Bayerischer VGH, Urteil vom 28.05.2014 - 7 B 14.22
Fundstelle
openJur 2014, 13431
  • Rkr:

Über die Zulässigkeit von Maßnahmen des Notenschutzes einschließlich ihrer Folgen (etwa in Bezug auf das auszustellende Zeugnis) hat, jedenfalls bei schulischen Abschlussprüfungen, im Wesentlichen der parlamentarische Gesetzgeber zu entscheiden.Bemerkungen im Abiturzeugnis; Legasthenie; Nichtbewertung von Rechtschreibleistungen; Notenschutz; Nachteilsausgleich; Notenausgleich; Chancengleichheit; Parlamentsvorbehalt

Tenor

I. Der Beklagte wird unter Abänderung des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 26. Februar 2013 verpflichtet, dem Kläger ein Abiturzeugnis ohne Bemerkungen zur Nichtbewertung von Rechtschreibleistungen und zur Bewertung der schriftlichen und mündlichen Leistungen in den Fremdsprachen im Verhältnis 1:1 auszustellen.

II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

IV. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen folgende Bemerkungen der Schule (staatliches Gymnasium in G.) in seinem Abiturzeugnis vom 25. Juni 2010: „Aufgrund einer fachärztlich festgestellten Legasthenie wurden Rechtschreibleistungen nicht bewertet. In den Fremdsprachen wurden die schriftlichen und mündlichen Leistungen im Verhältnis 1:1 bewertet.“

Das Bayerische Verwaltungsgericht München hat auf Klage des Klägers den Beklagten mit Urteil vom 26. Februar 2013 verpflichtet, dem Kläger ein neues Abiturzeugnis auszustellen, in dem kein Hinweis mehr auf die „fachärztlich festgestellte Legasthenie“ enthalten ist. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Die streitgegenständlichen Bemerkungen seien als allgemeine Beurteilung zulässig, welche das Abschlusszeugnis nach Maßgabe des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) enthalten könne (Art. 54 Abs. 4 Satz 3 BayEUG). Zudem seien gemäß den Richtlinien des (ehemaligen) Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus zur Förderung von Schülern mit besonderen Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und des Rechtschreibens vom 16. November 1999, geändert am 11. August 2000, sowie entsprechend dem Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 4. Dezember 2003 in der Fassung vom 15. November 2007, Abweichungen von den allgemeinen Grundsätzen der Leistungsbewertung – wie vorliegend in Bezug auf die Bewertung der Rechtschreibleistungen und das Verhältnis der Bewertung der schriftlichen und mündlichen Leistungen in den Fremdsprachen – im Abschlusszeugnis zu vermerken. Bei solchen Abweichungen von allgemeinen Grundsätzen der Leistungsbewertung handele es sich für die betroffenen Schüler um „Notenschutz“, der anders als der „Nachteilsausgleich“, der lediglich Chancengleichheit mit nichtbehinderten Schülern herstelle, eine Bevorzugung des behinderten Schülers darstelle. Der Notenschutz sei aus Gründen der „Notenwahrheit“ und zur Wahrung der Chancengleichheit aller Schüler im Zeugnis zu vermerken. Demgegenüber sei es nicht geboten, den Hinweis auf eine „fachärztlich festgestellte Legasthenie“, der in die Privatsphäre des Klägers unverhältnismäßig eingreife, in das Abiturzeugnis aufzunehmen. Wegen der Einzelheiten wird auf das Urteil Bezug genommen.

