LSG der Länder Berlin und Brandenburg, Urteil vom 08.07.2010 - L 13 VG 25/07
Fundstelle
openJur 2014, 17839
  • Rkr:
Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 5. Dezember 2007 geändert.

Der Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 15. April 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Februar 2004 verpflichtet, der Klägerin für den Zeitraum vom 1. August 2001 bis zum 30. November 2002 eine Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 sowie für die Zeit ab 1. August 2001 Heilbehandlung für die komplexe posttraumatische Belastungsstörung zu gewähren.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu 1/4 zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darum, ob der Klägerin Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu gewähren ist.

Die 1968 geborene Klägerin beantragte im August 2001 bei dem Versorgungsamt II Berlin Entschädigungsleistungen nach dem OEG: Aufgrund sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater und dessen (inzwischen verstorbenen) Freund in der Zeit von 1975 bis 1988 leide sie unter psychischen Störungen und psychosomatischen Erkrankungen.

Zuständigkeitshalber wurde der Antrag an den Beklagten weitergeleitet. Dieser holte verschiedene Berichte der die Klägerin behandelnden Ärzte und Kliniken ein: Die Klägerin hatte sich im Juni 2000 in die Behandlung des Nervenarztes Dr. H begeben. Im August 2000 hatte sie sich einer ambulanten Psychotherapie bei dem Facharzt für Psychotherapeutische Medizin Dr. M unterzogen. Wegen zunehmender Verunsicherung mit Ängsten, depressiver Verstimmung, Schuldgefühlen und dem wiederkehrenden Gefühl, sich fremd zu sein, hatte die Klägerin sich von Oktober bis Dezember 2000 in stationärer Behandlung im Gemeinschaftskrankenhaus H befunden. Im Februar 2001 hatte sie sich in die allgemeinmedizinisch-homöopathische Behandlung des Dr. J begeben, der im Befundbericht vom 8. August 2002 mitteilte, dass die Klägerin von einem sexuellen Missbrauch durch ihren Vater berichtet habe. In der Anamnese der W-Klinik vom 18. Juni 2001, in deren Abteilung Psychosomatik/Psychotherapie sie von März bis Mai 2001 zur stationären Rehabilitation aufgenommen worden war, ist insbesondere ausgeführt: Die sexuellen Übergriffe des Vaters hätten nach der Trennung der Eltern begonnen. Als die Klägerin die Schule abgeschlossen habe, sei sie in einem landwirtschaftlichen Betrieb zur Ausbildung untergebracht gewesen, wo sie der sexuellen Traumatisierung ihres Vorgesetzten und seiner beiden Söhne ausgesetzt gewesen sei. Die Klägerin quäle sich mit Selbstvorwürfen, weil die Übergriffe seitens des Vaters erst relativ spät stattgefunden hätten – seinerzeit sei sie 17 Jahre alt gewesen – und sie dem Vater keine bzw. nicht rechtzeitig Grenzen gesetzt habe. Dr. M berichtete im Arztbrief vom 28. August 2002, dass seit der stationären Behandlung im Jahr 2001 mehr und mehr Erinnerungen aufgetaucht seien, die darauf hinwiesen, dass es sexuelle Traumatisierungen vermutlich auch in früher Kindheit, d.h. im fünften/sechsten Lebensjahr, gegeben habe. Von September bis November 2002 hielt die Klägerin sich erneut in der Abteilung Psychosomatik/Psychotherapie W-Klinik zur stationären Rehabilitation auf.

Zu dem Missbrauch während ihrer Ausbildung wollte die Klägerin gegenüber dem Beklagten keine Angaben machen wolle, da dies sie zu sehr belasten würde. Zu der Frage nach der Art der übrigen sexuellen Tathandlungen führte sie aus, dass es mit ihrem Vater zu keinem Geschlechtsverkehr, sondern nur zur Befriedigung mit der Hand gekommen sei. Hinsichtlich des Freundes ihres Vaters seien keine klaren Erinnerungen vorhanden, da diese Vorgänge weit zurück lägen. Der von dem Versorgungsamt hierzu befragte Vater der Klägerin wies deren Vorwürfe zurück.

Der Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 15. April 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Februar 2004 mit der Begründung ab, die von der Klägerin behaupteten sexuellen Übergriffe seien nicht nachgewiesen.

