LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 19.03.2014 - L 13 AS 233/12
Fundstelle
openJur 2014, 7052
  • Rkr:
Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Oldenburg vom 31. Juli 2012 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten der Beteiligten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Gegenstand des Verfahrens ist eine Untätigkeitsklage, mit welcher die Kläger die Verurteilung des Beklagten zur Bescheidung eines Widerspruchs vom 28. Oktober 2010 begehren.

Die Kläger sind eine in gemeinsamem Haushalt und mithin in Bedarfsgemeinschaft lebende Familie, bestehend aus dem 1965 geborenen Kläger zu 1., der 1979 geborenen Klägerin zu 2. und zwei 2007 und 2008 geborenen Kindern, den Klägern zu 3. und 4.; sie standen bereits zuvor im Leistungsbezug von Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB), Zweites Buch (II) – Grundsicherung für Arbeitsuchende –. Der Beklagte bewilligte den Klägern aufgrund eines am 31. August 2010 gestellten Antrages mit Bescheid vom 27. Oktober 2010 Leistungen für den Zeitraum vom 31. August 2010 bis zum 31. Januar 2011. Die Leistungsbewilligung erfolgte vorläufig, mit der Begründung, die Einkommensverhältnisse seien noch nicht geklärt; der Kläger zu 1. hatte zu Beginn des Bewilligungszeitraums im Betrieb M. geringfügig gearbeitet, und ab November 2010, während des laufenden Bewilligungszeitraums, begann er eine neue Beschäftigung bei der N..

Die Kläger legten gegen den Bescheid vom 27. Oktober 2010, vertreten durch ihre Prozessbevollmächtigten, am 28. Oktober 2010 Widerspruch ein. Sie meinten, es werde in diesem Bescheid für die Zeit ab Oktober 2010 zu Unrecht ein Einkommen von monatlich 128,00 € berücksichtigt. Letztmalig habe der Kläger zu 1. aus seiner beendeten geringfügigen Tätigkeit im Betrieb M. eine Gehaltszahlung Ende September 2010 erhalten, und zwar in einer Größenordnung von 50,00 bis 60,00 € in bar.

Mit Bescheid vom 17. November 2010 erfolgte die endgültige Leistungsbewilligung für den Monat September 2010; im Übrigen bat die Rechtsvorgängerin des Beklagten um eine Einkommensbescheinigung in Bezug auf die am 8. November 2010 neu aufgenommene Tätigkeit bei der N. und erbat ferner die Vorlage von Verdienstabrechnungen der Firma M. sowie einen Nachweis über die Beendigung der Beschäftigung. Mit Datum vom 24. November 2010 erinnerte sie an die Erledigung. Eine Antwort erhielt sie nicht.

Unter dem 6. Januar 2011 forderte der Beklagte von den Arbeitgebern M. und N. Arbeitsbescheinigungen an, die am 27. Januar 2011 sowie am 9. Februar 2011 beim Beklagten eingingen. Am 31. Januar 2011 teilte der Kläger zu 1. telefonisch dem Beklagten mit, er sei weiterhin in Arbeit, und er verzichte auf Leistungen.

Seitens des Beklagten wurde alsdann festgestellt, dass sich aus den Verdienstbescheinigungen Abschlags- bzw. Vorschusszahlungen ergaben und daher Kontoauszüge angefordert werden müssten, denn für die Leistungsberechnung sei der exakte Zufluss der Arbeitseinkünfte wichtig. Unter dem 19. April 2011 forderte der Beklagte die Vorlage von Kontoauszügen an. Erst mit Schreiben vom 8. August 2011 übersandte der Prozessbevollmächtigte der Kläger Kontoauszüge; diese waren indes nicht ohne weiteres übersichtlich, und es fehlte der vollständige Monat Oktober 2010 sowie der Zeitraum vom 18. bis 31. Januar 2011. Dementsprechend forderte der Beklagte ergänzende Unterlagen an. Der Beklagte fragte bei den Prozessbevollmächtigten der Kläger mit Schreiben vom 2. November 2011 ferner an, wann die durch den Arbeitgeber M. bescheinigten Zahlungen für Juli bis September 2010 zur Auszahlung gekommen seien. Insoweit war aus den Kontoauszügen kein Erkenntnisgewinn möglich. Der Prozessbevollmächtigte übersandte ein Schreiben des Klägers zu 1. vom 5. November 2011, das nicht zur Klärung beitrug. Die N. wurde von dem Beklagten im Oktober 2011 unterdessen nochmals mit der Bitte angeschrieben, die, aufgrund erfolgter Vorschusszahlungen gesplitteten, Auszahlungsbeträge für die Monate November 2010 bis Januar 2011 hinsichtlich des jeweiligen Zahlungszeitpunkt näher darzustellen.

