VG München, Urteil vom 06.11.2013 - M 25 K 11.30756
Fundstelle
openJur 2014, 5390
  • Rkr:
Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Der am ... 1992 geborene Kläger ist eigenen Angaben zufolge afghanischer Staatsangehöriger, zugehörig zur Volksgruppe der Hazara, schiitischen Glaubens und stammt aus der Provinz Helmand, Distrikt Baghran, Dorf ... . Er reiste am 10. Juni 2011 auf dem Landweg von Italien kommend in das Bundesgebiet ein und stellte hier am 21. Juni 2011 einen Asylantrag.

Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 5. August 2011 erklärte der Kläger, sie hätten wie Nomaden gelebt. Die Taliban seien gekommen und sehr brutal zu ihnen gewesen. Eines Tages hätten sie seinen Vater umgebracht. Sein Vater sei vor ca. acht Jahren gestorben. Vor zweieinhalb Jahren sei seine Schwester und deren Mann von den Taliban umgebracht worden. Im Iran habe er nicht bleiben können, dort gebe es keine Sicherheit für Flüchtlinge aus Afghanistan, es bestehe immer die Gefahr, abgeschoben zu werden. Auch bei seinem Bruder habe er nicht bleiben können, dieser sei finanziell sehr angeschlagen. Zudem gebe es keine Sicherheit für die Hazara in Afghanistan, dort gebe es keine Demokratie.

Vor seiner Ausreise habe er bereits vier Jahre im Iran gelebt, sei aber viermal nach Afghanistan abgeschoben worden, zweimal davon sei er nach Herat gegangen, wo sein Bruder lebe, die anderen beiden Male sei er in sein Heimatdorf ... zurückgekehrt.

Beide Eltern seien bereits vor einigen Jahren verstorben, sein älterer Bruder habe sich um ihn gekümmert. Auch habe er noch eine Schwester gehabt, die von den Taliban umgebracht worden sei.

Im Iran sei er ein Jahr lang in eine private Schule gegangen und habe Prüfungen für fünf Schulklassen abgeschlossen. Er habe zwei Jahre als Bauarbeiter und ein Jahr als Installateur gearbeitet. Als er das letzte Mal in Afghanistan gewesen sei, habe er sich bei seinem Bruder aufgehalten, dann sei er für etwa eineinhalb Jahre zurück in den Iran, von wo aus er ins Ausland gereist sei. Insgesamt sei er 57 Tage unterwegs gewesen und über die Türkei, Griechenland und Italien nach Deutschland gereist.

Mit Bescheid vom 24. August 2011, zugestellt am 25. August 2011, lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers ab (Ziffer 1.), stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 2.) und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 Aufenthaltsgesetz – AufenthG – (Ziffer 3) nicht vorliegen. Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde ihm die Abschiebung u.a. nach Afghanistan angedroht (Ziffer 4.).

Mit Schreiben vom 6. September 2011, eingegangen bei Gericht am selben Tag, ließ der Kläger Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes erheben und beantragen,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 24. August 2011 zu verpflichten, festzustellen, dass die Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2, 3, 7 Satz 2 AufenthG vorliegen

hilfsweise

festzustellen, dass die Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte beantrage mit Schriftsatz vom 15. September 2011,

die Klage abzuweisen.

Mit Schriftsatz vom 2. November 2011 begründete die Prozessbevollmächtigte des Klägers die Klage im Wesentlichen mit der verheerenden Sicherheitslage in Afghanistan und fügte der Klagebegründung einen Bericht des UNHCR vom 10. November 2009 sowie einen Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zur Sicherheitslage in Afghanistan vom 11. August 2010 bei. Überdies würde der Kläger, zumal als Angehöriger der in Afghanistan verbreitet geächteten Volksgruppe der Hazara, ohne Berufsausbildung und mittellos, selbst im Großraum Kabul alsbald in eine aussichtslose Lage geraten. Er habe zwar noch einen Bruder und zwei Tanten im Heimatland, diese lebten jedoch selbst am Rande des Existenzminimums.

Mit weiterem Schreiben vom 2. November 2011 beantragte die Bevollmächtigte unter Vorlage der formularmäßigen Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers Prozesskostenhilfe unter ihrer Beiordnung. Dieser Antrag wurde mit Beschluss des Gerichts vom 22. Oktober 2013 abgelehnt.

Mit Beschluss vom 8. Oktober 2013 wurde der Rechtsstreit gemäß § 76 Abs. 1 AsylVfG auf den Einzelrichter übertragen.