Mit ihrer Klage vor dem Sozialgericht München hat die Klägerin Versorgung nach dem OEG begehrt. Unter Vorlage privater Korrespondenz ihrer Familie hat sie ihr Vorbringen wiederholt und vertieft. Das Sozialgericht Berlin, an welches der Rechtsstreit verwiesen worden ist, hat Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte, insbesondere des Allgemeinmediziners Dr. J vom 25. November 2004 über die Behandlungen von Februar 2001 bis Oktober 2002, des Nervenarztes Dr. H über die Behandlungen von Juni 2000 bis Februar 2005 mit Ergänzung vom 11. April 2005 und des Facharztes für psychotherapeutische Medizin Dr. M vom 2. Februar 2005 über die Behandlungen von August 2000 bis Februar 2005.

Mit Urteil vom 5. Dezember 2006 hat das Sozialgericht die Klage als unbegründet abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass jeglicher substantiierter Vortrag fehle, auf welche Weise der Vater die körperliche Integrität der Klägerin rechtswidrig verletzt haben sollte.

Gegen das Urteil hat die Klägerin Berufung eingelegt, mit der sie unter Beibringung weiteren Schriftverkehrs zunächst ihr Begehren weiterverfolgt hat. Mit Schriftsatz vom 24. August 2009 hat sie ihre Ansprüche auf folgende Vorfälle beschränkt:

- 1972/1973 habe sie sich mit ihrem sechsjährigen Bruder und ihrem Vater in der Badewanne befunden. Sie erinnere sich, dass das erigierte Glied des Vaters aus dem Badeschaum herausgeragt habe. Der Vater habe sie mehrfach ermuntert, das „Ding“ anzufassen, was sie auch getan habe. Sie habe die leuchtenden Augen ihres Vaters gesehen.

- 1975/1976 habe sie mit ihrem Vater die Wohnung dessen Freundes in München besucht. Sie erinnere sich, dass sie sich mit beiden Männern im Badezimmer befunden habe. Ihr sei eine Waffe oder Waffenattrappe an den Kopf gehalten worden. Der Vater habe sein Glied in ihren Mund gesteckt und ejakuliert.

- Ca. 1975/1976 habe sie sich im Badezimmer der Wohnung des Freundes ihres Vaters ausziehen und mit gespreizten Beinen auf den Badewannenrand setzen müssen. Ihr Vater und dessen Freund hätten sich abgewechselt, mit einem Finger in ihre Scheide einzudringen, was ihr Schmerzen bereitet habe.

Der Senat hat versucht, Beweis über den sexuellen Missbrauch der Klägerin in den Jahren 1972/1973 und 1975/1976 durch die zeugenschaftliche Vernehmung ihres Vaters, ihrer Mutter und ihres Bruders zu erheben, jedoch haben die Genannten von ihrem Recht, das Zeugnis zu verweigern, Gebrauch gemacht.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 3. Dezember 2009 hat die Klägerin auf Befragen des Senats zu den Vorgängen erklärt: Als sie drei Jahre alt gewesen sei, habe sie gemeinsam mit ihrem Vater und ihrem Bruder in der Badewanne gebadet. Ihr Vater habe sie auf ein erigiertes Glied hingewiesen und sie aufgefordert, es anzufassen. Über ihre unmittelbare emotionale Reaktion könne sie nichts sagen. Sie spüre aber noch genau, wie sie das Glied angefasst habe. Sie sehe das Gesicht ihres Vaters noch genau vor sich. Es sei ein sehr freches und unverschämtes, hämisches Grinsen gewesen.

Bei dem nächsten Vorfall sei sie ca. sieben bis acht Jahre alt gewesen. Sie sehe die Ereignisse im Badezimmer der Wohnung des Freundes ihres Vaters genau vor sich, allerdings wie ein außenstehender Beobachter. Sie sitze mit gespreizten Beinen am Wannenrand. Ihr Vater und dessen Freund wechselten sich ab, ihr sehr schmerzhaft in die Scheide zu greifen.

Ferner erinnere sie sich, dass sie wiederholt von meinem Vater in den Keller einer Schießanlage mitgenommen worden sei, wo sich verschiedene Schusswaffen befunden hätten. Außerdem habe ihr Vater in seinem Keller auch Schusswaffen gehabt. Sie sehe wiederholt aus dem Blick von außen, wie ihr eine Schusswaffe an die Schläfe gehalten und ihr gesagt werde, wenn sie etwas sagen würde, dann wäre es das.

