AG Gießen, Beschluss vom 21.03.2014 - 241 F 352/14
Fundstelle
openJur 2014, 20846
  • Rkr:
Tenor

I. Die Vormundschaft über den Minderjährigen „…“ wird angeordnet

II. Das Jugendamt „…“ wird zum Vormund bestellt

III. Die Bestellung einer Mitvormundschaft mit dem Wirkungskreis ausländer- und asylrechtliche Angelegenheiten wird abgelehnt.

IV. Von der Erhebung von Kosten wird abgesehen.

V. Der Verfahrenswert wird auf 3000,-€ festgesetzt

Gründe

Das Amtsgericht - Familiengericht - Gießen ist für die Anordnung der Vormundschaft sachlich (§§ 111 Nr. 2, 151 Nr. 4 FamFG), örtlich (§ 152 Abs. 3 FamFG) und international (Art 1, 6 KSÜ) zuständig, da der- sowohl nach eritreischem auch nach deutschem Recht noch Minderjährige seinen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hat. Die Vormundschaft über den Minderjährigen war gemäß Art 15 KSÜ, § 1773 BGB anzuordnen, da der Kindervater verstorben ist und die Kindesmutter, der das Sorgerecht grundsätzlich zusteht, in der Ausübung der elterlichen Sorge ausscheidet bzw. das Amtsgericht - Familiengericht - Gießen mit Beschluss vom 19.2.2014 (241 F 1171/14 SO) das Ruhen der elterlichen Sorge festgestellt hat.

Zum Vormund war gemäß Art 15 KSÜ, § 1791 b BGB das Jugendamt „…“ zu bestellen, nachdem die Eltern des Minderjährigen keine Bestimmung über den Vormund getroffen haben und eine als Einzelvormund geeignete Person nicht vorhanden ist. Das Jugendamt „…“ hat sich mit der Übernahme des Amtes einverstanden erklärt. Die Beteiligten wurden 17.3.2014 angehört. Einwendungen gegen die Bestellung des Jugendamtes „…“ wurden nicht erhoben.

Ein weiterer Vormund mit dem Wirkungskreis der Vertretung des/der Minderjährigen in asyl- und ausländerrechtlichen Angelegenheiten war daneben nicht zu bestellen. Entgegen der Auffassung des OLG Frankfurt am Main (Beschluss vom 28.01.2014 Az. 6 UF 289/13) sieht die erkennende Richterin keine besonderen Gründe, die vorliegend, abweichend von dem Grundsatz der Einzelvormundschaft, die Bestellung eines Mitvormundes gemäß § 1775 BGB rechtfertigen(§ 1775 S. 2 BGB).

Allein die Behauptung des Jugendamtes „…“ nicht über die erforderliche Sachkunde und Qualifikation für den o .g. Wirkungskreis zu verfügen sowie der Hinweis auf die Finanzlage der „…“, die es nicht zulasse, versierte Anwälte für den Bereich der Vertretung der Minderjährigen in asyl- und ausländerrechtlichen Angelegenheiten einzustellen, rechtfertigt die Anordnung einer Mitvormundschaft nicht (vgl. OLG Ffm, Beschluss vom 2.12.2013, 5 UF 310/13; a.A. OLG Ffm, Beschluss vom 28.1.2014, 6 UF 289/13).

Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus Art 6 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO) sowie Art 25 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und Rates vom 26.06.2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (EU Verfahrens RL) und/oder Art 24 der Richtlinie 2013/33/EU Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (EU Aufnahme- RL).

Gemäß Art 6 (2) Dublin III-VO ist von den Mitgliedstaaten dafür, zu sorgen, "dass ein unbegleiteter Minderjähriger in allen Verfahren, die in dieser Verordnung vorgesehen sind, von einem Vertreter vertreten und/oder unterstützt wird. Der Vertreter verfügt über die entsprechenden Qualifikationen und Fachkenntnisse, um zu gewährleisten, dass dem Wohl des Minderjährigen während der nach dieser Verordnung durchgeführten Verfahren Rechnung getragen wird." Auch nach der Definition in Art 2 lit. k Dublin III-VO ist ein Vertreter eine Person oder Organisation, die von den zuständigen Behörden zur Unterstützung und Vertretung des unbegleiteten Minderjährigen in Verfahren nach Maßgabe der Verordnung bestellt wurde, um das Wohl des Kindes zu wahren und soweit erforderlich, Rechtshandlungen vorzunehmen.

Die Verordnung geht nach ihrem Wortlaut nicht davon aus davon aus, dass der dem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling zur Seite gestellte Vertreter Jurist ist und selbst über spezielle Länder- sowie Fachkenntnisse verfügt, um eine optimale rechtliche Vertretung und den erfolgreichen Abschluss des Asyl- und/oder ausländerrechtlichen Verfahrens zu gewährleisten, vielmehr soll der Vertreter gewährleisten, dass dem Wohl des Minderjährigen während des asyl- und ausländerrechtlichen Verfahrens Rechnung getragen wird. Die Wahrung des Kindeswohls sollte jedenfalls zu den Kernkompetenzen des Jugendamtes als Amtsvormund gehören.

