Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 27.03.2012 - 2 Ws (Reha) 28/11
Fundstelle
openJur 2014, 6196
  • Rkr:

1. Im Verfahren der strafrechtlichen Rehabilitierung unterliegen gemäß § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1 StrRehaG allein die jeweiligen behördlichen Entscheidungen einer Überprüfung, so dass regelmäßig nur die Gründe für die Anordnung der Heimerziehung ausschlaggebend für die Rehabilitierungsentscheidung sein können, nicht aber die jeweiligen Bedingungen der Unterbringung im Heim.

2. Ob ein grobes Missverhältnis zwischen dem Anlass für die Heimerziehung und den angeordneten Konsequenzen vorliegt (§ 1 Abs. 1 Nr. 2, § 2 Abs. 1 StrRehaG), kann sachgerecht nur unter Berücksichtigung der Art und Weise der festgelegten Rechtsfolgen beurteilt wer-den. Insoweit sind auch der Charakter der konkret angeordneten Heimunterbringung (z.B. in einem Spezialheim) und die aufgrund der allgemein vorherrschenden Lebensbedingungen in den Heimen für den Betroffenen entstehenden Konsequenzen zu berücksichtigen.

Tenor

Auf die Beschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der Kammer für Rehabilitierungsverfahren des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 29. März 2011 aufgehoben.

Der Beschluss des Rates der Stadt Frankfurt (Oder), Abt. Volksbildung, Jugendhilfeausschuss, vom 15. März 1979 (Nr.: 21/79), mit dem die Heimerziehung des Betroffenen in einem Spezialheim angeordnet wurde, sowie die Verfügung des Aufnahmeheims der Jugendhilfe Eilenburg vom 12. März 1979 über die Einweisung des Betroffenen in das Spezialkinderheim "Wilhelm Pieck" in Pritzhagen werden für rechtsstaatswidrig erklärt und aufgehoben.

Der Betroffene hat vom 21. September 1979 bis zum 4. Juli 1981 zu Unrecht Freiheitsentziehung erlitten.

Die notwendigen Auslagen des Betroffenen trägt die Staatskasse.

Gründe

I.

Die Betroffene begehrt Rehabilitierung für seine Unterbringung im Spezialkinderheim "Wilhelm Pieck" in Pritzhagen im Zeitraum vom 21. September 1979 bis zum 4. Juli 1981. Grundlage für die Unterbringung waren der Beschluss des Rates der Stadt Frankfurt (Oder) vom 15. März 1979 sowie die darauf beruhende Verfügung des Aufnahmeheims der Jugendhilfe Eilenburg vom 12. September 1979 über die Heimeinweisung.

Am 25. Juni 1981 hat der Rat der Stadt Frankfurt (Oder) die Entlassung des Betroffenen aus der Spezialheimerziehung und die Verlegung in ein Normalheim zum Schuljahresbeginn 1981/82 angeordnet (Nr. 66/81). Nach seiner Entlassung aus dem Spezialkinderheim befand sich der Betroffene ab dem 24. August 1981 im Kinderheim "E. Thälmann" Eisenhüttenstadt, ab dem 14. Dezember 1982 im Durchgangsheim Bad Freienwalde sowie ab März 1983 bis zum 1. Juli 1983 im Kinderheim "Dr. Richard Sorge" in Groß Schönebeck. Diese Unterbringungen sind nicht Gegenstand des Rehabilitierungsverfahrens, denn der Betroffene wendet sich nur gegen seine Einweisung in das Spezialkinderheim, die er trotz bestehender Erziehungsschwierigkeiten und Schuleschwänzens aufgrund der haftähnlichen Zustände im Heim, in dem er erniedrigt und als Kind zu schwerer Arbeit gezwungen worden sei, als überzogen und rechtsstaatswidrig ansieht. Er vermutet einen Zusammenhang zwischen der sofortigen Anordnung einer Erziehung im Spezialkinderheim und dem Umstand, dass seine damalige Lehrerin (Frau H.) für das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR tätig gewesen sei.

