SG Münster, Urteil vom 14.03.2014 - S 6 P 135/13
Fundstelle
openJur 2014, 7667
  • Rkr:
Tenor

Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin für die Zeit ab Februar 2013 monatlich einen Wohngruppenzuschlag in Höhe von 200,- Euro zu zahlen. Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin zusätzliche Leistungen für Pflegebedürftige in einer ambulant betreuten – anbieterorientierten – Wohngruppe zustehen.

Die im Dezember 1919 geborene Klägerin ist bei der Beklagten – einem Unternehmen der privaten Krankenversicherung in der Rechtsform eines Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit – nach der Tarifstufe PVN privat pflegeversichert. Sie bezieht Leistungen bei häuslicher Pflege nach der Pflegestufe I. Die Klägerin lebt in einer vom Caritasverband für das Dekanat C. e.V. konzipierten ambulant betreuten Wohngemeinschaft im "Haus " in S ... Die Gemeinschaft besteht aus zwölf pflegebedürftigen Bewohnern, die im Erdgeschoss dieses Hauses leben. Den Mietern stehen jeweils etwa 35 qm große Wohnungen zur individuellen Nutzung zur Verfügung. Sie bestehen aus einem barrierefreien Duschbad, einem Schlaf-Wohnraum und einer im Flur dieser Wohnungen gelegenen auf zwei Herdplatten beschränkten Pantryküche. Daneben haben die Bewohner anteilig Gemeinschaftsräumlichkeiten angemietet. Sie befinden sich zwischen den jeweils sechs gegenüberliegenden Wohnungen und sind durch die Türen der Wohnungen unmittelbar zugänglich. Dabei handelt es sich um eine Gemeinschaftsküche, einem Wohn- und Essbereich, einem gemeinschaftlichen Bad/WC, einem Hauswirtschaftsraum und zwei Abstellräumen. Der Aufenthaltsraum und das Personal-WC für eine Pflegekraft sind ebenfalls Bestandteil der Gemeinschaftsfläche. Die insgesamt 616 qm große Wohneinheit ist durch eine Eingangstür zu betreten.

Mit Schreiben vom 13. Februar 2013 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Zahlung eines Wohngruppenzuschlags. Mit ihren Schreiben vom 21. Februar 2013 und 15. April 2013 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Da die Klägerin in einer eigenständigen abgeschlossenen Wohnung mit einer Kochstelle, einem WC und einem Bad lebe, handele es sich nicht um eine Wohngruppe im Sinne des Gesetzes. Auch wenn für andere Bewohner der Gemeinschaft Leistungszusagen von Pflegekassen erfolgt seien, sei die Zahlung eines Wohngruppenzuschlags nicht möglich.

In ihrem Schreiben vom 26. April 2013 erläuterte die Klägerin die Wohnsituation und legte ein vom Caritasverband erstelltes Konzept vor. Darin heißt es:

"Im Haus befindet sich im Erdgeschoss eine Ambulant Betreute Wohngemeinschaft. Die Wohngemeinschaft bietet jeweils 12 Senioren mit einem Hilfe-, Pflegebedarf ein zu Hause, die gern in Gemeinschaft sind aber auch den Wunsch nach Selbstbestimmung und individuellen Hilfen haben. Das Angebot richtet sich sowohl an Einzelpersonen als auch Ehepaare ( ). Aufgrund der familiären Atmosphäre ist diese Wohnform auch für Menschen mit einer Demenz geeignet. Neben den privaten Wohnungen gibt es einen großen Gemeinschaftsbereich mit integrierter großer Wohnküche und einem Wohnzimmer, welcher von allen nach individuellen Wünschen und Bedürfnissen genutzt werden kann. Der Gemeinschafts- bereich stellt den Mittelpunkt der Wohngemeinschaft dar. Hier wird der Alltag gelebt, es wird gemeinsam gekocht, gegessen, gespült etc. Gemäß ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen bringen sich die Mieter in den Alltag mit ein. Sie kommen sich gegenseitig zu Hilfe bei den anfallenden Aufgaben. Hierdurch wird die Gemeinschaft gestärkt, ein Wir-Gefühl entsteht. Jeder Mieter bewohnt separat eine kleine Wohnung ca. 35 qm (eigener Briefkasten und eigene Klingel vorhanden) mit einer kleinen Küche und einem Bad. Die zwölf Wohnungen sind stern- förmig um den Gemeinschaftsbereich angeordnet, so dass ein leichter Zugang zum eigenen Privatbereich und ebenso jederzeit ein Gemeinschafts- leben möglich ist. Wollen sie Ruhe und Zeit für sich haben, ziehen sie sich in ihre Wohnung zurück, suchen sie die Gemeinschaft, den Kontakt zu anderen Mietern und Mitarbeitern, öffnen sie die Tür und stehen unmittelbar in dem Gemeinschaftsbereich."