Die Erinnerungen an die genannten Vorfälle seien erst in der Therapie in ihr aufgestiegen.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Nervenarztes Dr. A vom 15. März 2010, der nach psychiatrischer Exploration und Untersuchung der Klägerin zu dem Schluss gelangt ist, dass bei ihr Restsymptome eines ängstlich dissoziativen Syndroms vorlägen, das unter der Voraussetzung, dass die protokollierten Vorgänge wahr seien, auch als komplexe posttraumatische Belastungsstörung bezeichnet werden könne. Es scheine mehr dafür als dagegen zu sprechen, dass die Störungssymptomatik durch die Vorkommnisse verursacht worden sei. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 3. Mai 2010 hat der Gutachter den Grad der Schädigungsfolgen seit August 2001 mit 30 eingeschätzt, seit Ende November 2002, dem Abschluss einer psychosomatischen Rehabilitationsmaßnahme, nur noch mit maximal 10. Hiergegen hat die Klägerin insbesondere vorgebracht, sie sei vom 6. Juni 2000 bis zum 10. Februar 2005 in psychotherapeutischer Behandlung bei dem Nervenarzt Dr. H gewesen. In seiner Stellungnahme vom 6. Juli 2010 ist Dr. A bei seiner Einschätzung geblieben.

Weiter hat die Klägerin eine Email ihrer Krankenkasse über die ihr in den Jahren 2000 bis 2003 und 2007 bis 2008 bewilligten Psychotherapiesitzungen vorgelegt und vorgetragen, sie habe sich nach 2005 bei Dr. K in psychiatrischer Behandlung befunden.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 5. Dezember 2006 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 15. April 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Februar 2004 zu verpflichten, ihr ab dem 1. August 2001 bis zum 31. Dezember 2008 eine Rentenleistung nach dem Opferentschädigungsgesetz nach einer MdE/GdS von mindestens 30 sowie Heilbehandlung der Schädigungsfolgen zu gewähren,

hilfsweise,

den Sachverständigen Dr. A ergänzend anzuhören.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen,

hilfsweise,

ein aussagepsychologisches Gutachten einzuholen.

Er hält an seiner Entscheidung fest.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten, den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Gründe

Die zulässige Berufung der Klägerin ist nur zum Teil begründet.

Die Klägerin hat einen Anspruch auf eine Entschädigungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 v.H. nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in Verbindung mit § 31 Abs. 1 Satz 1 BVG, allerdings nur hinsichtlich des Zeitraums vom 1. August 2001 bis zum 30. November 2002.

Die Klägerin wurde Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG.

32Grundsätzlich bedürfen beweispflichtige Tatsachen – auf dem Gebiet der Opferentschädigung der schädigende Vorgang – des Vollbeweises, d.h. der an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit. In diesem Sinne ist der sexuelle Missbrauch der Klägerin durch ihren Vater bzw. dessen Freund nicht nachgewiesen. Eine Tatsache ist nachgewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen. Dies ist vorliegend nicht der Fall: Der Vater der Klägerin bestreitet die Missbrauchshandlungen. Dessen zeugenschaftliche Vernehmung sowie die Vernehmung der Mutter und des Bruders der Klägerin sind nicht möglich, da die Genannten von ihrem Recht, das Zeugnis zu verweigern, Gebrauch gemacht haben. Der von der Klägerin vorgelegte familiäre Schriftverkehr ist nicht geeignet, die von ihr vorgetragenen Tatsachen zu belegen. Sofern einzelne Passagen – wie die Klägerin meint – sich tatsächlich auf sexuelle Handlungen zwischen ihr und ihrem Vater beziehen sollten, wovon der Senat nicht überzeugt ist, ist es nicht von der Hand zu weisen, dass damit die von der Klägerin behaupteten Intimitäten zwischen ihr und ihrem Vater Ende der achtziger Jahre gemeint sind, die ausdrücklich nicht mehr Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sind. Weitere Möglichkeiten, Beweis über die Missbrauchsvorgänge in den Jahren 1972/1973 und 1975/1976 zu erheben, sieht der Senat nicht. Ein Anscheinsbeweis ist im sozialen Entschädigungsrecht fremd.