Die Kammer für Rehabilitierungsverfahren des Landgerichts Frankfurt (Oder) hat den Rehabilitierungsantrag zurückgewiesen, weil sachwidrige, insbesondere politische Gründe für die Einweisung in das Spezialkinderheim nicht ersichtlich seien: es seien "erhebliche Erziehungsdefizite und fehlende soziale Kompetenzen" des Betroffenen festgestellt worden. Da auch die Mutter die weitere Erziehung nicht habe gewährleisten können, sei eine Heimeinweisung, die auch in freiheitlich- rechtsstaatlichen Ordnungen möglich und in derartigen Fällen auch nötig sei, unumgänglich gewesen. Es liege ferner auch keine Übermaßentscheidung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 2, § 2 Abs. 1 StrRehaG vor. Es sei nicht erkennbar, dass im Spezialkinderheim Bedingungen herrschten, welche die Einweisung dorthin ohne Rücksicht auf deren Grund bereits an sich als rechtsstaatswidrig erscheinen ließen.

Gegen diesen Beschluss hat der Betroffene Beschwerde eingelegt. Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.

II.

Die gemäß § 13 Abs. 1 StrRehaG zulässige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Rehabilitierung des Betroffenen.

Die getroffene Anordnung der Unterbringung des Betroffenen in einem Spezialkinderheim ist mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar, weil die angeordneten Rechtsfolgen in grobem Missverhältnis zu dem der Heimeinweisung zu Grunde liegenden Sachverhalt stehen (§ 2 Abs. 1, § 1 Abs. 1 Nr. 2 StrRehaG).

a) Behördliche Entscheidungen der ehemaligen DDR über eine Heimunterbringung unterliegen der strafrechtlichen Rehabilitierung, wenn sie der politischen Verfolgung bzw. sonst sachfremden Zwecken gedient haben oder die angeordneten Rechtsfolgen in einem groben Missverhältnis zu dem zu Grunde liegenden Anlass stehen (§ 2 Abs. 1, § 1 Abs. 1 StrRehaG). Dabei bedarf der Gesichtspunkt des freiheitsentziehenden Charakters einer solchen Maßnahme nach der obergerichtlichen Rechtsprechung keiner gesonderten Überprüfung, denn hierfür streitet gemäß § 2 Abs. 1 Satz 2 StrRehaG eine gesetzliche Vermutung (vgl. Thüringer Oberlandesgericht, Beschl. v. 17. Januar 2012 - 1 Ws Reha 50/11, zit. nach Juris).

aa) Nach dem Wortlaut und der Systematik des Gesetzes unterliegen allein die jeweiligen behördlichen Entscheidungen einer Überprüfung im Rehabilitierungsverfahren. Lediglich auf ihre Rechtsstaatswidrigkeit kommt es an, so dass grundsätzlich nur die Gründe für die Anordnung der Heimerziehung ausschlaggebend für die Rehabilitierungsentscheidung sein können, nicht aber die jeweiligen Bedingungen der Unterbringung im Heim (vgl. Wapler, Rechtsfragen der Heimerziehung in der DDR in: Expertisen zur Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR, S. 99). Dies entspricht gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung (KG, Beschl. v. 30. September 2011 - 2 Ws 641/10 REHA,; OLG Naumburg, Beschl. v. 2. November 2011 - 2 Ws Reh 276/11, jeweils zit. nach Juris; OLG Rostock, Beschl. v. 27. Oktober 2010 - WsRH 33/10, BeckRS 2010, 28836; Thüringer Oberlandesgericht, Beschl. v. 17. September 2010 - 1 Ws Reha 50/10, BeckRS 2010, 25902).