Mit Schreiben vom 29. Mai 2013 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin endgültig ab. Der Umstand, dass Gemeinschaftsflächen genutzt würden, ändere nichts daran, dass die Klägerin in einer eigenständigen Wohnung lebe.

Mit der am 03. September 2013 erhobenen Klage wiederholt und vertieft die Klägerin ihr außergerichtliches Vorbringen. Auf Anregung des Gerichts hat sie den Mietvertrag mit der L. GbR, den Vertrag mit der ambulanten Pflegeeinrichtung "Mobile Pflege des Caritasverbandes für das Dekanat C. e.V." sowie den Betreuungsvertrag mit dem Caritasverband für das Dekanat C. e.V. eingereicht. Auf Veranlassung der Klägerin hat schließlich die Vermieterin der streitigen Wohnung – die L. GbR – zur baulichen Struktur der Wohngemeinschaft unter dem 06. März 2014 eine Erläuterung nebst einer Zeichnung der Wohnflächennutzung vorgelegt.

Die Klägerin beantragt, die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin für die Zeit ab 01. Februar 2013 monatlich einen Wohngruppenzuschlag in Höhe von 200,- Euro zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie vertritt die Auffassung, die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zahlung eines Wohngruppenzuschlags seien nicht erfüllt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die von den Beteiligten vorgelegten Unterlagen Bezug genommen.

Gründe

Die Klage ist zulässig. Gemäß § 51 Abs. 2 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ist in privatrechtlichen Streitigkeiten in Angelegenheiten der privaten Pflegeversicherung der Rechtsweg zu den Sozialgerichten eröffnet. Da zwischen den Beteiligten ein Gleichordnungsverhältnis besteht, das eine einseitige hoheitliche Regelung durch Verwaltungsakt ausschließt, ist die Klage als echte Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 5 SGG ohne Einhaltung einer Klagefrist statthaft.

Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin hat nach § 192 Abs. 6 des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) in Verbindung mit § 4 Abs. 7a des Teils I (Bedingungsteil) der Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) für die private Pflegepflichtversicherung (MB/PPV 2013) und Nr. 13 des Tarifs PV (Tarifstufe PVN) Anspruch auf Zahlung eines Wohngruppenzuschlags in Höhe von 200,- Euro monatlich für die Zeit ab Antragstellung im Februar 2013.

Inhaltsgleich mit der durch das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz (PNG) vom 23. Oktober 2012 eingeführten und in der Sozialen Pflegeversicherung mit Wirkung ab 30. Oktober 2012 geltenden Vorschrift des § 38a des Sozialgesetzbuches – Elftes Buch – (SGB XI) regelt § 4 Abs. 7a MB/PPV 2013 die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Zahlung eines Wohngruppenzuschlags wie folgt:

"Die versicherte Person hat einen Anspruch auf einen pauschalen Zuschlag gemäß Nr. 13 des Tarifs PV, wenn 1. sie in ambulant betreuten Wohngruppen in einer gemeinsamen Wohnung mit häuslicher pflegerischer Versorgung lebt, 2. sie Leistungen nach Absatz 1 bis 7 bezieht, 3. in der ambulant betreuten Wohngruppe eine Pflegekraft tätig ist, die organisatorische, verwaltende oder pflegerische Tätigkeiten verrichtet, und 4. es sich um ein gemeinschaftliches Wohnen von regelmäßig mindestens drei Pflegebedürftigen handelt mit dem Zweck der gemeinschaftlich organisierten pflegerischen Versorgung, dem die jeweils maßgeblichen heimrechtlichen Vorschriften oder ihre Anforderungen an Leistungserbringer nicht entgegenstehen.