Mit der vom Senat wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zugelassenen Berufung wendet sich der Kläger gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts, soweit die Klage abgewiesen wurde. Die streitgegenständlichen Bemerkungen knüpften ohne gesetzliche Grundlage in diskriminierender Weise unmittelbar an die Legasthenie des Klägers an und erschwerten diesem ohne sachlichen Grund den Übertritt in das Berufsleben. Sie seien nicht aus Gründen der Notenwahrheit gerechtfertigt, weil das Abiturzeugnis dem Kläger keine Kompetenzen bescheinige, über die er nicht verfüge und zudem die Noten in einzelnen Fächern weder bei behinderten noch bei nichtbehinderten Schülern Auskunft über deren tatsächliche Rechtschreibleistungen gäben. Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts handele es sich bei der Nichtbewertung von Rechtschreibleistungen und bei der Bewertung der schriftlichen und mündlichen Leistungen in den Fremdsprachen im Verhältnis 1:1 auch nicht um eine Bevorzugung des Klägers, sondern lediglich um einen Ausgleich der mit dessen Legasthenie im Rahmen der schulischen Ausbildung verbundenen Nachteile. Von Bedeutung sei in diesem Zusammenhang auch, dass der Beklagte Fördermaßnahmen für Legastheniker in der gymnasialen Oberstufe nur in einem „Gesamtpaket“ gewähre und er dem betroffenen Schüler nicht erlaube, sich auf einzelne Fördermaßnahmen, etwa auf die Gewährung eines Zeitzuschlages zu beschränken, die als anerkannte Maßnahme des Nachteilsausgleichs unstreitig nicht zu einer Bemerkung im Abiturzeugnis führe. Die streitgegenständlichen Bemerkungen dürften im Übrigen wegen ihrer nachteiligen Wirkungen für den Kläger schon nach Maßgabe einschlägiger Regelungen der Gymnasialschulordnung (GSO) nicht in das Abiturzeugnis aufgenommen werden. Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Beklagten unter Abänderung des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 26. Februar 2013 zu verpflichten, das Abiturzeugnis ohne die streitgegenständlichen Bemerkungen auszustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die streitgegenständlichen Bemerkungen im Abiturzeugnis bedürften keiner gesetzlichen Grundlage, weil sie allein der „Kenntlichmachung einer Abweichung von der regulären Leistungsbewertung“ dienten. Ihre Notwendigkeit ergebe sich unmittelbar aus prüfungsrechtlichen Grundsätzen, da Legastheniker bei Maßnahmen des Notenschutzes geringeren Leistungsanforderungen als nichtbehinderte Schüler genügen müssten und diesen gegenüber somit bevorzugt würden. Diese Ungleichbehandlung werde durch die streitgegenständlichen Bemerkungen, die der Zeugniswahrheit dienten und in die der Kläger bzw. dessen Erziehungsberechtigte vor Eintritt in die Oberstufe des Gymnasiums bereits eingewilligt hätten, ausgeglichen. Ein milderes Mittel zur Herstellung der Chancengleichheit aller Schüler sei nicht ersichtlich. Allerdings sei einzuräumen, dass bei Schülern mit anderen Behinderungen nicht in gleicher Weise (Bemerkungen über Maßnahmen des Notenschutzes in Abschlusszeugnissen) verfahren werde.

Wegen der Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten in beiden Rechtszügen und die vorgelegten Behördenakten verwiesen.

Gründe

Die Berufung des Klägers hat Erfolg.

Der Kläger hat Anspruch auf Ausstellung eines Abiturzeugnisses, das frei ist von Bemerkungen, die nicht auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen. Für die streitgegenständlichen Bemerkungen, die auf dem Kläger gewährte Maßnahmen des Notenschutzes hinweisen sollen, gibt es keine gesetzliche Grundlage.

1. Die streitgegenständlichen Bemerkungen im Abiturzeugnis beruhen nicht auf Regelungen des Bayerischen Schulrechts.

a) Das Bayerische Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. Mai 2000 (GVBl S. 414, BayRS 2230-1-1-K), zuletzt geändert durch Gesetz vom 23. Mai 2014 (GVBl S. 186), enthält sowohl in der aktuellen als auch in der für das streitgegenständliche Abiturzeugnis maßgeblichen (bis zum 31.7.2010 geltenden) Fassung des Gesetzes (= a.F.) keine Rechtsgrundlage für die streitgegenständlichen Bemerkungen.