Die Bevollmächtigte des Klägers aktualisierte ihre Ausführungen zur Sicherheitslage in Afghanistan mit weiterem Schreiben vom 28. Oktober 2013 und führte aus, dem Kläger stehe interner Schutz in einem anderen Landesteil, insbesondere in Kabul, nicht zur Verfügung.

In der mündlichen Verhandlung am 6. November 2013 erläuterte der Kläger sein bisheriges Vorbringen näher.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der sonstigen Einzelheiten wird auf den Inhalt der Akten Bezug genommen, insbesondere auf den Sachvortrag des Klägers und die Begründung des streitgegenständlichen Bescheids sowie die Niederschrift der mündlichen Verhandlung.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 6. November 2013 entschieden werden, obwohl die Beklagte nicht erschienen ist. Denn in der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden könne (§ 102 Abs. 2 VwGO). Die Beklagte ist form- und fristgerecht geladen worden.

Die Klage ist zulässig, bleibt aber in der Sache ohne Erfolg. Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 und 5 VwGO).

Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Auch die vom Bundesamt nach Maßgabe des § 34 AsylVfG i.V.m. § 59 AufenthG erlassene Abschiebungsandrohung ist nicht zu beanstanden.

1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2, Abs. 3, Abs. 7 Satz 2 AufenthG.

Der Antrag auf Feststellung eines sogenannten europarechtlichen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 7 Satz 2 AufenthG bildet einen eigenständigen, vorrangig vor sonstigen herkunftslandbezogenen ausländerrechtlichen (nationalen) Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu prüfenden Streitgegenstand (vgl. ausführlich BVerwG, U.v. 24.6.2008 – 10 C 43/07BVerwGE 131, 198).

a) Ein Ausländer darf gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG nicht in seinen Herkunftsstaat abgeschoben werden, wenn ihm dort Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung droht. Wann eine „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung“ vorliegt, hängt vom Einzelfall ab. Eine Schlechtbehandlung einschließlich Bestrafung muss jedenfalls ein Minimum an Schwere erreichen, um in den mit § 60 Abs. 2 AufenthG und Art. 15 lit. b der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 (QualRL) insoweit identischen Schutzbereich des Art. 3 EMRK zu fallen.

Abstrakt formuliert sind unter einer menschenrechtswidrigen Schlechtbehandlung Maßnahmen zu verstehen, mit denen unter Missachtung der Menschenwürde absichtlich schwere psychische oder physische Leiden zugefügt werden und mit denen nach Art und Ausmaß besonders schwer und krass gegen Menschenrechte verstoßen wird (Renner/Bergmann, Ausländerrecht, 9. Aufl. 2011, § 60 AufenthG Rn. 34 f.). Dies gilt gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 6 QualRL auch dann, wenn die Gefahr von nichtstaatlichen Akteuren ausgeht und kein ausreichender staatlicher oder quasistaatlicher Schutz zur Verfügung steht. Zudem ist gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 QualRL zu unterscheiden, ob der Ausländer der Gefahr im Herkunftsland bereits ausgesetzt war bzw. ihm entsprechende Misshandlung unmittelbar bevorstanden oder, ob er ohne derartige Bedrohung ausgereist ist. Es müssen konkrete Anhaltspunkte oder stichhaltige Gründe dafür glaubhaft gemacht werden, dass der Ausländer im Fall seiner Abschiebung einem echten Risiko oder einer ernsthaften Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre (Hailbronner, Ausländerrecht, Stand 1.11.2012, § 60 AufenthG Rn. 124).

Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.

Das Vorbringen des Klägers hinsichtlich der geltend gemachten Gefährdung durch die Taliban ist nicht glaubhaft.

Das Gericht muss sowohl von der Wahrheit – und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit – des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Schicksals als auch von der Richtigkeit der Prognose drohender politischer Verfolgung bzw. Gefährdung die volle Überzeugung gewinnen. Auf die Glaubhaftigkeit seiner Schilderung und Glaubwürdigkeit seiner Person kommt es entscheidend an. Seinem persönlichen Vorbringen und dessen Würdigung ist daher gesteigerte Bedeutung beizumessen. Der Asylbewerber muss die persönlichen Umstände seiner Verfolgung und Furcht vor einer Rückkehr hinreichend substantiiert, detailliert und widerspruchsfrei vortragen, er muss kohärente und plausible wirklichkeitsnahe Angaben machen (vgl. nunmehr auch Art. 4 QualRL sowie bereits bislang BVerfG (Kammer), B.v. 7.4.1998 – 2 BvR 253/96 – juris). Auch unter Berücksichtigung des Herkommens, Bildungsstands und Alters muss der Asylbewerber im Wesentlichen gleichbleibende möglichst detaillierte und konkrete Angaben zu seinem behaupteten Verfolgungsschicksal machen.

Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist der Vortrag des Klägers insgesamt nicht glaubhaft.

Seine Angaben sind oberflächlich und unsubstantiiert und erschöpfen sich im Wesentlichen in der Behauptung der Ermordung seiner Familienangehörigen. Er schildert weder die näheren Umstände der Tötung seiner Verwandten, noch vermag er sie zeitlich genauer einzuordnen. Auch bleibt offen, aus welchen Gründen seine Verwandten umgebracht worden sein sollen und inwieweit die Taliban ein Interesse am Kläger haben. Der Kläger trägt nichts dazu vor, dass es in der Vergangenheit individuell gegen ihn gerichtete Maßnahmen gegeben hätte, die über die bloße Aufforderung, die Koranschule zu besuchen und die Taliban zu unterstützen, hinausgingen. Der Kläger gab auf Nachfrage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung an, die Taliban seien fünf oder sechs Mal ins Dorf gekommen und hätten junge Leute in die Moschee mitgenommen und dort versucht, sie zum Dschihad aufzufordern. Sie hätten nach einigen Stunden wieder gehen dürfen. Hierin kann keine Verfolgungsmaßnahme im Sinne des § 60 Abs. 2 AufenthG gesehen werden, der Kläger hat weder selbst eine Rechtsgutsverletzung erlitten, noch trug er vor, von den Taliban konkret bedroht worden zu sein.

Seine Angaben sind auch widersprüchlich. So gab er etwa bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 5. August 2011 an, vor zweieinhalb Jahren seien seine Schwester und sein Schwager von den Taliban umgebracht worden. In der mündlichen Verhandlung am 6. November 2013 hingegen behauptete er, sein Schwager sei vor etwa sechs Jahren, also etwa 2007 erschossen worden. Dies weicht um etwa zwei Jahre von der ursprünglichen Aussage ab.

Befragt zu seinen Asylgründen gab der Kläger vor dem Bundesamt als erstes an, seine Familie habe ein Jagdgewehr besessen, die Taliban seien dahinter gekommen und hätten wissen wollen, ob sie weitere Waffen besäßen. Die Taliban hätten ihnen keine Ruhe gelassen. Demgegenüber erwähnte der Kläger dies in der mündlichen Verhandlung nicht und führte auf die gleiche Frage stattdessen aus, von den Taliban wegen des Besuches der Koranschule angesprochen und zur Zusammenarbeit aufgefordert worden zu sein. Das Vorbringen des Klägers ist also nicht stringent.

Gegen eine Gefährdung des Klägers spricht schließlich, dass dieser zwei Mal aus dem Iran in sein Heimatdorf und zwei weitere Male nach Herat zurückgekehrt ist, wo sein Bruder lebt, ohne dass er Verfolgungsmaßnahmen durch die Taliban ausgesetzt war.

Eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinn des § 60 Abs. 2 AufenthG hat der Kläger nach Überzeugung des Gerichts daher weder erlitten noch bei einer Rückkehr mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu befürchten.

b) Nach § 60 Abs. 3 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, wenn dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe besteht. Für die Feststellung auch dieses Abschiebungsverbots gelten nach Abs. 11 auch hier die Art. 4 Abs. 4, Art. 5 Abs. 1 und 2 und Art. 6 bis 8 QualRL. Damit werden auch hier die dortigen Bestimmungen über den Vorverfolgungsmaßstab, Nachfluchtgründe, Verfolgungs- und Schutzakteure und internen Schutz auf dieses Abschiebungsverbot für anwendbar erklärt. Hierzu müssen ernsthafte Anhaltspunkte vorliegen, dass der Ausländer wegen einer Straftat konkret gesucht wird, deretwegen individuell die Todesstrafe verhängt werden kann (Hailbronner, Ausländerrecht, Stand 1.11.2003, § 60 AufenthG Rn. 137).