Am 14. Dezember 2011 haben die Kläger die hier streitgegenständliche Untätigkeitsklage mit dem Ziel erhoben, den Beklagten zu verpflichten, über den Widerspruch vom 28. Oktober 2010 zu entscheiden. Zur Begründung haben sie ausgeführt, für die Nichtbescheidung sei kein zureichender Grund erkennbar. Der Beklagte habe über sämtliche für die Entscheidung über den Widerspruch erforderlichen Nachweise verfügt. Sie, die Kläger, hätten alles ihnen Mögliche unternommen, um den Beklagten ausreichend zu informieren, und der Beklagte hätte längst über den Widerspruch entscheiden können.

Der Beklagte ist der Klage entgegen getreten und hat darauf hingewiesen, immer noch fehlten Teile der Kontoauszüge, um bestimmen zu können, wann die ausgezahlten Teilbeträge zugeflossen seien, und der Arbeitgeber M. sei in diesem Zusammenhang noch am 30. November 2011 angeschrieben worden. Der Prozessbevollmächtigte der Kläger sei zu jedem Zeitpunkt informiert gewesen, dass fehlende Unterlagen benötigt werden. Im Verlauf von mehr als einem Jahr sei er nicht in der Lage gewesen, die erforderlichen Unterlagen durch seine Mandanten vorzulegen, oder er habe dies lückenhaft getan und habe damit die Bearbeitung des Widerspruchs verzögert. Zudem sei aus den Kontoauszügen auch nicht ersichtlich, wann der Abschlagsbetrag in Höhe von 1.100,00 € von dem Gehalt für Januar 2011 von der N. dem Kläger zu 1. zugeflossen sei, insbesondere ob dies im Januar oder Februar 2011 gewesen sei, da der Kontoauszug Nr. 2 aus 2011 ebenfalls fehle. Aufgrund der mehrfachen Aufforderung und der fehlenden Mitwirkung erscheine die Erhebung einer Untätigkeitsklage rechtsmissbräuchlich. Der Einkommenszufluss sei für den gesamten Zeitraum zu prüfen gewesen, so dass mangels Vorlage aller benötigten Unterlagen auch nicht über den Widerspruch habe entschieden werden können. Bei Nichtvorlage der erforderlichen Unterlagen könne nicht einfach ein ablehnender Bescheid ohne inhaltliche Prüfung ergehen. Anders als im Antragsverfahren könnten im Widerspruchsverfahren nicht wegen fehlender Mitwirkung die Leistungen versagt werden. Er, der Beklagte, habe zu keiner Zeit über hinreichende Informationen für die Bescheidung des Widerspruchs verfügt.

Mit Gerichtsbescheid vom 31. Juli 2012 hat das SG Oldenburg den Beklagten verurteilt, den Widerspruch der Kläger vom 28. Oktober 2010 gegen den Bescheid vom 27. Oktober 2010 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 17. November 2011 hinsichtlich des Zeitraums vom 1. September 2010 bis zum 31. Januar 2011 zu bescheiden. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, eine etwaige fehlende Mitwirkung des Klägers zu 1. stelle keinen sachlichen Grund für die Nichtbescheidung des Widerspruchs dar. Hierfür spreche bereits entscheidend, dass ein Widerspruch nicht einmal begründet werden müsse, um eine grundsätzliche Pflicht der Behörde zur Bescheidung auszulösen. Eine mangelnde Mitwirkung könne nicht dazu führen, dass der Beklagte einen hinreichenden Grund für eine gänzliche Nichtbescheidung habe. Zudem sei nicht erkennbar, welche weitere Mitwirkungshandlung die Kläger hätten erbringen sollen, da der Kläger zu 1. den monatlichen Verdienst in bar ausgehändigt bekommen habe und damit keinen Zuflusszeitpunkt nachweisen könne. Die Einholung etwaiger Auskünfte des Arbeitsgebers obliege der Amtsermittlungspflicht des Beklagten. Auch die Anforderung der Vorlage des weiteren Kontoauszuges Nr. 2 aus dem Jahr 2011 stelle kein zielführende Mitwirkungshandlung dar, da der Kläger zu 1. das Einkommen monatlich in bar erhalten habe.

