20/10 R, juris). Allein geringe Patientenzahlen stehen einer wissenschaftlichen Erforschung nicht entgegen, wenn etwa die Ähnlichkeit zu weit verbreiteten Erkrankungen eine wissenschaftliche Erforschung ermöglicht (BSGE 93, 236 = SozR 4-2500 § 27 Nr. 1, RdNr. 31 - Visudyne). Das gilt erst recht, wenn - trotz der Seltenheit der Erkrankung - die Krankheitsursache oder Wirkmechanismen der bei ihr auftretenden Symptomatik wissenschaftlich klärungsfähig sind, deren Kenntnis der Verwirklichung eines der in § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V genannten Ziele der Krankenbehandlung dienen kann. Die Art möglicher wissenschaftlicher Studien über den Nutzen eines Arzneimittels spiegelt sich u.a. wider - geordnet nach den Stufen erreichbarer Evidenz im Rahmen der heute gesetzlich gebotenen Bewertung des therapeutischen Nutzens - im 4. Kapitel in § 7 Verfahrensordnung des GBA (VerfO). Im vorliegenden Fall scheitert die Begründung einer Leistungspflicht selbst im vorläufigen Rechtsschutzverfahren daran, dass bereits wissenschaftliche Studien vorliegen, die sich mit dem Einsatz des streitbefangenen Arzneimittels bei Vorliegen einer Zystenleber beschäftigen, wie das Sozialgericht zutreffend ausgeführt hat.

10.) Die Sozialgerichte dürfen sich bei der Prüfung des Anordnungsanspruchs in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, in denen Leistungsansprüche eines Versicherten gegen eine gesetzliche Krankenkasse streitig sind, nicht schlechthin auf die summarische Prüfung der Erfolgsaussichten eines Rechtsbehelfes im Hauptsacheverfahren beschränken. Drohen dem Versicherten ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre, verlangt Art. 19 Abs. 4 S.1 GG von den Sozialgerichten bei der Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache grundsätzlich eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage, die sich von der im Hauptsacheverfahren nicht unterscheidet (vgl. BVerfGE 79, 69 <74>; 94, 166 <216>; NJW 2003,1236f.). Sind die Sozialgerichte durch eine Vielzahl von anhängigen entscheidungsreifen Rechtsstreitigkeiten belastet oder besteht die Gefahr, dass die dem vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu Grunde liegende Beeinträchtigung des Lebens, der Gesundheit oder der körperlichen Unversehrtheit des Versicherten sich jederzeit verwirklichen kann, verbieten sich zeitraubende Ermittlungen im vorläufigen Rechtsschutzverfahren; in diesem Fall, der in der Regel vorliegen wird, hat sich die Entscheidung an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen zu orientieren ( BVerfG NJW 2003, 1236f.). Dabei ist in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 32 Bundesverfassungsgerichtsgesetz eine Folgenabwägung vorzunehmen, bei der die Erwägung, wie die Entscheidung in der Hauptsache ausfallen wird, regelmäßig außer Betracht zu bleiben hat. Abzuwägen sind stattdessen die Folgen, die eintreten würden, wenn die Anordnung nicht erginge, obwohl dem Versicherten die streitbefangene Leistung zusteht, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte Anordnung erlassen würde, obwohl er hierauf keinen Anspruch hat (vgl. hierzu Umbach/Clemens, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Mitarbeiterkommentar und Handbuch, § 32 RdNr. 177 mit umfassendem Nachweis zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. NZS 2000, 510 ff.). Hierbei ist insbesondere die in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG durch den Verfassungsgeber getroffene objektive Wertentscheidung zu berücksichtigen. Danach haben alle staatlichen Organe die Pflicht, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Lebens, der Gesundheit und der körperlichen Unversehrtheit zu stellen (vgl. BVerfGE 56, 54 <73>). Für das vorläufige Rechtsschutzverfahren vor den Sozialgerichten bedeutet dies, dass diese die Grundrechte der Versicherten auf Leben, Gesundheit und körperliche Unversehrtheit zur Geltung zu bringen haben, ohne dabei die ebenfalls der Sicherung des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG dienende Pflicht der gesetzlichen Krankenkassen (vgl. insbesondere aus §§ 1, 2 Abs. 1 und 4 SGB V), ihren Versicherten nur wirksame und hinsichtlich der Nebenwirkungen unbedenkliche Leistungen zur Verfügung zu stellen, sowie die verfassungsrechtlich besonders geschützte finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung ( vgl. BVerfGE 68, 193 < 218>) aus den Augen zu verlieren. Besteht die Gefahr, dass der Versicherte ohne die Gewährung der umstrittenen Leistung vor Beendigung des Hauptsacheverfahrens stirbt oder er schwere oder irreversible gesundheitliche Beeinträchtigungen erleidet, ist ihm die begehrte Leistung regelmäßig zu gewähren, wenn das Gericht nicht auf Grund eindeutiger Erkenntnisse davon überzeugt ist, dass die begehrte Leistung unwirksam oder medizinisch nicht indiziert ist oder ihr Einsatz mit dem Risiko behaftetet ist, die abzuwendende Gefahr durch die Nebenwirkungen der Behandlung auf andere Weise zu verwirklichen. Besteht die Beeinträchtigung des Versicherten dagegen im Wesentlichen nur darin, dass er die begehrte Leistung zu einem späteren Zeitpunkt erhält, ohne dass sie dadurch für ihn grundsätzlich an Wert verliert, weil die Beeinträchtigung der in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG genannten Rechtsgüter durch eine spätere Leistungsgewährung beseitigt werden kann, dürfen die Sozialgerichte die begehrte Leistung im Rahmen der Folgenabwägung versagen. Nur durch eine an diesen Grundsätzen orientierte Vorgehensweise bei der Folgeabwägung wird dem vom Gesetzgeber in allen Prozessordnungen vorgesehenen Vorrang des nachgehenden Rechtsschutzes vor dem vorläufigen Rechtsschutz, sowie dem sich aus Art. 20 Abs. 3 GG abzuleitenden Grundsatz Rechnung getragen, dass die Leistungsgewährung vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens die Ausnahme und nicht die Regel sein soll (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. zuletzt: Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10. Februar 2014, L 9 KR 293/13 B ER, juris).