Die Bestellung eines Juristen/ einer Juristin zum Mitvormund für asyl- und ausländerrechtliche Angelegenheiten ergibt sich auch nicht aus Art 24 und Art 2 Lit. j) der EU Aufnahme RL sowie Art 25 und Art 2 lit n) der EU Verfahrens RL, unabhängig davon, dass deren Umsetzungsfrist (Art 31 Aufnahme RL; Art 51 Verfahrens RL, spätestens 20.7.2015) noch nicht abgelaufen ist. Nach Art 24 Aufnahme-RL muss der Vertreter seine Aufgaben im Einklang mit dem Kindeswohl wahrnehmen und "entsprechend versiert" sein, um das Wohlergehen und die soziale Entwicklung des Minderjährigen gemäß Art 23 der RL (nicht aber ein erfolgreiches Asylverfahren) zu gewährleisten. In Art 25 (1) a der Verfahrens RL ist ein Vertreter zu bestellen, der seine Aufgaben im Interesse des Kindeswohls wahrnimmt und auch bei der Anhörung des Minderjährigen soll nach Art 25 Abs. 2 alternativ "ein Vertreter und/oder ein Rechtsanwalt ... " für den Minderjährigen anwesend sein. Erst im Rechtsbehelfsverfahren muss der Vertreter des Minderjährigen nach nationalem Recht über eine juristische Qualifikation verfügen, Art 25 (6) lit. d), Art 20 Verfahrens RL. Von der Vertreterbestellung kann sogar völlig abgesehen werden, wenn der unbegleitete Minderjährige vor der erstinstanzlichen Entscheidung das 18. Lebensjahr vollenden wird (Art 25 (2) Verfahrens RL). Schließlich ergibt sich auch aus Art 25 (4), Art 19, 21 Verfahrens RL, dass zwischen der Vertreter nicht personenidentisch mit dem Rechtsberater des Minderjährigen sein muss.

Dementsprechend geht auch der Bundesgerichtshof davon aus, dass die sich aus den vorstehend genannten europäischen Normen ergebende Notwendigkeit der sachkundigen Vertretung des unbegleiteten Minderjährigen durch das Jugendamt als Vormund grundsätzlich gewährleistet ist (vgl. Beschluss vom 04.12.2013, XII ZB 57/13, Rdnr. 9). Damit scheidet die Anordnung einer Mitvormundschaft ebenso wie die Einrichtung einer Ergänzungspflegschaft aus.

Dies gilt erst Recht unter dem Gesichtspunkt, dass bis zur Umsetzung der Richtlinien die Rechts- und Verwaltungsvorschriften nach Maßgabe der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1.12.2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedsstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft gelten (Art 49 letzter Absatz Dublin III-VO; Art 32 Aufnahme RL, Art 52 Verfahrens RL), die bisher schon in Art 17 Abs. 1 11. a und b vorsieht, dass die Mitgliedstaaten Maßnahmen ergreifen müssen, die gewährleisten, dass für unbegleitete Minderjährige ein Vertreter bestellt wird, der ihn bei der Prüfung des Asylantrages vertritt und unterstützt und ihn über Bedeutung und Vorbereitung seiner persönlichen Anhörung aufklären kann. Die Bestellung des Jugendamtes als Amtsvormund wird diesen Anforderungen nach der Rechtsprechung des OLG Frankfurt am Main (Beschluss vom 2.12.2013,5 UF 310/13) gerecht.

Durch die Bestellung des Amtsvormundes als Einzelvormund ist auch die mit der EU Verfahrens RL 2013J32/EU verfolgte Zielsetzung ist nicht gefährdet, so dass - unabhängig davon, dass eine anwaltliche Vertretung des/der Minderjährigen nicht vorgeschrieben ist - eine Bindungswirkung der O.g. Richtlinien 2013J32/EU und 2013f33/EU bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist nicht eingetreten ist (vgl. OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 2.12.2013, 5 UF 310/13, S. 7).

Hauptziel der EU-Richtlinie ist nicht die optimale anwaltliche Vertretung des/ der Minderjährigen in asyl- und ausländerrechtlichen Verfahren, um einen erfolgreichen Abschluss des Verfahrens zu gewährleisten, sondern die Weiterentwicklung der Normen für Verfahren in Mitgliedsstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung internationalen Schutzes im Hinblick auf die Einführung eines gemeinsamen Asylverfahrens in der Union (vgl. Gründe (12)) und die angemessene Unterstützung Minderjähriger unter Berücksichtigung des Kindeswohl in den Verfahren (Gründe (29) und (33)),

Es besteht auch keine Veranlassung, im konkreten Einzelfall von dem Grundsatz des Einzelvormundes abzuweichen und einen Rechtsanwalt! eine Rechtsanwältin für die Vertretung des Minderjährigen für die Vertretung in asyl- und ausländerrechtlichen Angelegenheiten zu bestellen.

