SG Neubrandenburg, Urteil vom 15.02.2013 - S 14 KR 26/12
Fundstelle
openJur 2014, 14381
  • Rkr:
Tenor

Der Bescheid vom 10.03.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.02.2012 wird aufgehoben. Bereits gezahlte Zusatzbeiträge sind zurückzuerstatten.

Die Beklagte hat der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten, soweit solche angefallen sind.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Erhebung eines Zusatzbeitrages im Rahmen eines gesetzlichen Krankenversicherungsverhältnisses.

Die Klägerin war bis 30.09.2011 bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Im Februar 2010 kündigte die Beklagte an, dass ab Februar 2010 ein Zusatzbeitrag in Höhe von 8,00 Euro monatlich von der Klägerin zu erheben ist. Die Rückseite dieses Schreibens enthielt unter der Überschrift „Weitere allgemeine Hinweise“ unter dem Gliederungspunkt „Rechtsgrundlagen“ den Wortlaut von § 175 Abs. 4 Satz 5 SGB V, wonach die Mitgliedschaft bei der Krankenkasse bis zur erstmaligen Fälligkeit des Zusatzbeitrages gekündigt werden kann. Mit Schreiben vom 19.02.2010 (Bl. 4 d. VA) – eingegangen bei der Beklagten am 23.02.2010 – legte die Klägerin Widerspruch ein. Sie wies daraufhin, dass sie ALG II Empfängerin sei und den geforderten Zusatzbeitrag nicht aufbringen könne. Sie habe gleichzeitig bei der ARGE A Stadt die Übernahme des Zusatzbeitrages beantragt.

Am 10.03.2010 erließ die Beklagte einen Beitragsbescheid (Bl. 7 d. VA) mit welchem ab Februar 2010 der Zusatzbeitrag gefordert wird. Außerdem wies die Beklagte daraufhin, dass zur Rechtmäßigkeit des Zusatzbeitrages bei ALG II Empfängern bereits „Musterverfahren“ geführt würden. Die Beklagte würde daher, falls die Klägerin nichts Gegenteiliges wünsche, den Widerspruch zunächst ruhen lassen. Weder das Schreiben noch der Bescheid enthielten Hinweise zum Sonderkündigungsrecht. Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin mit Schreiben vom 23.03.2010 (Bl. 9 d. VA) – eingegangen bei der Beklagten am 26.03.2010 – Widerspruch ein. Sie wiederholte ihre Einwände aus dem Schreiben vom 19.02.2010. Mit Schreiben vom 31.03.2010 (Bl. 11 d. VA) teilte die Beklagte mit, den Widerspruch erhalten zu haben, dass dieser bis zum Abschluss der Musterstreitverfahren ruhend gestellt werde und die Klägerin vom Ausgang des Musterverfahrens unaufgefordert unterrichtet werde.

Mit Widerspruchsbescheid vom 08.02.2012 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Die Klägerin hat am 20.02.2012 zur Niederschrift der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle Klage erhoben.

Die Klägerin ist der Ansicht, dass die Erhebung des Zusatzbeitrages gegenüber ALG II Empfängern rechtswidrig ist.

Sie beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 10.03.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides aufzuheben und die Beklagte zur Rückerstattung des Zusatzbeitrages zu verurteilen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist der Ansicht, dass mit dem Schreiben aus Februar 2010 (Bl. 22 d. GA) ausreichend auf das Sonderkündigungsrecht des § 175 Abs. 4 Satz 5 SGB V hingewiesen wurde.

Der Kammervorsitzende hat am 07.02.2013 einen Erörterungstermin durchgeführt. Bei dieser Gelegenheit hat der Vorsitzende die Beteiligten zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG angehört. Die Beteiligten erteilten ihr Einverständnis, dass die Sache anlässlich des Kammertermins vom 15.02.2013, durch die Kammer entschieden wird. Für weitere Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die beigezogene Leistungsakte der Beklagten, die Gerichtsakte und die Sitzungsniederschrift zum Termin vom 07.02.2013 verwiesen.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 10.03.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.02.2012 ist rechtswidrig.