11.) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze steht der Antragstellerin bei einer Folgenabwägung ein Anspruch auf die Versorgung mit dem begehrten Arzneimittel zu. Dabei lässt sich der Senat von folgenden Überlegungen leiten: Die Erkrankung der Antragstellerin ist schwerwiegend, weil sie ihre Lebensqualität erheblich belastet. Sie leidet nach ihrem durch ärztliche Atteste der Charité – Centrum für Innere Medizin mit Kardio-, Gastroentero-, Nephrologie (medizinische Klinik mit Schwerpunkt Hepatologie und Gastroenterologie) bestätigten Vorbringen unter ständiger Übelkeit, Sodbrennen, Erbrechen, Atemnot und erheblichen Schmerzen, abwechselnden Durchfällen und Verstopfungen, die durch die stark vergrößerte Leber und ihre Raumforderung verursacht werden und ein normales Leben nicht mehr möglich machen. Die polyzystische Lebererkrankung hat bei der Antragstellerin zahlreiche Operationen erforderlich gemacht, ohne dass ihr dadurch dauerhaft und effektiv geholfen werden konnte; die behandelnden Ärzte halten deshalb die vom MDK empfohlenen chirurgischen Maßnahmen vor allem im Hinblick auf den bestehenden Zustand nach mehreren Abdominaloperationen mit Adhäsiolysen und Wundheilungsstörungen nach Bauchdeckenabszess mit Sekundärnaht für nicht mehr indiziert. Es liegen - wie bereits dargestellt - mehrere randomisierte, doppelverblindete und placebokontrollierte Studien vor, die Erfolge bei der Behandlung der polyzystischen Lebererkrankung mit dem streitbefangenen Arzneimittel nahelegen und für die ohne weitere zeitraubende ärztliche Ermittlungen unklar bleibt, ob sie den Anspruch der Antragstellerin im Rahmen eines Off-Label-Use begründen. Bei dieser Sachlage erscheint es vor dem hohen Wert der betroffenen Grundrechte der Antragstellerin ohne vollständige Prüfung ihres Anspruchs nicht hinnehmbar, sie auf den Ausgang des - durchaus erfolgversprechend erscheinenden - Hauptsacheverfahrens zu verweisen und sie möglicherweise über Jahre hinweg weiterhin erheblichen Schmerzen und weiteren gravierenden Beschwerden auszusetzen, obwohl das Krankheitsbild die behandelnden Ärzte schon zu Überlegungen zu einer derzeit noch abgelehnten Lebertransplantation als ultima ratio der möglichen Behandlungen veranlasst haben. Demgegenüber stehen hier ausschließlich finanzielle Interessen der Antragsgegnerin, die sowohl im Hinblick auf die relativ seltene Erkrankung als auch die Höhe der Arzneimittelkosten mit 2.952,00 € im Monat in ihrer Bedeutung hinter den Interessen der Antragstellerin zurückbleiben, vor allem wenn in Rechnung gestellt wird, dass der Senat nur eine relativ kurz befristete Verpflichtung der Antragsgegnerin ausgesprochen hat, die eine Überprüfung des Erfolgs der hier streitigen Maßnahme ohne weiteres möglich macht.

12.) Dem Senat erschien eine Befristung der Verpflichtung der Antragsgegnerin auf drei Monate im vorläufigen Rechtsschutzverfahren im Hinblick auf den medizinisch noch nicht geklärten Erfolg der begehrten und zugesprochenen Behandlung geboten, um es der Antragsgegnerin zu ermöglichen, ihre Bemühungen um eine Feststellung der Indikation fortsetzen sowie die Ergebnisse der Behandlung der Erkrankung der Antragstellerin unter Kontrolle halten zu können und dadurch den Vorbehalt einer Überprüfung ihres Anspruchs auf die begehrte Arzneimitteltherapie im Hauptsacheverfahren nicht leerlaufen zu lassen. Darüber hinaus ist die Kürze der Frist auch dadurch bedingt, dass der Vorsitzende des Senats hier eine Dringlichkeitsentscheidung getroffen hat. Dies bedeutet nicht, dass in dem der Befristung folgenden Zeitraum eine weitere Versorgung mit Sandostatin LAR 20mg nicht mehr gewährt werden muss. Hat ein Sozialgericht im Wege einstweiliger Anordnung eine Leistung zugesprochen und haben sich die Verhältnisse nach Überprüfung durch die behandelnden Ärzte nicht geändert oder hat sich im Falle einer Arzneimitteltherapie gar ein Erfolg eingestellt, muss die Leistung weiter gewährt werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens selbst.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).

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