Diese Voraussetzungen liegen offensichtlich nicht vor.

c) Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Danach ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Die Vorschrift setzt die sich aus Art. 18 i.V.m. Art. 15 Buchst. c QualRL ergebenden Verpflichtungen auf Gewährung eines „subsidiären Schutzstatus“ bzw. „subsidiären Schutzes“ in nationales Recht um.

Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen (vgl. BVerwG, U.v. 24.6.2008 – 10 C 43/07BVerwGE 131, 198). Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u. a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind, und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts i.S.v. Art. 15 Buchst. c QualRL nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zu finden sind. Ein solcher „innerstaatlicher bewaffneter Konflikt“ kann überdies landesweit oder regional (z.B. in der Herkunftsregion des Ausländers) bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken (vgl. BVerwG, U.v. 24.6.2008 – 10 C 43/07BVerwGE 131,198).

Dabei ist zu überprüfen, ob sich die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgehende – und damit allgemeine – Gefahr in der Person des Klägers so verdichtet hat, dass sie eine erhebliche individuelle Gefahr i.S.v. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG darstellt. Eine allgemeine Gefahr kann sich insbesondere durch individuelle gefahrerhöhende Umstände zuspitzen. Solche Umstände können sich auch aus einer Gruppenzugehörigkeit ergeben. Der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt muss ein so hohes Niveau erreichen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson würde bei Rückkehr in das betreffende Land oder die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet Gefahr laufen, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (vgl. EuGH, U.v. 17.2.2009 – Elgafaji, C-465/07Slg. 2009, I-921).

Die Frage, ob die in Afghanistan oder Teilen von Afghanistan stattfindenden gewalttätigen Auseinandersetzungen nach Intensität und Größenordnung als vereinzelt auftretende Gewalttaten i.S. von Art. 1 Nr. 2 des Zusatzprotokolls vom 8. Juni 1977 zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte (BGBl 1990 II S. 1637) – ZP II – oder aber als anhaltende Kampfhandlungen bewaffneter Gruppen im Sinne von Art. 1 Nr. 1 ZP II zu qualifizieren sind, kann dahinstehen, weil nach der Überzeugung des Gerichts der Kläger keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt wäre. Bezüglich der Gefahrendichte ist zunächst auf die jeweilige Herkunftsregion abzustellen, in die ein Kläger typischerweise zurückkehren wird (BVerwG, U.v. 14.7.2009 – 10 C 9/08BVerwGE 134, 188). Zur Feststellung der Gefahrendichte ist eine jedenfalls annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung erforderlich (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09BVerwGE 136,377).

Der Kläger stammt aus der Provinz Helmand, so dass hinsichtlich der Gefahrensituation primär darauf abzustellen ist.

Die Provinz Helmand wird von der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA, Internet: www.unama.unmissions.org) der Südregion Afghanistans (Provinzen: Helmand, Kandahar, Nimruz, Uruzgan und Zabul) zugeordnet. UNAMA hat für diese Region im Jahr 2009 1.078 zivile Tote bei einer Gesamteinwohnerzahl von 2,75 Millionen gezählt. Für das Jahr 2010 wurden 1.310 zivile Tote in der Südregion ermittelt (UNAMA, Afghanistan Annual Report 2010 Protection of Civilians in Armed Conflict).

Für das Jahr 2009 wurden für Gesamtafghanistan 2.412 getötete und 3.566 verletzte Zivilisten ermittelt. Für das Jahr 2010 wird von 2.777 Toten und 4.343 Verletzten (gesamt: 7.120) ausgegangen. Das Verhältnis Tote/Verletzte beträgt für das Jahr 2009 1:1,5. Gleiches gilt für das Jahr 2010. Unter Berücksichtigung dieses Verhältnisses ist für das Jahr 2009 in der Südregion von 1.617 Verletzten, insgesamt also von 2.695 toten und verletzten Zivilisten auszugehen. Für das Jahr 2010 ist von 1.965 Verletzten, insgesamt also von 3.275 toten und verletzten Zivilisten auszugehen. Für das Jahr 2009 ergibt sich bei einer Einwohnerzahl von 2,75 Millionen in der Südregion und 2.695 Toten/Verletzten eine Wahrscheinlichkeit von 0,098 Prozent, Opfer eines Anschlages zu werden, für das Jahr 2010 mit 3.275 Toten/Verletzten liegt diese Wahrscheinlichkeit bei 0,119 Prozent.