Nach Maßgabe des Gesetzes erhält der Prüfling nach bestandener Abschlussprüfung ein Abschlusszeugnis. Dieses enthält die Noten in den einzelnen Fächern und die Feststellung, welche Berechtigung das Zeugnis verleiht. Zusätzlich kann das Zeugnis eine allgemeine Beurteilung enthalten (Art. 54 Abs. 4 Satz 1 bis 3 BayEUG). In den Abiturzeugnissen wird – wie der Beklagte einräumt – jedoch gemäß den Bestimmungen der einschlägigen Schulordnung für die Gymnasien in Bayern (Gymnasialschulordnung – GSO) vom 23. Juli 2007 (GVBl S. 68, BayRS 2235-1-1-1-K), zuletzt geändert durch Verordnung vom 12. Juni 2013 (GVBl S. 390), keine allgemeine Beurteilung im Sinn des Art. 54 Abs. 4 Satz 3 BayEUG aufgenommen (vgl. auch LT-Drs. 16/4814 S. 3).

b) Die auf Grundlage des Gesetzes (Art. 89 BayEUG) erlassene Gymnasialschulordnung sieht – sowohl in der aktuellen als auch in der vorliegend maßgeblichen (bis zum 31.7.2010 geltenden) Fassung der Verordnung (= a.F.) – die Aufnahme von Vermerken in das Abiturzeugnis nur in besonders geregelten Fällen vor. So erhalten etwa Schüler, die das Latinum oder Graecum erworben haben, im Abiturzeugnis einen entsprechenden Vermerk (§ 86 Abs. 4 Satz 1 GSO = § 86a Abs. 4 Satz 1 GSO a.F. für das vom Kläger besuchte neunjährige Gymnasium). Ebenso können auf Antrag des Schülers herausragende Leistungen in Vokalensemble (Chor) oder Instrumentalensemble (Orchester) sowie die Tätigkeit in der Schülermitverantwortung oder ähnliche Tätigkeiten im Abiturzeugnis vermerkt werden (§ 86 Abs. 3 Satz 2 GSO = § 86a Abs. 3 Satz 2 GSO a.F.). Bemerkungen über die Gesamtpersönlichkeit des Schülers und damit auch Bemerkungen etwa über dessen Anlagen oder Verhalten werden in das Abiturzeugnis hingegen nicht aufgenommen (§ 86 Abs. 3 Satz 1 GSO = § 86a Abs. 3 Satz 1 GSO a.F.). Auch in Bezug auf die Nichtbewertung von Rechtschreibleistungen oder das Verhältnis der Bewertung der schriftlichen und mündlichen Leistungen in den Fremdsprachen sind Vermerke weder in der Gymnasialschulordnung noch in dem vom Staatsministerium nach Maßgabe des § 86 Abs. 1 GSO (= § 86a Abs. 1 GSO a.F.) herausgegebenen Muster des Abiturzeugnisses (Zeugnis der allgemeinen Hochschulreife) vorgesehen.

152. Die streitgegenständlichen Bemerkungen können auch nicht auf „prüfungsrechtliche Grundsätze“ gestützt werden. Für sie ist eine gesetzliche Grundlage nicht deshalb entbehrlich, weil sie nach Ansicht des Beklagten der „Kenntlichmachung einer Abweichung von der regulären Leistungsbewertung“ dienen und zum Ausgleich einer Bevorzugung des Legasthenikers („Notenschutz“) notwendig sein sollen. Denn Notenschutz seinerseits darf nur aufgrund einer vorliegend fehlenden ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung gewährt werden.

a) Als Notenschutz werden nach gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung im Prüfungsrecht allgemein und im Schulrecht in Bezug auf die Bewertung schulischer Leistungen einschließlich der jeweiligen Prüfungsleistungen alle Maßnahmen angesehen, die auf die Bevorzugung des einzelnen Prüflings gerichtet sind, weil diesem gegenüber auf bestimmte Leistungsanforderungen verzichtet wird, die allen anderen Prüflingen abverlangt werden. Notenschutz berührt den anerkannten und insbesondere im Prüfungsrecht maßgeblichen Grundsatz der Chancengleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG, ggf. i.V.m. Art. 12 Abs. 1 GG) aller Prüflinge (vgl. z.B. zuletzt OVG LSA, B.v. 10.2.2014 – 3 M 358/13 – juris Rn. 13 f. m.w.N.; NdsOVG, B.v. 10.7.2008 – 2 ME 309/08NVwZ-RR 2009, 68; BayVGH, B.v. 25.10.2007 – 7 CE 07.2374 – juris Rn. 15). Auf Notenschutz gibt es auch im Hinblick auf das in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG geregelte Benachteiligungsverbot für körperlich eingeschränkte oder sonst behinderte Prüfungsteilnehmer keinen verfassungsrechtlich begründeten Anspruch (vgl. z.B. HessVGH, B.v. 5.2.2010 – 7 A 2406/09.Z – NVwZ-RR 2010, 767; NdsOVG, B.v. 10.7.2008 – 2 ME 309/08NVwZ-RR 2009, 68; zum Meinungsstand in Rechtsprechung und Literatur, vgl. Cremer/Kolok, DVBl 2014, 333).

