VG Würzburg, Urteil vom 09.12.2013 - W 1 K 12.30353
Fundstelle
openJur 2014, 5298
  • Rkr:
Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27. November 2012 wird in Ziffern 3 und 4 aufgehoben.

Der Beklagte wird verpflichtet, ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in der Person des Klägers festzustellen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

II. Von den Kosten des Verfahrens haben der Kläger 3/4, die Beklagte 1/4 zu tragen.

III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Der Kläger wurde am ... 1965 in Mazar-i-Sharif in der afghanischen Provinz Balkh geboren und ist afghanischer Staatsangehöriger tadschikischer Volkszugehörigkeit. Nach eigenen Angaben verließ er gemeinsam mit seiner Ehefrau und zwei Kindern (Az. W 1 K 12.30208) im 7. Monat des Jahres 1389 nach islamischer Zeitrechnung sein Heimatland und reiste mit dem Flugzeug in den Iran. Auf dem Landweg gelangte er dann weiter über die Türkei nach Griechenland. Nach achtmonatigem Aufenthalt in Athen trennte sich die Familie und die Ehefrau und die Kinder reisten alleine weiter. Der Kläger selbst reiste am 24. Februar 2012 mit einem Direktflug Athen-Frankfurt in das Bundesgebiet ein. Hier beantragte er am 7. März 2012 Asyl.

In seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 22. Mai 2012 gab der Kläger im Wesentlichen an, er gehöre zum Stamm der Qizilbash. Seine Familie besitze in Mazar-i-Sharif 450 m² Grundeigentum. Er habe dort mit seinen mittlerweile verstorbenen Eltern sowie seiner Ehefrau und seinen beiden Kindern gelebt. Er habe noch einen weiteren Sohn gehabt, M..., der im Jahr 1389 nach islamischer Zeitrechnung im Alter von 15 Jahren ermordet worden sei. Er habe in Afghanistan noch zwei Schwestern, deren genauer Aufenthaltsort ihm nicht bekannt sei. Zwei Brüder lebten im Iran. Er habe die Schule bis zur 8. Klasse besucht und könne lesen und schreiben. Seine Kinder hätten nur lesen und schreiben gelernt, sie hätten die Schule nicht regelmäßig besucht, weil sie viel zwischen Mazar-i-Sharif und Herat unterwegs gewesen seien. Der Grund dafür sei gewesen, dass seine Schwiegereltern in Herat wohnten und seine Ehefrau diese oft mit den Kindern besucht habe. Er habe als angestellter Schneider in Mazar-i-Sharif gearbeitet. Die letzten zwei Jahre vor der Ausreise habe er Stoffe verkauft, die er beim Großhandel eingekauft habe. Das habe er in Mazar-i-Sharif und in Herat gemacht. Wirtschaftlich gesehen sei es seiner Familie durchschnittlich gegangen. Sein Vater habe in Mazar-i-Sharif in der Straße D... mit Eisen gehandelt. Dort habe er Leute beobachtet, die sich sehr komisch verhalten hätten und bei denen auch Waffen gefunden worden seien. Er habe diese Leute bei der Regierung angezeigt. Die Polizei habe dann das Haus gestürmt und die Taliban festgenommen. Dabei seien auch einige der Taliban ums Leben gekommen. Später hätten die Nachbarn seinem Vater vorgeworfen, dass er Anzeige erstattet habe, und hätten ihm prophezeit, dass er bestimmt Probleme mit den Taliban bekommen werde. Er solle sein Geschäft schließen und das Land verlassen. Sein Vater habe aber dort bleiben wollen. Einige Tage später seien sie zu seinem Vater in den Laden gekommen und hätten ihn erschossen. Einen Monat später sei der ältere Sohn des Klägers, M..., nicht mehr nach Hause gekommen. Sie hätten ihn überall gesucht, aber nicht gefunden. Später hätten sie erfahren, dass dieselben Leute, die seinen Vater ermordet hätten, auch seinen Sohn vergewaltigt und danach erschossen hätten. Das habe er von einem Kommandanten namens F... mitgeteilt bekommen. Daher sei auch sein und seiner Familie Leben in Gefahr gewesen, weshalb sie Afghanistan verlassen hätten. Die Ermordung seines Vaters sei im 12. Monat des Jahres 1388 nach muslimischer Zeitrechnung geschehen. Die Nachbarn hätten behauptet, dass dieselben Leute, die der Vater angezeigt habe, ihn auch ermordet hätten. Die Familie habe auch keine anderen Feinde gehabt. Sein Vater habe diese Leute angezeigt, weil die Taliban bei der Eroberung von Mazar-i-Sharif einen Bruder des Vaters umgebracht hätten. Zwischen dem Verschwinden seines Sohnes und der Mitteilung des Kommandanten, was mit seinem Sohn passiert sei, seien drei Monate vergangen. Ihre Vermisstenanzeige habe keinen Erfolg gehabt. Der besagte Kommandant sei früher Kommandant der Mujaheddin gewesen und der Kläger habe diesen zu Hause aufgesucht, um ihn um Hilfe zu bitten. Daraufhin habe dieser ihm mitgeteilt, was mit seinem Sohn geschehen sei. Die Leiche seines Sohnes hätten sie nie gesehen. Seine Frau sei krank gewesen und er habe es ihr nicht erzählt. Er habe ihr lediglich gesagt, dass der Sohn bestimmt weggelaufen sei und sich irgendwo vor diesen Leuten versteckt halte. Sie hätten Afghanistan schon früher verlassen wollen, aber das sei nicht möglich gewesen. Sie hätten ein Haus gepachtet gehabt und erst das Geld zurückbekommen müssen. Er habe später dann das Geld von seinem Schwager bekommen und der Schwager habe es vom Verpächter bekommen. Während dieser Zeit habe er sich mit seiner Familie in einem Stadtteil von Mazar-i-Sharif versteckt. Die Namen der Täter seien ihm nicht bekannt. Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan befürchte er, dass sein und seiner Familie Leben durch die Taliban gefährdet sei.