Keine ambulante Versorgungsform im Sinne von Satz 1 liegt vor, wenn die freie Wählbarkeit der Pflege-, und Betreuungsleistungen rechtlich oder tatsächlich eingeschränkt ist. Die von der Gemeinschaft unabhängig getroffenen Regelungen und Absprachen sind keine tatsächlichen Einschränkungen in diesem Sinne."

Nach der Óberzeugung der Kammer sind die persönlichen und sachlichen Anspruchsvoraussetzungen für einen pauschalen Zuschlag im Falle der Klägerin erfüllt. Sie ist pflegebedürftig und bezieht von der Beklagten Leistungen bei häuslicher Pflege. Sie lebt in einer Wohngruppe, in der eine Pflegekraft tätig ist, die organisatorische, verwaltende oder pflegerische Tätigkeiten verrichtet. Die gesetzliche Mindestzahl von drei pflegebedürftigen Mitgliedern der Wohngemeinschaft ist mit zwölf Bewohnern erfüllt. Eine Höchstgrenze ist nicht vorgegeben.

Ferner ist auch das Tatbestandsmerkmal der "gemeinsamen Wohnung" erfüllt. In seinem Rundschreiben vom 17. April 2013 zu den leistungsrechtlichen Vorschriften vom 17. April 2013 erläutert der GKV-Spitzenverband der Pflegekassen unter Punkt 2.2 zu § 38a SGB XI diesen Begriff wie folgt:

"Von einer gemeinsamen Wohnung kann ausgegangen werden, wenn der Sanitärbereich, die Küche und, wenn vorhanden, der Aufenthaltsraum einer abgeschlossenen Wohneinheit von allen Bewohnern jederzeit allein oder gemeinsam genutzt werden. Die Wohnung muss von einem eigenen, abschließbaren Zugang vom Freien, von einem Treppenhaus oder von einem Vorraum zugänglich sein. Es handelt sich nicht um eine gemeinsame Wohnung, wenn die Bewohner jeweils in einem Apartment einer Wohnanlage oder eines Wohnhauses leben."

Geht man von dieser Definition aus, dürfte das Kriterium der gemeinsamen Wohnung hier wohl nicht gegeben sein. Denn ein einziger Sanitätsbereich und eine einzige Küche werden im Falle der Klägerin nicht von allen Bewohnern gemeinsam genutzt. Nicht so eng definiert Griep (Sozialrecht aktuell 2013, 186/187) den Begriff der gemeinsamen Wohnung:

"Eine gemeinsame Wohnung dürfte vorliegen, wenn es sich um zusammenhängende Räume handelt, die einen nach außen hin begrenzten Wohnraum bilden. Hierbei kommt es auf die Abge- schlossenheit der Wohneinheit an, welche regelmäßig über einen eigenen verschließbaren Zugang erreichbar ist."

Das Erfordernis der Abgeschlossenheit der Wohneinheit ist im Falle der Klägerin erfüllt. Die im Erdgeschoss gelegene Wohngruppe ist nur durch eine gemeinsame Eingangstür zugänglich. Nach der Óberzeugung der Kammer kann die Annahme einer "gemeinsamen Wohnung" nicht deshalb verneint werden, weil die von den Bewohnern individuell genutzten "Wohnungen" mit einem eigenen Briefkasten und einer eigenen Klingel versehen sind und jeweils über den Wohn-Schlafraum hinaus auch über ein Duschbad und eine Pantryküche verfügen. Diese Umstände schließen nicht aus, dass die Bewohner als Gruppe in einer gemeinsamen Wohnung im Sinne des Gesetzes leben. Klingel und Briefkasten sollen erkennbar im Wesentlichen nur das Gefühl für die Möglichkeit der Privatheit des Wohnens bei den Pflegebedürftigen stärken. Sie können den Privatzimmern aber nicht das Gepräge eigenständiger, autarker Wohnungen geben. Entscheidend ist, dass nach dem Konzept der Wohngruppe, wie es auch im Grundriss der Wohneinheit zum Ausdruck kommt, im täglichen Leben das gemeinsame Wohnen einen großen Raum einnimmt. Die in den einzelnen Zimmern vorhandenen Kochgelegenheiten – ohne Backmöglichkeit – stellen keine vollwertige Küchen dar. Vielmehr steht – nicht nur räumlich – die Gemeinschaftsküche im Mittelpunkt, die mit 16 Sitzgelegenheiten den zwölf Bewohnern und ihren Betreuern ausreichend Platz bietet. Daneben bestehen über den gemeinsamen Wohnraum hinaus noch weitere gemeinschaftlich genutzte Flächen (etwa Hauswirtschaftsraum, Abstellräume, rollstuhlgerechte WC-Einheit).