bb) Daraus folgt allerdings nicht, dass das Ausmaß des mit der Anordnung der Heimunterbringung verbundenen Eingriffs bei der Beurteilung der Frage der Rechtsstaatswidrigkeit bedeutungslos bleibt. Ob ein grobes Missverhältnis zwischen dem Anlass für die Heimerziehung und den angeordneten Konsequenzen vorliegt, kann sachgerecht nur unter Berücksichtigung der Art und Weise der festgelegten Rechtsfolgen beurteilt werden. Daraus ergibt sich, dass auch der Charakter der konkret angeordneten Heimunterbringung und die aufgrund der allgemein vorherrschenden Lebensbedingungen in den Heimen für den Betroffenen entstehenden Konsequenzen nicht ohne Relevanz sind (vgl. Wapler, aaO. S. 99). Demgemäß ist bei Einweisungen in Spezialheime der DDR, auch wenn diese nicht generell als rechtsstaatswidrig zu werten sind (vgl. hierzu KG - Beschl. v. 28. Oktober 2011, 2 Ws 177/11 Reha, zit. nach Juris; Wapler, aaO. S. 101), zu beachten, dass sich eine solche Maßnahme gegenüber der Anordnung von Unterbringungen in Normalheimen als für den Betroffenen deutlich belastender darstellt. Gemäß § 1 Abs. 2 und 3 der Anordnung über die Spezialheime der Jugendhilfe vom 20. April 1965 (Gesetzblatt der DDR Teil II Nr. 53, Seite 368) sollte in den Spezialkinderheimen für schwer erziehbare Kinder ein Prozess der "Umerziehung" im Rahmen einer "straffen Ordnung und Disziplin" vollzogen werden. Ein Fall der "Schwererziehbarkeit" stand nach der Rechtspraxis der ehemaligen DDR bereits dann im Raum, wenn aufgrund von Konflikten zwischen dem Individuum und dem Kollektiv individuelle Defizite des Kindes beobachtet wurden und Anlass für die Herbeiführung eines Wandels der Persönlichkeitsstruktur gesehen wurde. Es war Teil der Erziehungsideologie, zur Erzwingung der gesellschaftlichen Anpassung - notfalls mit Gewalt und psychischem Zwang - den Willen des Betroffenen zu brechen, um ihn dazu zu bringen, "die Überordnung von kollektiven und gesellschaftlichen Interessen anzuerkennen und als sinnvoll zu akzeptieren" (Sachse, Der letzte Schliff, Jugendhilfe der DDR im Dienst der Disziplinierung von Kindern und Jugendlichen, S. 88f.; Wapler, aaO. S. 73f.). Dazu dienten neben straff organisierten Tagesabläufen im Heimalltag, in dem wenig Raum für eigenständige Initiativen und Freizeitbeschäftigungen gegeben wurde, auch Bestrafungen bei Verstößen gegen Regelungen und Heimordnungen. Ferner wurden Kinder und Jugendliche in Spezialheimen aus Gründen der Disziplinierung und Beschäftigungstherapie zu - zum Teil auch unproduktiven und überflüssigen, mitunter sehr schweren - Arbeiten herangezogen, mussten beispielsweise nach der Schule bei der Ernte helfen und Kabelgräben schaufeln (Sachse, aaO., S. 102 ff.). Unabhängig von darüber hinaus bestehenden Besonderheiten - wie unzureichender materieller und personeller Ausstattung der Heime und in vielen Fällen auch besonders unwürdiger Unterbringungsbedingungen (vgl. Sachse, aaO., S. 114 ff.) - war die Einweisung in ein Spezialheim für den Betroffenen typischerweise mit besonderen Belastungen verbunden, die im Rehabilitierungsverfahren bei der Prüfung eines Verstoßes gegen das Übermaßverbot zu berücksichtigen sind.

b) Die Anordnung der Unterbringung des Betroffenen in einem Spezialkinderheim stellt angesichts des zu Grunde gelegten Sachverhaltes einen Verstoß gegen das Übermaßverbot dar und ist als rechtsstaatswidrig anzusehen.