Der Notenschutz ist vom „Nachteilsausgleich“ zu unterscheiden, auf den – seinerseits gestützt auf den Grundsatz der Chancengleichheit – ein verfassungsrechtlicher Anspruch deshalb besteht, weil der Nachteilsausgleich es dem behinderten Prüfungsteilnehmer lediglich unter Wahrung der für alle Prüflinge geltenden Leistungsanforderungen ermöglichen soll, sein tatsächlich vorhandenes („wahres“) Leistungsvermögen nachzuweisen (vgl. z.B. Niehues/Fischer, Prüfungsrecht, 5. Aufl. 2010, Rn. 249/259 ff. m.w.N.). Nachteilsausgleich darf nur insoweit gewährt werden, als dies zur Herstellung der Chancengleichheit erforderlich ist. Die „Überkompensation“ der Behinderungen des Prüfungsteilnehmers durch Art oder Umfang des gewährten Nachteilsausgleichs führt zu einer Verletzung der Chancengleichheit der anderen Prüfungsteilnehmer und ist insoweit unzulässig (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 28.6.2012 – 7 CE 12.1324 – juris Rn. 18). Die Abgrenzung zwischen Maßnahmen des Nachteilsausgleichs und des Notenschutzes ist dann besonders schwierig, wenn sich die körperlichen Einschränkungen oder sonstigen Behinderungen auf das spezifische Leistungsvermögen des Prüfungsteilnehmers auswirken, das – wie etwa im Fach Deutsch die Fehlerfreiheit der Rechtschreibleistungen des Schülers – gerade Gegenstand der von ihm geforderten Prüfungsleistung ist. So sollen nach dem Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 4. Dezember 2003 in der Fassung vom 15. November 2007 über „Grundsätze zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben oder im Rechnen“ im Rahmen des Nachteilsausgleichs Maßnahmen wie die Ausweitung der Arbeitszeit oder die Bereitstellung von technischen und didaktischen Hilfsmitteln in Betracht kommen, während es sich etwa bei der stärkeren Gewichtung mündlicher Leistungen oder dem Verzicht auf eine Bewertung der Lese- und Rechtschreibleistung um Abweichungen von den allgemeinen Grundsätzen der Leistungsbewertung und damit um Maßnahmen des Notenschutzes handeln soll. Fehlt eine nähere gesetzliche Regelung über Art und Umfang von Maßnahmen des Nachteilsausgleichs und des Notenschutzes, so ist bei Rechtsstreitigkeiten über deren Zulässigkeit die Abgrenzung zwischen Nachteilsausgleich und Notenschutz unverzichtbar, weil Prüfungsteilnehmer (Schüler) einen verfassungsrechtlich begründeten Anspruch nur auf den zur Herstellung der Chancengleichheit im Einzelfall erforderlichen Nachteilsausgleich, nicht jedoch auf Notenschutz haben.