Mit Bescheid vom 27. November 2012 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter ab (Ziffer 1 des Bescheides), stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 2) sowie Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 3) und drohte dem Kläger die Abschiebung nach Afghanistan an (Ziffer 4). Auf die Gründe des Bescheides wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylVfG).

Gegen diesen ihm am 3. Dezember 2012 zugestellten Bescheid (Bl. 138/139 der Bundesamtsakte) ließ der Kläger am 17. Dezember 2012 Klage erheben. Er beantragt,

1. die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 27. November 2012 zu verpflichten, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen,

2. Abschiebeverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG festzustellen.

Zur Begründung wurde zunächst auf die vom Kläger im Asylverfahren geschilderten Ereignisse Bezug genommen. Diese machten deutlich, dass eine politische Verfolgung vorgelegen habe. Insbesondere der Tod des Sohnes habe die Familie schwer traumatisiert, und zwar sogar so weit, dass die Eheleute einen unterschiedlichen Kenntnisstand von den Ereignissen hätten, weil sie sich über dieses Thema gar nicht austauschten. Es liege eine schwere Traumatisierung vor, und zwar auch beim Kläger selbst. Bei Fortdauer der Verhältnisse in seinem Heimatland sei ihm eine Rückkehr nicht zuzumuten.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Mit Beschluss vom 2. September 2013 hat die Kammer den Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

Verschiedene in der Liste für Afghanistan, Stand November 2013, verzeichnete Erkenntnismittel waren Gegenstand des Verfahrens.

Die Akten des Asylverfahrens (Az. 5492953-423) sowie des Gerichtsverfahrens (Az. W 1 K 12.30208) der Ehefrau und der Kinder des Klägers wurden beigezogen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- sowie der beigezogenen Behördenakten und auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 26. November 2013 Bezug genommen.

Gründe

Die zulässige Klage, über die nach § 102 Abs. 2 VwGO trotz des Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung entschieden werden konnte, ist in der Sache nur teilweise begründet.

Die Klage ist nicht begründet, soweit der Kläger die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG sowie die Feststellung unionsrechtlicher Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG begehrt. Denn auf diese Entscheidungen zu seinen Gunsten hat der Kläger nach der im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung maßgeblichen Sach- und Rechtslage (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) keinen Anspruch (1.). Insoweit ist der Bescheid des Bundesamtes vom 27. November 2012 rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Die Klage ist jedoch insoweit begründet, als der Kläger einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hat (2.). Dem Kläger durfte daher auch nicht die Abschiebung nach Afghanistan angedroht werden (3.). In diesem Umfang ist der Bescheid des Bundesamtes vom 25. Juli 2012 rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).

1.

Der Kläger hat weder einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG (1.1) noch auf die Feststellung unionsrechtlicher Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG (1.2).