aa) In dem Beschluss des Rates der Stadt Frankfurt (Oder) über die Anordnung der Heimerziehung in einem Spezialheim vom 15. März 1979 wird als "pädagogische Zielstellung" festgelegt, dass der Betroffene "zu einem ausgeglichenen fleißigen Schüler erzogen wird und einen Platz in unserer Gesellschaft findet". Zu den gegenwärtigen Lebens- und Erziehungsverhältnissen ist u.a. festgestellt, dass die Familie des Betroffenen aufgrund der Betreuung der älteren sechs Geschwister und erheblicher Erziehungsschwierigkeiten bereits seit längerem bekannt sei. Der Betroffene lebe im Haushalt der allein erziehenden Mutter derzeit zusammen mit seiner Schwester Renate. Die sozialen Beziehungen seien für den Betroffenen von klein an stark gestört. Er habe bisher in diesem Schuljahr 65 Fehltage. Die Mutter gehe regelmäßig arbeiten und mache in den Abendstunden und an den Wochenenden oft Sonderschichten, um ihre finanzielle Lage aufzubessern. Dadurch seien die Kinder oft allein und sich selbst überlassen. Leistungsschwächen des Betroffenen bestünden besonders in den Fächern Mathematik und Orthographie. Der Betroffene sei nicht in der Lage, einen Text mitzuschreiben, könne sich nicht über längere Zeit konzentrieren und arbeite kaum im Unterricht mit. Er prügele oft unbeherrscht auf Mitschüler ein. Es sei zu Diebstahlshandlungen im Selbstbedienungsladen und bei Mitschülern gekommen. Die Mutter habe nicht immer das nötige Verantwortungsbewusstsein aufgebracht und sei einigen Aussprachen ferngeblieben. Es fehle die nötige Zusammenarbeit mit der Schule. Die Beziehungen zwischen Mutter und Sohn seien stark gestört. Die Mutter habe keinen erzieherischen Einfluss auf ihren Sohn. Da die weitere Entwicklung stark gefährdet sei, sei die "Herausnahme aus seinem jetzigen Milieu erforderlich".

bb) Nach dem Inhalt der Heimerziehungsakte beruht die Anordnung der Heimunterbringung im Wesentlichen auf den Anträgen der Klassenleiterin M. H. vom 15. Januar und 9. März 1979. Die Begründung des Antrags auf Heimerziehung vom 15. Januar 1979 belegt, dass es zwar nicht unerhebliche Schwierigkeiten und Probleme bei der Erziehung des Betroffenen aufgrund seiner persönlichen Entwicklung und der familiären Umstände gegeben hat, die auch nach rechtsstaatlichen Maßstäben Anlass zu Maßnahmen seitens des Jugendamtes gegeben haben. Demgemäß mag auch die Anordnung einer Heimunterbringung an sich nicht rechtsstaatswidrig gewesen seien, was seitens des Betroffenen so auch hingenommen wird. Dies gilt jedoch nicht für die Einweisung in ein Spezialkinderheim, die hierzu klar außer Verhältnis stand.