18b) Maßnahmen des Notenschutzes kommen danach nur auf der Grundlage einer ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung in Betracht. Nach der Rechtsprechung der Verfassungsgerichte verpflichten dabei das Rechtsstaatsprinzip, das Demokratieprinzip sowie der Grundsatz der Gewaltenteilung den parlamentarischen Gesetzgeber, die wesentlichen Entscheidungen im Schulwesen selbst zu treffen oder durch eine nach Inhalt, Zweck und Ausmaß begrenzte Ermächtigungsnorm inhaltlich mitzubestimmen und diese nicht allein der Schulverwaltung zu überlassen (Parlamentsvorbehalt). Der Umfang des Parlamentsvorbehalts bestimmt sich dabei von Fall zu Fall nach der Intensität, mit welcher die Grundrechte der Regelungsadressaten betroffen sind (vgl. BVerfG, B.v. 20.10.1981 – 1 BvR 640/80BVerfGE 58, 257; BayVerfGH, E.v. 27.3.1980 – Vf. 4-VII-79VerfGH 33, 33/37; vgl. zuletzt auch BayVerfGH, E.v. 21.5.2014 – Vf. 7-VII-13 – Rn. 35). Über die Zulässigkeit von Maßnahmen des Notenschutzes einschließlich ihrer Folgen (etwa in Bezug auf das auszustellende Zeugnis) hat dementsprechend, jedenfalls bei schulischen Abschlussprüfungen, die für den beruflichen Werdegang bedeutsam sind, wegen der mit Maßnahmen des Notenschutzes verbundenen und den Anspruch aller Prüflinge auf Chancengleichheit, der aus den Grundrechten des Art. 3 Abs. 1 GG (Gleichbehandlung) und des Art. 12 Abs. 1 GG (Berufsfreiheit) resultiert, in erheblicher Weise berührenden Abweichungen von den allgemein geltenden Leistungsanforderungen, der parlamentarische Gesetzgeber zu entscheiden (zum Vorbehalt des Gesetzes im Schulrecht allgemein, den notwendigen parlamentarischen Leitentscheidungen und dem Problem individueller Leistungsanforderungen beim gemeinsamen Unterricht behinderter und nichtbehinderter Schüler im Rahmen des inklusiven Schulsystems, vgl. auch Rux/Niehus, Schulrecht, 5. Aufl. 2013, Rn. 27 ff., 507 ff.). Auf die Erforderlichkeit einer landesrechtlichen Ermächtigung bei Abweichungen von den allgemeinen Grundsätzen der Leistungsbewertung namentlich bei Abschlussprüfungen hat im Übrigen bereits die Kultusministerkonferenz in ihrem genannten Beschluss vom 4. Dezember 2003 in der Fassung vom 15. November 2007 hingewiesen, wobei nach Ansicht der Kultusministerkonferenz Maßnahmen der individuellen Förderung von Legasthenikern in allgemeinbildenden Schulen grundsätzlich bis zum Ende der Jahrgangsstufe 10 abgeschlossen sein sollen. Dem Anliegen des Beklagten, entsprechend befähigten Legasthenikern durch Fördermaßnahmen des Notenschutzes den Besuch weiterführender Schulen einschließlich des Gymnasiums und die Möglichkeit des Erwerbs der allgemeinen Hochschulreife im Wege der Abiturprüfung zu eröffnen, kann somit nur durch den parlamentarischen Gesetzgeber entsprochen werden, der eine verbindliche Entscheidung darüber zu treffen hat, ob und in welchem Umfang Notenschutz gewährt werden darf und welche weiteren schulrechtlichen Folgen damit verbunden sind.

c) Der Bayerische Landesgesetzgeber sieht im Schulrecht generell und insbesondere auch bei schulischen Abschlussprüfungen Maßnahmen des Notenschutzes gegenwärtig nicht vor. Er hat sich vielmehr ausdrücklich (lediglich) für Maßnahmen des Nachteilsausgleichs sowie des „Notenausgleichs“ entschieden, die aufgrund der mit Wirkung vom 16. Dezember 2011 in Kraft getretenen geänderten Bestimmungen des Art. 52 Abs. 4 BayEUG und des Art. 54 Abs. 3 Satz 2 BayEUG in den jeweiligen Schulordnungen der unterschiedlichen Schularten konkret und differenziert geregelt werden können (vgl. auch LT-Drs. 16/9412 S. 6). Der in den genannten gesetzlichen Bestimmungen erwähnte „Notenausgleich“ betrifft den seit jeher möglichen Ausgleich mangelhafter oder ungenügender Leistungen in einzelnen Fächern durch sehr gute, gute oder befriedigende Leistungen in anderen Fächern und ist nunmehr ausdrücklich auch im Rahmen der jeweiligen Abschlussprüfungen möglich (vgl. Lindner/Stahl, Das Schulrecht in Bayern, Stand 15.11.2013, Art. 52 BayEUG Rn. 18). Der in den Schulordnungen zu regelnde Notenausgleich bezweckt – anders als der Notenschutz – nicht, einzelnen Schülern „bessere“ Noten zu geben, als diesen nach den allgemein geltenden Bewertungsmaßstäben in Bezug auf ihre schulischen Leistungen (Prüfungsleistungen) zukommen würden. Er kann allerdings ebenso wie der Notenschutz geeignet sein, Schülern trotz ungenügender Leistungen in einzelnen Fächern das Vorrücken in den Jahrgangsstufen, den Besuch weiterführender Schulen und das Bestehen schulischer Abschlussprüfungen zu ermöglichen.