1.1

Rechtsgrundlage für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylVfG in der – hier gem. § 77 Abs. 1 AsylVfG anzuwendenden – Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I 1798). Danach wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Abs. 1 ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist Flüchtling in diesem Sinn, wenn er gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG in Verbindung mit dem Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention – GK – BGBl II 1953, S. 560) in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den in § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG genannten Bedrohungen ausgesetzt ist. Hiernach darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Mit dieser Regelung wurde die Richtlinie 2004/ 83/EG des Rates vom 29. April 2004 (sog. Qualifikationsrichtlinie – QRL – ABl EU Nr. L 304 S. 12, berichtigt ABl EU Nr. L 204, S. 24), mittlerweile teilweise geändert durch die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (ABl EU Nr. L 337, S. 9) im deutschen Recht umgesetzt. Nach § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG kann eine Verfolgung nicht nur vom Staat, sondern auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen. Hierbei kann es sich auch um Organisationen ohne Gebietsgewalt, Gruppen oder auch Einzelpersonen handeln, von denen eine Verfolgung ausgeht.

Gemessen an diesen Maßstäben hat der Kläger vor seiner Ausreise keine solche Verfolgung erlitten, weil ein Anknüpfen der Verfolger an die Merkmale der Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe nicht erkennbar ist, wie unter (1.1) näher ausgeführt wurde. Aus diesem Grunde droht dem Kläger auch keine solche Verfolgung mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit im Falle seiner Rückkehr.

Das Gericht glaubt zwar den Vortrag des Klägers, dass sein ältester Sohn im Jahr 2009 verschwunden und wahrscheinlich von Kriminellen ermordet worden sei. Der Kläger sowie seine Ehefrau (Az. W 1 K 12.30208) haben in ihren informatorischen Anhörungen durch das Gericht in der mündlichen Verhandlung schlüssig, detailreich und im Wesentlichen widerspruchsfrei geschildert, dass ihr damals 15-jähriger Sohn eines Nachmittags nach der Schule nicht nach Hause gekommen sei. Man habe vergeblich nach ihm gesucht und schließlich erfahren, dass er wahrscheinlich von Kriminellen ermordet und vorher möglicher Weise sexuell missbraucht worden sei. Die Ehefrau des Klägers, die bei der vorherigen informatorischen Anhörung des Klägers nicht im Sitzungssaal anwesend war, hat dessen Angaben im Wesentlichen bestätigt. Bemerkenswert war, dass beide übereinstimmend die Szene geschildert haben, als der Kläger abends nach Hause kam und seine Frau ihn fragte, wo denn der älteste Sohn bleibe. Ebenso haben beide übereinstimmend angegeben, dass ihr Sohn sich nach der Schule hin und wieder im Geschäft des Klägers aufgehalten habe und daher die Ehefrau auch am Tag seines Verschwindens davon ausgegangen sei, dass er zu seinem Vater gegangen sei und mit ihm gemeinsam nach Hause komme. Dem gegenüber spricht es nicht gegen die Glaubwürdigkeit des Vortrags des Klägers, dass seine Ehefrau sich nicht sicher ist, dass ihr Sohn ermordet wurde, wohingegen der Kläger sicher davon ausgeht. Seine Ehefrau hat angegeben, der Kläger habe ihr etwa drei bis vier Monate nach dem Verschwinden ihres Sohnes mitgeteilt, er habe erfahren, dass ein Krimineller ihren Sohn ermordet habe und dass sie besser nicht mehr nach ihm suchen sollten. Da sie seinen Leichnam aber nie gesehen habe, wolle sie nicht glauben, dass er tot sei. Diese Haltung der Ehefrau des Klägers als Mutter des verschwundenen Kindes ist nicht nur nachvollziehbar, sondern es entspricht auch der Lebenserfahrung, dass die Angehörigen von verschwundenen Personen sich in der Hoffnung, der oder die Angehörige sei noch am Leben, oft lange Zeit an jeden diesbezüglichen Anhaltspunkt klammern wie etwa den, dass kein Leichnam gefunden wurde. Im Falle der Ehefrau des Klägers kommt hinzu, dass sie aufgrund ihrer untergeordneten Stellung als Frau in der patriarchalisch geprägten afghanischen Gesellschaft schlicht keine Möglichkeiten hatte, selbst mehr über den Verbleib ihres Sohnes zu erfahren, sondern auf Informationen durch den Kläger angewiesen war. Der Kläger hat passend zum Vortrag seiner Ehefrau angegeben, dass er sie zunächst über den Verbleib des Sohnes im Unklaren gelassen habe, damit sie sich nicht zu sehr aufrege, und ihr erst später erzählt habe, dass der Sohn ermordet worden sei. Indem der Kläger angegeben hat, er habe seiner Frau einfach erzählt, dass ein Krimineller der Täter gewesen sei, hat er auch den Widerspruch zwischen seinen Angaben und den Angaben seiner Frau in den Anhörungen beim Bundesamt hinsichtlich der Täterschaft aufgelöst. Vor dem Hintergrund der Stellung der Frauen in einer traditionellen afghanischen Familie und der als eher leicht verletzbar einzuschätzenden Persönlichkeit der Ehefrau des Klägers ist es durchaus plausibel, dass der Kläger ihr verheimlichen wollte, dass dieselben Täter, die seinen Vater umgebracht haben, auch den Sohn ermordet haben. Denn diese Information hätte seine Ehefrau massiv beunruhigt, weil sie daraus hätte schließen müssen, dass auch sie selbst bzw. der Kläger und die beiden jüngeren Kinder in Gefahr seien.