Insbesondere rechtfertigen die geschilderten Tatsachen nicht die Annahme, dass die "Beziehungen zwischen Mutter und Kind stark gestört" seien und die Mutter nicht in der Lage gewesen sei, "ihren Sohn zu erziehen". Bedeutende Missstände finden sich zwar insoweit, als der Betroffene in erheblichem Umfang, nämlich an 65 Tagen, die Schule geschwänzt hat, oft andere Kinder prügelte und es "zu einem Diebstahl in einem Selbstbedienungsladen und zum Diebstahl eines Eisenautos" bei einer Familie gekommen ist. Ansonsten beruht die Begründung des Antrags jedoch in weiten Teilen auf einer nicht tragfähigen, bisweilen unsachlichen Bewertung. Es wird ausgeführt, dass die Mutter regelmäßig ihrer Arbeit nachgehe, die Wohnung (drei Zimmer, Küche, Bad) sauber sei und der Betroffene selbst saubere Kleidung habe. Gleichwohl heißt es: "Die Kinder sind liederlich (Es sind keine Anfänge von anerzogenem Ordnungssinn zu erkennen.)". Ohne nähere Konkretisierung wird der Betroffene als "körperlich in der Entwicklung zurückgeblieben" bezeichnet, wobei dann eingeschätzt wird, dass er "dennoch (…) zäh" sei und "bei Wind und Wetter" "herumstreune". Zur "intellektuellen Entwicklung" werden seine schulischen Leistungen - in teilweise herabwürdigender Weise - negativ bewertet: er sei "nicht in der Lage", einen "Text ab- oder mitzuschreiben". Er könne "nicht lesen" und erfülle die Anforderungen der 5. Klasse nicht. Ursachen hierfür seien "in seiner Unfähigkeit zur Konzentration zu suchen." Er könne "keine Schulstunde lang still sitzen", wodurch es zu erheblichen Störungen des Unterrichtsverlaufs komme. Besonders gefährdet seien Schüler, "die sich durch seine abenteuerliche Lebensweise und durch sein nicht normentsprechendes Verhalten anziehen" ließen. Der Betroffene habe "keine reale Einstellung zu den gesellschaftlichen Normen, diesbezügliche Willensqualitäten wurden nicht anerzogen bzw. fehlen". "Kollektive Verhaltensweisen" seien nicht entwickelt. Die Mutter sei "zur Elternaktivwahl am 28.9.1978" eingeladen worden, um Maßnahmen festzulegen. Sie sei nicht gekommen. Auch zu einer Elternversammlung am 7. Dezember 1978 sei sie nicht erschienen. Nach einem Hausbesuch am 4. Januar 1979 sei im Gespräch mit der Mutter klar geworden, dass sie selbst nicht die "Fähigkeit, Konsequenz und nötige Bereitschaft" aufbringe, um den Betroffenen "in ein geregeltes Leben einzuführen". Sie kontrolliere "seine Schulsachen nicht, die sich in einem sehr unordentlichen Zustand" befänden. Der "Wille zu einem konsequenten pädagogischen Konzept in Zusammenarbeit mit der Schule" fehle. Die Mutter könne "kaum Einfluss auf ihren Sohn nehmen".

Im Ergebnis dessen ist zum "pädagogische Vorschlag (Begründung für den Antrag auf Heimerziehung)" im Antrag Folgendes ausgeführt:

"Das Elternhaus hat keinen Einfluss auf B. Eine konsequente und enge Zusammenarbeit mit der Schule gibt es nicht. Demzufolge sind die Beziehungen zwischen Mutter und Kind stark gestört. Frau N. ist nicht in der Lage, ihren Sohn zu erziehen. Durch sein fehlendes normgerechtes Verhalten hat er einen schlechten Einfluss auf andere Schüler der Klasse. Seine Freunde sucht sich B. in einem ebenso gefährdet Milieu. Seine Entwicklungstendenzen für die Zukunft sind stark asozial geprägt. Darum scheint es mir unumgänglich, B. seiner Umwelt zu entziehen. Nur so ist es möglich, ihm grundlegende Verhaltensqualitäten anzuziehen. Ebenso ist es wichtig, dass die von mir genannten Schüler der Klasse dem negativen Einfluss B.s entzogen werden."

cc) Diese Bewertung zeigt, dass der damals 13 Jahre alte Betroffene nicht uneingeschränkt als Individuum mit eigenen Bedürfnissen nach Fürsorge und Entfaltung angesehen wurde, sondern aufgrund seiner - jedenfalls teilweise als durchaus jugendtypisch anzusehenden und nicht völlig ungewöhnlichen - Entwicklungsschwierigkeiten aus seinem sozialen Umfeld entfernt, vorübergehend "weggesperrt" und diszipliniert werden sollte. Der "pädagogische Vorschlag" steht dabei durchaus im Einklang mit der in der damaligen Rechtspraxis der DDR verbreiteten Haltung, ein anderes Leben als das eines fleißigen und staatsbejahenden Schülers als "asozial" zu stigmatisieren (vgl. hierzu Wapler, aaO. S. 69). Eine tragfähige Begründung für die Einschätzung, dass die Mutter auch durch entsprechende Hilfestellungen seitens der Jugendbehörden zu einer Entziehung des Betroffenen "nicht in der Lage" gewesen sei, ist dabei nicht erkennbar. Die häuslichen Verhältnisse werden nicht als besonders ungewöhnlich beschrieben. Die Annahme einer nicht vorhandenen Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der Schule beruht offensichtlich auf überzogenen Anforderungen (Nichtteilnahme an einer Elternversammlung, Nichterscheinen zu einem vereinbarten Gesprächstermin, keine Kontrolle der Schulsachen) und hat insoweit keine ausreichende Tatsachengrundlage.