Der Jahresbericht der UNAMA vom Februar 2012 (UNAMA, Afghanistan Annual Report 2011 Protection of Civilians in Armed Conflict) geht für das Jahr 2011 für ganz Afghanistan von 3.021 toten Zivilisten (gegenüber den 2.777 toten Zivilisten des Vorjahres eine Steigerung von 8 Prozent) und 4.507 Verletzten (im Vorjahr 4.368 Verletzte), somit von insgesamt 7.528 zivilen Opfern aus. Gegenüber der Gesamtzahl der Toten und Verletzten im Jahr 2010 (7.120) liegt somit für Afghanistan eine Steigerung von 6 Prozent vor. Der Jahresbericht der UNAMA vom Februar 2013 (UNAMA, Afghanistan Annual Report 2012 Protection of Civilians in Armed Conflict) geht für das Jahr 2012 von 7.559 zivilen Opfern aus (2.754 Tote und 4.805 Verletzte), was in etwa den Zahlen des Jahres 2011 (7.528) entspricht. Während die auf regierungsnahe Streitkräfte („Pro-Government Forces“) zurückzuführende Zahl ziviler Opfer (316 Tote, 271 Verletzte) gegenüber 2011 um 46 Prozent zurückging, stieg die auf Gegner der Regierung („Anti-Government Elements) zurückzuführende Zahl ziviler Opfer (2.129 Tote, 3952 Verletzte) um 9 Prozent gegenüber 2011.

Die regional unterschiedliche Veränderung der Opferzahlen lässt sich in Beziehung zu der Zahl der Zwischenfälle in den einzelnen Provinzen im Jahr 2012 setzen. Nach dem Bericht des Afghanistan NGO Safety Office (ANSO, Internet: www.ngosafety.org) gab es im Jahr 2012 in Afghanistan insgesamt 21.784 Angriffe (ANSO Quarterly Data Report Q.4 2012). Bei einer Gesamtopferzahl von 7.559 entfallen damit rechnerisch auf jeden Angriff 0,3469 Opfer. Überträgt man dies auf die Südregion, kann bei den dort gezählten 5.453 Angriffen im Jahr 2012 von etwa 1.892 toten/verletzten Zivilisten ausgegangen werden. Bei einer Einwohnerzahl von 2,75 Millionen in der Südregion und 1.892 Toten/Verletzten ergibt sich eine Wahrscheinlichkeit von 0,069 Prozent, Opfer eines Anschlages zu werden.

Auch wenn der Vergleich der Opferzahlen mit der Zahl der Angriffe nicht exakt auf die tatsächliche Opferzahl schließen lässt, gibt er doch eine realistische Basis für die erforderliche Risikoabschätzung. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Sicherheitslage in Gesamtafghanistan und auch in der Südregion weiterhin angespannt bleibt, kann nicht davon ausgegangen werden, dass der diesen Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist (BayVGH, U.v. 15.3.2012 – 13a B 11.30438 – juris). Dies gilt auch unter Berücksichtigung der unzureichenden medizinischen Versorgungslage in Afghanistan, die eine Notfallbehandlung Schwerverletzter nur eingeschränkt ermöglichen dürfte.

Auch aus dem Bericht des UNHCR vom 6. August 2013 („UNHCR eligibility guidelines for assessing the international protection needs of asylum-seekers from Afghanistan“), auf den die Klägerbevollmächtigte zu Beginn der mündlichen Verhandlung gesondert hinwies, ergeben sich keine hiervon wesentlich abweichenden Erkenntnisse. Zwar geht aus dem Bericht hervor, dass sich die Sicherheitslage für Zivilisten seit Jahresbeginn 2013 wieder verschlechtert hat (vgl. S. 13 des Berichts); aus dem Bericht ergibt sich weiter, dass die Zahl der von der UNAMA registrierten Opfer (Tote und Verletzte) im ersten Halbjahr 2013 bei 3.852 liegt, was zwar einen Anstieg gegenüber der gleichen Periode 2012 darstellt, nicht jedoch über das Niveau von 2011 hinausgeht und damit nicht im Wege einer wertenden Gesamtbetrachtung zur Annahme der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG führen kann.

Bezogen auf die Herkunftsprovinz Helmand ergibt sich nach aktuellen Erkenntnissen bei 1.875 Angriffen eine geschätzte Opferzahl von 651. Bei einer Einwohnerzahl von 859.000 Millionen liegt die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Anschlages zu werden bei 0,076 Prozent.