Die seit dem 1. August 2011 (vor Inkrafttreten des Änderungsgesetzes) geltende Neuregelung des § 53 Abs. 4 GSO, wonach das Staatsministerium zur Frage eines Nachteilsausgleichs oder Notenschutzes für Schülerinnen und Schüler mit besonderen Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und des Rechtschreibens gesonderte Festlegungen trifft, hat der Verordnungsgeber danach in Bezug auf den Notenschutz ohne die erforderliche gesetzliche Ermächtigung vorgenommen. Sie ist – unbeschadet weiterer Einwände gegen die fehlende Bestimmtheit der Regelung – auf das bereits am 25. Juni 2010 erteilte streitgegenständliche Abiturzeugnis allerdings ohnehin nicht anwendbar.

d) Aus dem Umstand, dass in Bayern – anders als in anderen Bundesländern – in der Oberstufe des Gymnasiums zu Gunsten von Legasthenikern Notenschutz gewährt wird und es hierfür, ebenso wie für die streitgegenständlichen Bemerkungen im Abiturzeugnis an der gebotenen gesetzlichen Grundlage fehlt, folgt, dass sich die Zeugnisbemerkungen nicht allein mit Hilfe des vom Beklagten betonten Gedanken der „Zeugniswahrheit“ („Notenwahrheit“) oder der vermeintlichen Wahrung der Chancengleichheit rechtfertigen lassen. Das den Legasthenikern verliehene Abiturzeugnis ist auch nicht ohne weiteres „unwahr“. Es bescheinigt die Befähigung zum Hochschulstudium, die nach Ansicht des Beklagten entsprechend befähigten Legasthenikern nicht allein wegen individueller Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und des Rechtschreibens abgesprochen werden soll, zumal während des Studiums oder im beruflichen Alltag eingeschränkte Fähigkeiten in diesen Bereichen durch Hilfsmittel weitgehend ausgeglichen werden können. Die Bemerkungen geben zudem keinen Hinweis darauf, in welchem Umfang und in Bezug auf welche Fächer die angegebenen Noten tatsächlich nicht den hierfür maßgebenden Leistungsanforderungen entsprechen und deshalb „unwahr“ sein sollen. Im Verhältnis zu den anderen Abiturienten wird schließlich, solange der Gesetzgeber im Rahmen seiner weiten Gestaltungsfreiheit hierfür keine gesetzliche Grundlage geschaffen hat, die durch Maßnahmen des Notenschutzes erfolgte Bevorzugung der Legastheniker nicht notwendigerweise durch Bemerkungen ausgeglichen, die sich auf den beruflichen Werdegang der Legastheniker negativ auswirken können.

e) Der Beklagte kann die streitgegenständlichen Bemerkungen im Abiturzeugnis schließlich nicht mit der Erwägung rechtfertigen, der Kläger bzw. dessen Erziehungsberechtigte hätten in die Gewährung von Maßnahmen des Notenschutzes und damit in die Zeugnisbemerkungen eingewilligt.