Auch nach der Rechtslage der ehemaligen DDR sollten bei festgestellten Erziehungsproblemen nur dann Maßnahmen der Jugendbehörden ergriffen werden, wenn eine Erziehung bei den Eltern auch "mit gesellschaftlicher Unterstützung" nicht gesichert war (§ 50 Abs. 1 Satz 1 StGB/DDR). Nach der Auslegung des Ministeriums für Volksbildung war familienerhaltenden Maßnahmen auch für die Anordnung der Heimerziehung der Vorrang einzuräumen. Die Heimerziehung sollte nur als letztes Mittel angewandt werden, wenn alle anderen Möglichkeiten versagt hatten (Wapler, aaO. S. 53). Auf dieser Grundlage spricht schon einiges dafür, dass bereits die Anordnung einer Heimerziehung an sich ungerechtfertigt - wenngleich möglicherweise noch nicht rechtsstaatswidrig - war. Jedenfalls die Unterbringung in einem Spezialkinderheim stellt einen Verstoß gegen das Übermaßverbot dar, weil diese Maßnahme aufgrund der durch Repression und Ausübung von Zwang geprägten Konzeption der Spezialheime der ehemaligen DDR und angesichts der dort allgemein vorherrschenden Unterbringungsbedingungen regelmäßig mit besonders starken Belastungen für die betreffenden Kinder und Jugendlichen verbunden war. Angesichts der zu Grunde gelegten tatsächlichen Umstände lag, wenn auch nicht die Heimeinweisung an sich, so doch aber jedenfalls die Einweisung in ein Spezialkinderheim derart fern, dass sie angesichts der damit verbundenen Konsequenzen für den Betroffenen als rechtsstaatswidrig anzusehen ist.

Die gravierenden Folgen, die aus der angeordneten Erziehung in einem Spezialheim resultierten, belegen exemplarisch auch die vom Betroffenen geschilderten Zustände im Spezialkinderheim Pritzhagen, die insgesamt denjenigen entsprechen, die dem Senat aus anderen Verfahren, durch Publikationen und durch Berichte von Zeitzeugen (Glocke, Erziehung hinter Gittern: Schicksale in Heimen und Jugendwerkhöfen der DDR; Sachse, aaO., S. 205 ff.) bekannt geworden sind, auch wenn es je nach Heim nicht unerhebliche Unterschiede gegeben haben mag: Das Gelände in Pritzhagen war mit einem hohen Zaun umschlossen. Sämtliche Fenster waren vergittert. Der Tagesablauf war streng reglementiert. Die Kinder durften lediglich einmal monatlich für zwei Stunden Besuch empfangen und nur einmal monatlich einen Brief an ihre Angehörigen schreiben. Sie mussten alte, schäbige, abgetragene und abgenutzte Kleidung tragen. Schnüre dienten als Gürtel. Der Betroffene hat ferner berichtet, dass sie zwischen drei und vier Stunden täglich schwere Arbeiten verrichten, beispielsweise unter der Aufsicht uniformierter NVA-Soldaten Kabelkanäle ausschachten mussten. Auch waren Bestrafungen verschiedener Art, wie Arreste in kleinen dunklen Kellerräumen, in denen ein Eimer als Toilette diente, an der Tagesordnung.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf den § 6 Abs. 1, § 14 StrRehaG.