Es ist auch nicht anzunehmen, dass sich die allgemeine Gefahr bei dem Kläger durch individuelle gefahrerhöhende Umstände zuspitzt. Solche ergeben sich insbesondere nicht aus der Zugehörigkeit des Klägers zur Volksgruppe der Hazara (vgl. BayVGH, U.v. 3.2.2011 – 13a B 10.30394 – juris). Deren Lage hat sich zwischenzeitlich verbessert (vgl. Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 4.6.2013, S. 9).

2. Der Abschiebung des Klägers steht auch kein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegen.

a) Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG liegt nicht vor. Eine Abschiebung ist gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG unzulässig, wenn sich dies aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt. Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG kommt nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 13.6.2013 – 10 C 13/12 – juris) zwar auch dann in Frage, wenn die umschriebenen Gefahren nicht durch den Staat oder eine staatsähnliche Organisation drohen oder dem Staat zuzurechnen sind. Die Gefährdung des Klägers durch die Taliban ist jedoch weder glaubhaft noch wurde sie vom Kläger hinreichend konkretisiert (vgl. oben 1.a).

b) Der Abschiebung des Klägers steht auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegen.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen.

Mit dem Hinweis insbesondere auf die unzureichende Versorgungslage in Afghanistan, die für Rückkehrer ohne Berufsausbildung und familiäre Unterstützung bestehe, werden allgemeine Gefahren geltend gemacht, die aufgrund der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht rechtfertigen können.

aa) Individuelle nur ihm drohende Gefahren macht der Kläger nicht geltend.

Der Vortrag des Klägers ist insoweit nicht glaubhaft, im Übrigen fehlt es an der Darlegung einer konkreten Gefährdung (s.o. unter 1.a).

bb) Der Kläger kann ein Abschiebungsverbot in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht erreichen.

Im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die den Kläger in Afghanistan erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenz-bedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, kann er Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren.

Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungswegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde" (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2001 – 1 C 5.01BVerwGE 115, 1/9 m.w.N.). Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. etwa BVerwG, U.v. 12.7.2001 – 1 C 5.01 – 115, 1/9).

Hinsichtlich der unzureichenden Versorgungslage in Afghanistan kann eine landesweite extreme Gefahrenlage nur angenommen werden, wenn der Kläger nach seiner Rückkehr mangels ausreichender Existenzmöglichkeiten aus Hunger sterben würde (vgl. BVerwG, U.v. 17.10.1995 – 9 C 9/95BVerwGE 99, 324). Diese Voraussetzungen liegen jedoch nicht vor.

Zwar ist die Versorgungslage in Afghanistan weiterhin schlecht (vgl. Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Januar 2012, S. 26). Soziale Sicherungssysteme existieren praktisch nicht. Die soziale Absicherung liegt bei den Familien und Stammesverbänden. Der Kläger hat in Herat noch seinen Bruder, der zumindest eine erste Anlaufstelle sein könnte. Aber auch ohne familiäre Unterstützung droht dem volljährigen, gesunden arbeitsfähigen Kläger bei einer Abschiebung nach Kabul, wohin Abschiebungen primär stattfinden, oder in seine Heimatprovinz keine extreme Gefahrenlage. Der Kläger kann unter Inanspruchnahme internationaler Hilfe und die Aufnahme von Gelegenheits-arbeiten, etwa wie bereits in der Vergangenheit als Bauarbeiter oder Installateur, zumindest ein kümmerliches Einkommen erzielen, um sein Überleben zu sichern (vgl. BayVGH, U.v. 3.2.2011 – 13a B 10.30394 – juris; U.v. 15.3.2012 – 13a B 11.30439 – juris).

3. Die nach Maßgabe der § 34 Abs. 1, § 38 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 59, § 60 Abs. 10 AufenthG erlassene Abschiebungsandrohung nach Afghanistan ist in rechtlicher Hinsicht gleichfalls nicht zu beanstanden. Der Kläger besitzt keinen Aufenthaltstitel und ist auch nicht als Asylberechtigter anerkannt. Gemäß § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG steht das Vorliegen von Abschiebungsverboten dem Erlass der Androhung nicht entgegen. Nach § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG zu bezeichnende Staaten, in die eine Abschiebung nicht erfolgen darf, sind nicht ersichtlich. Die Ausreisefrist von 30 Tagen ergibt sich unmittelbar aus § 38 Abs. 1 AsylVfG.

4. Die Klage war nach alledem mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung stützt sich auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.