Bei ihrer Auffassung, dass nicht der engen Auslegung des Tatbestandsmerkmals der "gemeinsamen Wohnung" durch den GKV zu folgen ist, stützt sich die Kammer auch auf die Gesetzesbegründung. Neue Wohn- und Betreuungsformen sollten durch die Einführung des Wohngruppenzuschlags gestärkt werden: "Neue Wohn- und Betreuungsformen zwischen der ambulanten und der stationären Versorgung entsprechen nicht nur den Bedürfnissen vieler Pflegebedürftiger. Sie tragen auch dazu bei, stationäre Pflege zu vermeiden. Dass die Organisation von pflegerischer Versorgung in Wohngruppen erleichtert wird, stärkt den Vorrang der ambulanten vor der stationären Versorgung" (BT-Drucks. 17/9369 S. 20). An anderer Stelle (BT-Drucks. 17/9369 S. 42) heißt es: "Die Neugründung von ambulanten Wohngemeinschaften von Pflegebedürftigen nach § 38a ist als sinnvolle Zwischenform zwischen der Pflege in der häuslichen Umgebung und der vollstationären Pflege gewollt." Diesem Gesetzeszweck würde eine Auslegung, die eine Förderung nur bei einem Wohnen in einer herkömmlich geschnittenen Wohnung mit einer Küche und einem Sanitärbereich für möglich hielte, zuwiderlaufen. Vielmehr erscheint die ambulant betreute Wohngemeinschaft, in der die Klägerin lebt, beispielhaft für eine förderungswürdige "sinnvolle Zwischenform".

Schließlich ist auch die Tatbestandsvoraussetzung "gemeinschaftliches Wohnen mit dem Zweck der gemeinschaftlich organisierten pflegerischen Versorgung" erfüllt. Zu Recht hat Griep (aaO S. 189) dargelegt, dass auch bei einer fremdorganisierten, professionell eingerichteten Wohngruppe – wie sie im Falle der Klägerin gegeben ist – ein Wohngruppenzuschlag nicht ausgeschlossen ist. Dies folgt aus der Bestimmung des § 38a Abs. 2 Satz 1 SGB XI (§ 4 Abs. 7a Satz 2 MB/PPV), wonach keine ambulante Versorgungsform im Sinne des Gesetzes vorliegt, wenn die freie Wählbarkeit der Pflege- und Betreuungsleistungen rechtlich oder tatsächlich eingeschränkt ist. Mit dieser Bestimmung – so folgert Griep (aaO) zu Recht – markiere der Gesetzgeber nämlich die Grenze, ab wann diese gemeinschaftlich selbst organisierte Wohngruppe nicht mehr vorliege. Zudem bestätigen die Gesetzesmaterialien diese Auslegung. In ihrer Stellungnahme zur Stellungnahme des Bundesrates stellt die Bundesregierung (BT-Drucks. 17/9669, S. 21) nämlich klar, dass eine "anbieterorientierte Wohngruppe" nicht ausgeschlossen sei. Es werde aber eine freie Wählbarkeit des Pflegedienstes zugunsten der Bewohner verlangt. "Ohne das Kriterium der freien Wählbarkeit würde die Grenze zwischen ambulanter und stationärer Versorgung verwässert."

Die freie Wählbarkeit der Pflege- und Betreuungsleistungen (vgl. hierzu auch Behrend in: JurisPK-SGB XI, 1. Auflage 2014, § 38a SGB XI, Rdnr. 25 ff) ist im Falle der Klägerin gegeben. Nach den von ihr vorgelegten Verträgen ist eine strikte Trennung des Mietvertrages, des Betreuungsvertrages und des Vertrages über die ambulante pflegerische Versorgung erfolgt. Insbesondere handelt es sich bei dem Vermieter – einer Investorengemeinschaft – und dem Pflegeanbieter um verschiedene juristische Personen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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