33Allerdings gelten nach § 6 Abs. 3 OEG die Beweiserleichterungen des § 15 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) auch im Opferentschädigungsrecht (vgl. Bundessozialgericht –BSG-, Urteil vom 31. Mai 1989, 9 RVg 3/89, BSGE 65, 123 = SozR 1500 § 128 Nr. 39). Nach dieser Vorschrift sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verloren gegangen sind, soweit nach den Umständen des Falles die Angaben glaubhaft erscheinen. Dieser besondere Beweismaßstab ist auch vorliegend heranzuziehen, weil die Klägerin sich ohne ihr Verschulden in Beweisnot befindet. Die Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG kommt zum Tragen, wenn weder Unterlagen noch sonstige Beweismittel, insbesondere Zeugen, zu beschaffen sind. So ist es insbesondere in den Fällen das sexuellen Missbrauchs innerhalb der Familie: Die Taten geschehen in der Regel ohne Zeugen. Im Fall der Klägerin ist der Zeugenbeweis ausgeschlossen, da der bei dem Vorfall von 1972/1973 anwesende Bruder von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht bzw. der bei den Vorfällen von 1975/1976 beteiligte Freund des Vaters inzwischen gestorben ist.

Nach Anhörung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung hält der Senat ihre Angaben, ihr Vater habe sie 1972/1973 bei einem gemeinsamen Bad dazu veranlasst, sein erigiertes Glied zu berühren, für glaubhaft im Sinne des § 15 Satz 1 KOVVfG. Nach ständiger Rechtsprechung genügt hierfür die überwiegende Wahrscheinlichkeit, d.h. die gute Möglichkeit, dass der Vorgang sich so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können. Unter Zugrundlegung dieses Beweismaßstabs ist die Möglichkeit im beschriebenen Sinne, dass es tatsächlich zu dem von der Klägerin beschriebenen Vorgang gekommen ist, nicht auszuschließen. Der Umstand, dass die Klägerin dieses Geschehen nicht bereits zu Beginn des Verwaltungsverfahrens geschildert hat, spricht nicht gegen die Glaubhaftigkeit. Denn die Klägerin hat erklärt, dass die Erinnerungen hieran erst in der Therapie aufgestiegen seien. An diesem Vorbringen bestehen nach Auffassung des Senats keine durchgreifende Zweifel, da es sich mit der medizinischen Befundlage im Einklang befindet. Im Arztbrief vom 28. August 2002 berichtete der sie behandelnde Nervenarzt Dr. M, dass bei der Klägerin seit 2001 mehr und mehr Erinnerungen an sexuelle Traumatisierungen vermutlich auch in früher Kindheit aufgetaucht seien.

Ebenso hält der Senat die von der Klägerin geschilderten Vorgänge für glaubhaft, dass sie 1975/1976 sich im Badezimmer der Wohnung des Freundes ihres Vaters habe ausziehen und mit gespreizten Beinen auf den Badewannenrand habe setzen müssen, worauf ihr Vater und dessen Freund abwechselnd mit einem Finger in ihre Scheide eingedrungen seien. Den dritten Vorfall, die schriftsätzlich und im Erörterungstermin vor dem Berichterstatter erwähnte sexuelle Nötigung mit der vorgehaltenen Waffe 1975/1976, verfolgt die Klägerin nicht weiter. Bei ihrer Anhörung zu den Missbrauchsfällen in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ist sie hierauf nicht mehr eingegangen. Vielmehr hat sie einen anderen – nicht den Gegenstand dieses Verfahrens bildenden – Vorfall geschildert, bei dem ihr von ihrem Vater im Keller eine Schusswaffe an den Kopf gehalten wurde, um sie anzuhalten, niemand etwas zu sagen.

36Der Senat sieht sich nicht gehalten, ein aussagepsychologisches Gutachten über die Glaubwürdigkeit der Klägerin einzuholen. Derartige Begutachtungen werden u.a. in Strafverfahren eingeholt, wenn es um die Frage geht, ob die Aussage eines Kindes oder Jugendlichen – oft zu sexuellem Missbrauch – für die Verurteilung eines Angeklagten nutzbar sind (vgl. etwas Bundesgerichtshof – BGH –, Urteil vom 30. Juli 1999, 1 StR 618/98, BGHSt 45, 164). Diese Praxis ist auf das soziale Entschädigungsrecht nicht übertragbar (anders der 11. Senat des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg, Urteil vom 9. September 2008, L 11 VG 33/08, bei Juris). Im Strafprozess erfordert die richterliche Überzeugung am Bestehen von Tatsachen, dass ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit besteht, demgegenüber vernünftiger Zweifel nicht laut werden kann (siehe BGH, Urteil vom 21. Dezember 2006, 3 StR 427/06). Dieser angesichts der Folgen einer strafrechtlichen Verurteilung erforderliche – strenge – Beweismaßstab gilt, wie gezeigt, im Opferentschädigungsrecht gerade nicht. § 15 Satz 1 KOVVfG erlaubt ausdrücklich Entschädigungsleistungen auf der Grundlage der Angaben des Antragstellers. Die Frage, ob die Klägerin Opfer sexuellen Missbrauchs geworden ist, ist keinem Beweis durch ein aussagepsychologisches Gutachten zugänglich. Ihr Beantwortung ist vielmehr Aufgabe des Gerichts (siehe auch Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28. November 2007, L 10 VG 13/06, bei Juris). Dem Hilfsantrag des Beklagten, ein aussagepsychologisches Gutachten einzuholen, ist deshalb – abgesehen davon, dass er mangels Angabe des Beweisthemas ohnehin unzulässig sein dürfte – nicht nachzukommen.