Gegen den seinen Prozessbevollmächtigten am 2. August 2012 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Beklagte am 3. September 2012 Berufung eingelegt. Er meint, über einen hinreichenden Grund zu verfügen, dass über den Widerspruch vom 28. Oktober 2010 nicht habe entschieden werden können, denn der Zufluss des Einkommens für den Monat Januar 2011 sei nach wie vor unklar. Ausweislich der vorliegenden Kontoauszüge sei das Gehalt aus der Beschäftigung bei der N. nicht in bar ausgezahlt, sondern überwiesen worden. Allerdings fehle noch der Kontoauszug Nr. 2 für das Jahr 2011 bzw. ein Nachweis, wann das Einkommen für den Monat Januar 2011 zugeflossen sei. Zudem mache nach der Rechtsprechung des Senats bereits eine unterbliebene Widerspruchsbegründung eine Klage mutwillig, dies müsse erst recht bei einer unterlassenen Mitwirkung gelten.

Der Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Oldenburg vom 31. Juli 2012 aufzuheben

und

die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie meinen, es handele sich um einen Widerspruch gegen einen vorläufigen Bescheid nach § 328 Sozialgesetzbuch (SGB), Drittes Buch (III) – Arbeitsförderung –, den der Beklagte auch in der Weise entscheiden könne, dass der Widerspruch mit der Begründung zurückgewiesen werde, hinreichende Erkenntnisse für den Erlass eines endgültigen Bescheides lägen weiterhin nicht vor.

Der Berichterstatter des Senats hat am 16. Januar 2013 mit den Beteiligten einen Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage durchgeführt. Mit Schriftsätzen vom 3. bzw. 30. September 2013 haben sich die Beteiligten mit einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen, die dem Gericht vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.

Gründe

Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz –SGG–) eingelegte Berufung ist zulässig (§ 143 SGG), aber nicht begründet. Der Beklagte war verpflichtet, über den Widerspruch der Kläger vom 28. Oktober 2010 grundsätzlich innerhalb der Frist des § 88 Abs. 2 SGG zu entscheiden.

Nach § 88 Abs. 2 SGG ist eine Klage nicht vor Ablauf von drei Monaten zulässig, wenn ein Widerspruch ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht beschieden worden ist. Die Frist war bei Klageerhebung seit langer Zeit abgelaufen, und der für einen zureichenden Grund darlegungspflichtige Beklagte hatte keinen hinreichenden Grund für die Nichtbescheidung.

Der Leistungsträger darf eine Untätigkeit zunächst nicht damit rechtfertigen, dass der Antragsteller möglicherweise seinen Mitwirkungspflichten i. S. der §§ 60 ff. Sozialgesetzbuch (SGB), Erstes Buch (I) - Allgemeiner Teil - nicht nachgekommen ist. Ggf. muss der Leistungsträger nämlich nach § 66 SGB I vorgehen, um einer Untätigkeitsklage die Grundlage zu entziehen (Bundessozialgericht – BSG –, Urteil vom 26. August 1994 – L 13 RJ 17/94 – juris Rdn. 20; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16. Mai 2013 – L 19 AS 535/13 B –, juris Rdn. 19, m. w. Nachw.). Auch im vorliegenden Falle der zunächst vorläufigen Leistungsbewilligung gilt im Ergebnis nichts anderes. Denn der Beklagte hätte hier die Möglichkeit gehabt, den Widerspruch mit der Begründung zurückzuweisen, dass eine endgültige Entscheidung auch weiterhin, nach Durchführung des Widerspruchsverfahrens, wegen unzureichender Erkenntnisgrundlage nicht möglich war und es dementsprechend zunächst bei der vorläufigen Entscheidung zu verbleiben hatte. Ein Widerspruch gegen einen vorläufigen Verwaltungsakt ist insoweit nicht ohne Weiteres mit einem Antrag auf Erlass eines endgültigen Verwaltungsakts gleichzusetzen; soweit dieser Widerspruch gemäß seiner Zielrichtung ausdrücklich auf Erlass eines endgültigen Verwaltungsakts statt eines vorläufigen Verwaltungsaktes gerichtet ist, besteht indes ebenfalls die Möglichkeit, den Widerspruch aus Gründen einer nach wie vor nicht ausreichenden Erkenntnisgrundlage zurückzuweisen.