Allein die Behauptung des Jugendamtes „…“, nicht über die erforderliche Sachkunde und Qualifikation zu verfügen und keine speziell für asyl- und ausländerrechtliche Angelegenheiten ausgebildeten Juristen als Amtsvormünder zu beschäftigen, wird als nicht ausreichend erachtet (vgl. auch OLG Ffm, Beschluss vom 2.12.2013,5 UF 310/13). Vorstehend wurde bereits ausgeführt, dass für die Vertretung des Minderjährigen auch im Rahmen der Dublin III VO nicht Voraussetzung ist, dass der Vertreter über eine juristische Ausbildung und spezielle Kenntnisse im Asyl- und Ausländerrecht verfügt. Konkrete und nachvollziehbare Anhaltspunkte dafür, dass die als Amtsvormund tätigen Mitarbeiter des Jugendamtes „…“ trotz der jahrelangen Betreuung unbegleitet eingereister Minderjähriger und des seit Jahren existierenden Clearingverfahrens (noch immer) nicht über die entsprechende Qualifikation und Fachkenntnisse verfügen, den Minderjährigen bei den Anhörungen in den ausländerrechtlichen Verfahren zu begleiten und ihn zu unterstützen, gegebenenfalls einen Rechtsanwalt zu beauftragen, sind nicht hinreichend erkennbar. Es bleibt bereits offen, inwieweit der Amtsvormund bisher überhaupt schon versucht hat, unter Ausschöpfung aller ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen, sich in eine für ihn nicht alltägliche Rechtsmaterie, hier das Asylverfahrens- und Ausländerrecht für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, einzuarbeiten. Hierzu wäre er bereits durch den Erlass vom 17.6.2008 über die Unterbringung, Versorgung, Verteilung von unbegleiteten minderjährigen asylsuchenden Flüchtlingen unter 18 Jahren in Hessen (Staatsanzeiger vom 4.8.2008, Nr. 32, S. 2056 f) verpflichtet gewesen, der vorsieht, dass der Vormund für junge Menschen, die das 16. Lebensjahr vollendet haben, die Vertretung im der asyl- und aufenthaltsrechtlichen Bereich wahrnimmt, insbesondere das Vorliegen asylrelevanter Gründe klärt, die Entscheidung trifft, ob ein Asylantrag gestellt werden soll, etc. (II 2.). Ein Ergänzungspfleger soll danach dem Gericht nur für Minderjährige vorgeschlagen werden, die unter 16 Jahre alt sind.

Zudem ist und war der Vormund auch nach § 80 Abs. 4 AufenthG verpflichtet, für ausländische Minderjährige unter 16 Jahren die erforderlichen Anträge auf Erteilung und Verlängerung des Aufenthaltstitels, eines Passes und eines Ausweisersatzes zu stellen. Der Minderjährige verfügt vorliegend auch bereits über eine Duldung.

Entsprechend § 80 Abs. 1 AufenthG bleibt es zudem auch nach Art 7 (3) und (5 lit a) der Verfahrens RL 2013/32/EU den Mitgliedstaaten vorbehalten, die Verfahrensfähigkeit abweichend von der Volljährigkeit zu regeln und den Antrag eines Minderjährigen im eigenen Namen zuzulassen. Wenn aber auch weiterhin ein Minderjähriger als fähig angesehen wird, ein Verfahren im eigenen Namen zu führen, dann gilt dies erst Recht für den Amtsvormund, der sich die die erforderliche Sachkunde gegebenenfalls verschaffen muss.

Es ist derzeit nicht nachvollziehbar, dass und aus welchen Gründen der Amtsvormund trotz entsprechender intensiver Bemühungen dazu nicht in der Lage (gewesen) sein soll.

Es wird grundsätzlich nicht als Aufgabe der Justiz angesehen, durch das Instrument der Mitvormundschaft das Recht des Minderjährigen auf Bestellung eines qualifizierten Vertreters zu gewährleisten. Vielmehr dürfte es Aufgabe der Exekutive sein, zukünftig für die notwendige Ausstattung der Jugendämter mit entsprechend qualifiziertem Personal zu sorgen (vgl. auch OLG Frankfurt, Beschluss vom 2.12.2013, 5 UF 310/13).

Ebenso wenig stellt die angespannte finanzielle Lage der „..:“ einen besonderen Grund i.S.v. § 1775 S. 2 BGB dar, der die Bestellung eines Rechtsanwaltes/ einer Rechtsanwältin zum Mitvormund für den Wirkungskreis asyl- und ausländerrechtliche Angelegenheiten rechtfertigt, zumal weder mit einer deutlichen Verbesserung der Finanzlage der „…“ noch damit zu rechnen sein dürfte, dass künftig eventuell zur Verfügung stehende finanzielle Mittel zur Aufstockung des Personals im Jugendamt verwendet werden. Es ist nicht die Aufgabe des Gerichts, die Stadtkasse zu Lasten der Landeskasse zu "schonen" bzw. auszugleichen.

Im Ergebnis war die Anordnung der Mitvormundschaft für die Vertretung des Minderjährigen in asyl- und ausländerrechtlichen Angelegenheiten daher abzulehnen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 S. 2 FamFG

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