37Die beiden genannten Vorgänge erfüllen den Tatbestand des "tätlichen" Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG. Als tätlicher Angriff im Sinne dieser Vorschrift ist grundsätzlich eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen (BSG in ständiger Rechtsprechung, vgl. etwa Urteil vom 14. Februar 2001, B 9 VG 4/00 R, bei Juris). Dies bedarf hinsichtlich des schmerzhaften Eindringens des Fingers in die Scheide eines sechs- oder siebenjährigen Mädchens keiner weiteren Darlegung. Jedoch liegt auch in dem Vorfall in der Badewanne, bei dem die Klägerin von ihrem Vater veranlasst wurde, dessen erigiertes Glied anzufassen, ein tätlicher Angriff vor. Denn zu dessen Annahme ist keine körperliche Berührung erforderlich (vgl. BSG, Urteil vom 10.12.2003, B 9 VG 2/02 R, SozR 4-3800, § 1 Nr. 5). Vielmehr genügt es, wenn in strafbarer Weise die körperliche Integrität eines anderen rechtswidrig verletzt wurde (vgl. Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28. Januar 2010, L 10 VG 31/08, bei Juris). Dementsprechend hat das Bundessozialgericht in den Fällen des ohne körperliche Gewaltanwendung begangenen sexuellen Missbrauchs von Kindern einen tätlichen Angriff angenommen, weil den Opfern die Einwilligung zur Tat durch Täuschung entlockt wurde bzw. es den Opfern aus sonstigen Gründen an der Fähigkeit mangelte, Bedeutung und Tragweite ihrer Einwilligung zu erkennen (Urteile des BSG vom 18.10.1995, 9 RVg 4/93, bei Juris und 9 Rvg 7/93, bei Juris). Für die feindliche Willensrichtung ist es unerheblich, ob der Täter das Opfer berührt oder es veranlasst, ihn zu berühren. Entgegen der Ansicht des Sozialgerichts kommt es auch nicht darauf an, dass es im Zeitpunkt des Vorfalls (1972/1973) den Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern in der Form des § 176 Strafgesetzbuch (StGB) noch nicht gab. Das Rückwirkungsverbotes in Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz und § 1 StGB gilt nur für die Strafbarkeit des Täters; für die opferentschädigungsrechtliche Beurteilung können die zwischenzeitlichen Rechtsentwicklungen nicht unberücksichtigt bleiben, sofern sich die konkrete Tat zum Zeitpunkt ihrer Begehung nur überhaupt als rechtsfeindlich darstellt (vgl. Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 18. März 2010, L 12 VG 2/06, bei Juris, zu § 238 StGB). Dies ist angesichts des Umstands, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern tatsächlich die Gefahr krankhafter Entwicklung hervorrufen kann (siehe Nr. 71 Abs. 3 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit 2008, die auch nach Inkrafttreten der Versorgungsmedizin-Verordnung Gültigkeit behalten haben; vgl. BR-Drucks. 767/08, S. 4), unzweifelhaft der Fall.

Opferentschädigungsrechtliche Ansprüche der Klägerin sind auch nicht gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG ausgeschlossen. Danach sind Leistungen zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, ihm eine Entschädigung zu gewähren. Da die Klägerin – im Gegensatz zu den zunächst auch geltend gemachten Vorgängen Ende der achtziger Jahre – im Zeitpunkt der Missbrauchshandlungen vier bis fünf bzw. sieben bis acht Jahre alt war, ist die Annahme einer Mitverursachung bzw. einer die Entschädigung wegen Unbilligkeit ausschließenden Selbstgefährdung der Klägerin abwegig.