Ob die Voraussetzungen des § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i. V. mit § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB III bei Klageerhebung weiterhin vorgelegen haben, ist demnach für den Ausgang des Rechtsstreits unerheblich, denn Streitgegenstand ist lediglich die Pflicht des Beklagten zur Bescheidung. Insoweit genügt die Feststellung, dass auch eine ggf. unklare Tatsachengrundlage den Beklagten nicht daran gehindert hat, über den Widerspruch in der Sache zu entscheiden, erforderlichenfalls in dem Sinne, ihn aufgrund weiterhin nicht ausreichender Erkenntnisgrundlage zurückzuweisen.

Die Kläger sind bei alledem ihren Mitwirkungspflichten nach § 60 Abs. 1 SGB I nur unzureichend nachgekommen. Nach Einlegung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 27. Oktober 2010, die am 28. Oktober 2010 erfolgte, haben sie auf die Bitte um Vorlage von Verdienstabrechnungen, Einkommensbescheinigungen und einen Nachweis über die Beendigung der Beschäftigung zunächst gar nicht und später zögerlich reagiert. Die Bitte um Vorlage von Kontoauszügen für den Zeitraum vom 31. August 2010 bis zum 31. Januar 2011 wurde spät und auch nur unzureichend erfüllt. Gleichwohl ist der Senat nicht mit dem Beklagten der Meinung, dass die Erhebung einer Untätigkeitsklage mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig wäre. Der Senat folgt vielmehr der Vorinstanz in der Auffassung, dass eine etwaige fehlende Mitwirkung keinen sachlichen Grund für die Nichtbescheidung des Widerspruchs darstellt, wie sich aus den vorstehenden Ausführungen und der genannten Entscheidung des BSG (Urteil vom 26. August 1994, a. a. O.) ergibt.

Der Hinweis des Beklagten, dass nach der Rechtsprechung des Senats bereits eine unterbliebene Widerspruchsbegründung eine Klage mutwillig erscheinen lässt (vgl. Beschluss vom 6. August 2012 – L 13 AS 135/12 –), trifft bei alledem zu. Dies aber ist vor dem Hintergrund der Kostenlastentscheidung zu sehen. Mutwillig handelt derjenige, der von vornherein den kostspieligeren Weg wählt und sich nicht so verhält, wie dies eine bemittelte Partei getan hätte, wenn sie in der gleichen Lebenssituation gewesen wäre und in verständiger Art und Weise ihre Belange vertreten wollte (Senat, Beschluss vom 17. Januar 2011 – L 13 AS 16/11 B –; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 69. Auflage 2011, § 114 Rdn. 107). Von Mutwilligkeit der Rechtsverfolgung wird etwa in Angelegenheiten der Prozesskostenhilfe in der Regel dann ausgegangen, wenn ein bemittelter verständiger Beteiligter, der für seine Prozesskosten selbst aufzukommen hat, seine Rechte nicht in gleicher Weise, z. B. durch Klageerhebung, geltend gemacht, sondern vernünftigerweise einen kostengünstigeren Weg zur Durchsetzung seiner Rechte gewählt hätte (vgl. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 73a Rdn. 8).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt den soeben wiedergegebenen Grundsätzen der Senatsrechtsprechung. Eine Kostenerstattung entspräche nicht der Billigkeit, denn die Erhebung der Untätigkeitsklage war – wegen mangelhafter Mitwirkung und wegen unterbliebener nochmaliger Erinnerung an die Entscheidung unter Androhung einer Untätigkeitsklage – mutwillig. Da es sich bei der nach § 193 SGG zu treffenden Ermessensentscheidung um eine Billigkeitsentscheidung handelt, bei der alle Umstände des Einzelfalls in die Entscheidungsfindung einbezogen werden können, ist nicht etwa nur und vornehmlich auf den Erfolg der Klage abzustellen, sondern eine Gewichtung aller Kriterien vorzunehmen, die vorliegend zu einer Versagung eines Kostenerstattungsanspruchs führt.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 1 und Abs. 2 SGG liegen nicht vor.