Ob die Erhebung eines Zusatzbeitrages für ALG II Empfänger grundsätzlich rechtwidrig ist, kann vorliegend dahinstehen. Die Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Bescheides ergibt sich bereits aus § 175 Abs. 4 Satz 7 SGB V. Die Kammer ist zu der Überzeugung gelangt, dass der schlichte Abdruck der Rechtsgrundlage unter dem Unterpunkt „Weitere allgemeine Hinweise“ im Schreiben aus Februar 2010 nicht der aus § 175 Abs. 4 Satz 6 SGB V folgenden Verpflichtung genügt. Folge dessen, dass die Beklagte nicht ihrer Hinweispflicht aus § 175 Abs. 4 Satz 6 SGB V genügte, ist, dass die Erhebung des Zusatzbeitrages nicht wirksam geworden ist.

Die Kammer hält diesbezüglich die Aussage der Klägerin für glaubhaft, dass sie bis zu ihrer Kündigung am 30.06.2011 keine Kenntnis von dem Sonderkündigungsrecht hatte und daher die Erhebung des Zusatzbeitrages für den Zeitraum von Februar 2010 bis Juni 2011 nicht wirksam geworden ist. Die Klägerin hat frühestens durch Kenntnisnahme des Urteils vom Sozialgericht Berlin aus August 2011 von dem Sonderkündigungsrecht erfahren. Zu beachten ist, dass der Widerspruchsbescheid erst Anfang 2012 erlassen wurde, so dass auch eine Kenntnisnahme vom Sonderkündigungsrecht durch diesen ausgeschlossen werden kann.

Entgegen der Ansicht der Beklagten und der Ansicht des LSG Berlin Brandenburg – L 1 KR 221/11 – genügt das Anschreiben der Beklagten aus Februar 2010 nicht den Anforderungen des § 175 Abs. 4 Satz 6 SGB V. So obliegt der Beklagten schon nach §§ 13 ff. SGB I die Pflicht zur Beratung und Aufklärung von Versicherten. Die Kammer ist der Auffassung, dass wenn der Gesetzgeber eine derart klare Aufforderung zum Hinweis auf ein bestimmtes Recht in das Gesetz aufnimmt, wie in § 175 Abs. 4 Satz 6 SGB V, diesem nicht durch den schlichten Abdruck der Rechtsgrundlage nachgekommen werden kann. Vielmehr obliegt es der Krankenversicherung ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass ein Sonderkündigungsrecht im konkreten Einzelfall gegeben ist. Selbst wenn man von einem Versicherten verlangen kann, dass er Schreiben seiner Krankenversicherung aufmerksam liest, kann entgegen der Ansicht des LSG Berlin Brandenburg – aaO – aus dem Schreiben aus Februar 2010 nicht geschlossen werden, dass ein Sonderkündigungsrecht besteht. Insoweit kann von einem durchschnittlichen Versicherten nicht verlangt werden, dass dieser den bei ihm vorliegenden Sachverhalt unter eine Rechtsnorm subsumiert und feststellt, welche Rechtsfolgen sich aus dieser für ihn ergeben. Hinzu kommt, dass § 175 Abs. 4 Satz 6 SGB V wörtlich fordert, dass das Mitglied auf das Sonderkündigungsrecht des Satz 5 hingewiesen worden ist. Der schlichte Abdruck ist aber kein Hinweis. Vielmehr ist im Rahmen des Hinweises zu fordern, dass die Beklagte darauf verweist, dass ein Fall des § 175 Abs. 4 Satz 5 SGB V gegeben und damit ein Sonderkündigungsrecht gegeben ist. Vorliegend kam erschwerend hinzu, dass der Abdruck des § 175 Abs. 4 Satz 5 SGB V auf der Rückseite des Schreibens und zwischen mehreren anderen Rechtsgrundlagen unter der Überschrift weitere „Allgemeine Hinweise“ geradezu „versteckt“ war. An dieser Stelle des Schreibens unter „Weitere Allgemeine Hinweise“ konnte der Adressat des Schreibens nicht mehr mit einem Hinweis zu einem bestehenden Sonderkündigungsrecht rechnen. Viel mehr suggeriert der Aufbau des gesamten Schreibens – Anschreiben mit Erläuterung zum Zusatzbeitrag, Hinweise zur Zahlung und am Ende Nennung der Rechtsgrundlagen –, dass die Erhebung des Zusatzbeitrages unausweichlich ist und die Klägerin keine Möglichkeit hat diesem zu „entgehen“.

Die Berufung war zuzulassen, da die Kammer von der Rechtsprechung des LSG Berlin Brandenburg abweicht. (§ 144 Abs. 2 SGG)

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

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