Der Beklagte gewährt in der Oberstufe des Gymnasiums „Fördermaßnahmen“ für Legastheniker auf der Grundlage der Bekanntmachung des (ehemaligen) Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus vom 16. November 1999 (KWMBl I S. 379) zur „Förderung von Schülern mit besonderen Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und des Rechtschreibens“, zuletzt geändert durch Bekanntmachung vom 11. August 2000 (KWMBl I S. 403), sowie aufgrund ergänzender Ministerialschreiben (KMS). Die Fördermaßnahmen werden dabei als unteilbares „Gesamtpaket“ – mit der Folge streitgegenständlicher Zeugnisbemerkungen – gewährt. Das Gesamtpaket umfasst die Befreiung von der Teilnahme an schriftlichen Leistungserhebungen, die ausschließlich der Feststellung der Rechtschreibkenntnisse dienen, die Gewährung eines Zeitzuschlags, die Nichtbewertung von Rechtschreibleistungen sowie die Bewertung schriftlicher und mündlicher Leistungen im Verhältnis 1:1 bei Fremdsprachen. Nur dann, wenn Schüler (bzw. deren Erziehungsberechtigte) vor Eintritt in die Oberstufe des Gymnasiums schriftlich beantragen, während der restlichen Schulzeit und in der Abschlussprüfung keine Fördermaßnahmen und damit keinen Nachteilsausgleich und Notenschutz zu erhalten, entfallen die Zeugnisbemerkungen (vgl. KMS vom 28.5.2008). In dem nach Ansicht des Beklagten nicht teilbaren Gesamtpaket der Fördermaßnahmen sind – wie zwischen den Beteiligten unstreitig ist – auch Maßnahmen des Nachteilsausgleichs enthalten, auf deren Gewährung im Einzelfall ein verfassungsrechtlicher Anspruch besteht. Das „Einverständnis“ des Maßnahmen des Nachteilsausgleichs begehrenden Schülers mit weitergehenden und gegenwärtig rechtlich unzulässigen Maßnahmen des Notenschutzes, rechtfertigt die Zeugnisbemerkungen daher nicht. Die Koppelung von Maßnahmen des Nachteilsausgleichs an Maßnahmen des Notenschutzes birgt im Übrigen die Gefahr ebenso unzulässiger Überkompensation, weil nicht sämtliche Fördermaßnahmen zum individuellen Ausgleich einer Legasthenie erforderlich sein müssen.

3. Für die streitgegenständlichen Zeugnisbemerkungen fehlt nicht nur eine hinreichende gesetzliche Grundlage. Sie widersprechen gegenwärtig auch einschlägigen Regelungen der Gymnasialschulordnung.

Unbeschadet dessen, dass Bemerkungen über die Gesamtpersönlichkeit des Schülers in das Abiturzeugnis nicht aufgenommen werden (§ 86 Abs. 3 Satz 1 GSO = § 86s Abs. 3 Satz 1 GSO) und zur Gesamtpersönlichkeit eines Schülers auch dessen persönliche Anlagen wie Legasthenie gehören, dürfen bereits in den Jahrgangsstufen 9 und 10 des Gymnasiums die Jahreszeugnisse keine Bemerkungen enthalten, die den Übertritt in das Berufsleben erschweren (§ 70 Abs. 2 Satz 4 GSO). Dies gilt erst recht für das Abiturzeugnis, das bei Bewerbungen um ein Hochschulstudium, eine Berufsausbildung oder einen Arbeitsplatz während des gesamten beruflichen Werdegangs von erheblicher Bedeutung ist. Zeugnisbemerkungen, die auch bei Streichung der Worte der „fachärztlich festgestellten Legasthenie“ unverändert auf die Legasthenie des betroffenen Abiturienten hindeuten, sind geeignet, den Übertritt in das Berufsleben zu erschweren. Der Abiturient ist auch keineswegs verpflichtet, seine Legasthenie durch die Zeugnisbemerkung im Berufsleben einem unbestimmten Personenkreis gegenüber zu offenbaren. Es ist vielmehr von den Umständen des Einzelfalles abhängig, ob etwa ein (potentieller) Arbeitgeber in Bezug auf eine konkrete Beschäftigung nach einer Legasthenie (oder anderen Beeinträchtigungen oder Behinderungen) des Bewerbers fragen darf und dieser zu deren Offenbarung verpflichtet ist oder nicht (vgl. z.B. Linck in Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 15. Aufl. 2013, § 26 Rn. 8 ff, 16 ff. m.w.N.).

4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, §§ 708 ff. ZPO.

5. Die Revision wird zugelassen, weil die Rechtssache wegen ihres verfassungsrechtlichen Bezugs über das Bayerische Landesrecht hinaus grundsätzliche Bedeutung hat (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).  

Beschluss

Der Streitwert wird auf 5.000,- Euro festgesetzt (§ 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 1 und 2 GKG).