Die Klägerin hat infolge dieser beiden tätlichen Angriffe, die auch vorsätzlich und rechtswidrig sind, eine gesundheitliche Schädigung erlitten, die gesundheitliche Folgen zeitigt. Der von dem Senat beauftragte Nervenarzt Dr. A hat in seinem Gutachten vom 15. März 2010 überzeugend dargelegt, dass die Klägerin durch die Vorgänge eine Traumatisierung erfahren hat, aufgrund derer sie an psychischen Störungen leidet, die er als komplexe posttraumatische Belastungsstörung bezeichnet.

Die psychischen Störungen der Klägerin sind durch die beiden Missbrauchsfälle verursacht worden. Nach §§ 1 Abs. 1 Satz 1OEG, 1 Abs. 3 Satz 1 BVG genügt zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Eine (hinreichende) Wahrscheinlichkeit in diesem Sinn ist dann gegeben, wenn nach der geltenden ärztlichen wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht. Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist der Sachverständige Dr. A in seinem Gutachten zu dem Schluss gelangt, dass mehr dafür als dagegen zu sprechen scheint, dass die Störungssymptomatik von den Vorkommnissen verursacht wurde. Dem schließt der Senat sich an.

Hinsichtlich des streitgegenständlichen Zeitraums, der am 1. August 2001 beginnt, ist bei der Klägerin ein Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 30 (bis 20. Dezember 2007 mit „Minderung der Erwerbsfähigkeit“ bezeichnet) festzustellen. Gemäß §§ 1 Abs. 1 Satz 1 OEG, 30 Abs. 1 Satz 1 BVG ist der GdS nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der GdS ist gemäß § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer Grad der Schädigungsfolgen wird vom höheren Zehnergrad mit umfasst. Der Einschätzung des Sachverständigen Dr. A in dessen ergänzender Stellungnahme vom 3. Mai 2010, dass bei der Klägerin in der Zeit nach August 2001 eine stärker behindernde Störung bestand, ist nachvollziehbar, da sie an rezidivierenden Gefühlen der Angst, sporadischen Verstimmungen und Schwierigkeiten im Partnerbereich litt. Die Zuerkennung eines GdS von 30 bewegt sich im Rahmen der Vorgaben in Nr. 26.3 (S. 60) der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit in der seinerzeit geltenden Fassung von 1996.

Ferner hat die Klägerin – entsprechend ihrem Berufungsantrag ab 1. August 2001 – nach §§ 1 Abs. 1 Satz 1OEG, 10 Abs. 1 Satz 1 BVG Anspruch auf Heilbehandlung für die Gesundheitsstörungen, die sich als Schädigungsfolge darstellen. Wie ausgeführt, handelt es sich hierbei um die von dem Sachverständigen Dr. A in seinem Gutachten vom 15. März 2010 diagnostizierte komplexe posttraumatische Belastungsstörung.

Im Übrigen war die Berufung zurückzuweisen.

Der Anspruch auf eine Rente erstreckt sich lediglich bis Ende November 2002, da nach der überzeugenden Einschätzung des Gutachters Dr. A, der sich der Senat anschließt, der GdS bei der Klägerin von diesem Zeitpunkt nur noch 10 beträgt und damit unter dem nach §§ 31 Abs. 1, 30 Abs. 1 Satz 2 zweiter Halbsatz BVG für die Gewährung einer Rente erforderlichen Mindest-GdS von 25 liegt. Der Sachverständige hat dargetan, dass es mit Abschluss der stationären Rehabilitation in der Abteilung Psychosomatik/Psychotherapie der W-Klinik Ende November 2002 zu einer signifikanten Besserung der Symptomatik gekommen ist, und zwar sowohl nach der eigenen Einschätzung der Klägerin, das Wesentliche sei aufgearbeitet gewesen, als auch nach der ihres behandelnden Arztes Dr. M im Befundbericht vom 2. Februar 2005. Hiergegen spricht auch nicht der Umstand, dass die Klägerin sich weiterhin in psychotherapeutischer Behandlung befand. Die Annahme von stärker behindernden Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit, die einen GdS von 30 rechtfertigen würde, verbietet sich angesichts des Umstandes, dass die Klägerin nach der Teilnahme an einem dreimonatigen Berufsvorbereitungskurs im Jahr 2003 das Studium der Architektur aufgenommen und 2008 als Diplomingenieurin abgeschlossen hat. Einer weiteren Stellungnahme des Gutachters bedarf es nicht, weshalb der Hilfsantrag der Klägerin abzulehnen war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass die Klägerin im Hinblick auf das Rentenbegehren überwiegend unterlegen ist.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.