Zu den möglichen Motiven für die Entführung und Ermordung des Sohnes hat der Kläger vor dem Bundesamt und damit im Wesentlichen übereinstimmend in der mündlichen Verhandlung angegeben, sein Vater habe den afghanischen Behörden verdächtige Personen in der Nachbarschaft seines Geschäftes gemeldet, die Polizei habe dann deren Haus gestürmt, wobei mehrere Personen ums Leben gekommen seien, und aus Rache sei darauf hin sein Vater ermordet worden. Von Bekannten aus der Nachbarschaft sei der Kläger dann vor weiteren Racheakten der Attentäter gewarnt worden. Die diesbezüglichen Schilderungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung waren anschaulich und detailreich. So hat er etwa den Namen der Person genannt, von der er nähere Informationen zum Hintergrund des Mordes an seinem Vater erhalten habe, und erwähnt, es habe sich um einen angesehenen älteren Mann gehandelt. Dieses Vorbringen des Klägers wird auch nicht dadurch unglaubwürdig, dass seine Ehefrau in ihrer Anhörung beim Bundesamt die Ermordung ihres Schwiegervaters nicht erwähnt hat. Aufgrund des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks von der Ehefrau des Klägers erscheint ihre Erklärung und auch die des Klägers plausibel, dass sie mit der gesamten Situation der Ankunft mit ihren Kindern, aber ohne ihren Ehemann in Deutschland und auch unter dem Eindruck des Verschwindens ihres ältesten Sohnes schlicht überfordert war und deshalb nicht alle für ihr Asylverfahren relevanten Angaben machte, zumal ihr der Schwiegervater auch weniger nahe stand als der eigene Sohn.

Auf der Grundlage des vorgetragenen Geschehens lässt sich aber nicht auf eine Verfolgung des Klägers aufgrund seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit oder politischen Überzeugung oder aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten, von der Umgebung abgegrenzten, als andersartig angesehenen und nach außen erkennbaren Gruppe schließen. Dabei kommt es auf die erkennbare Gerichtetheit der Maßnahme an. Der Kläger hat vorgetragen, von Nachbarn erfahren zu haben, dass die Urheber des Mordanschlags auf seinen Vater und der Entführung seines Sohnes die Taliban gewesen seien. Außer diesen Angaben sind für die Urheberschaft der Taliban jedoch nicht genügend Anhaltspunkte erkennbar. Allein eine Information vom Hörensagen kann hierfür nicht genügen. Da in Afghanistan viele verfeindete Gruppen und Kriminelle um Einfluss und Macht kämpfen, kann nicht jeder Anschlag auf das Leben, die Freiheit oder die körperliche Unversehrtheit von Personen quasi automatisch den Taliban zugerechnet werden. Vielmehr kann es sich vorliegend auch um Racheakte einer kriminellen Gruppierung gehandelt haben, die keine politischen Ziele verfolgte. Da somit nicht zur Überzeugung des Gerichtes feststeht, dass der Kläger aus politischen Gründen verfolgt wurde, kommt es auf die Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit des afghanischen Staates für die Entscheidung über die Asylanerkennung nach Art. 16a Abs. 1 GG nicht an.

1.2

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG.

Kann der Schutzsuchende kein Bleiberecht auf der Grundlage von Art. 16a GG oder § 60 Abs. 1 AufenthG finden, sind hilfsweise geltend gemachte Abschiebungsverbote zu prüfen. Hierbei ist in erster Linie der subsidiäre Schutz auf der Grundlage der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (ABl. L 304 v. 30.9.2004, S. 2, ber. ABl. L 304 v. 30.9.2004, S. 12 – 23), mittlerweile ersetzt durch die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (ABl. L 337/9 vom 20.12.2011) – Qualifikationsrichtlinie (QRL) –, zu prüfen. Die diesbezüglichen Inhalte der Qualifikationsrichtlinie wurden mit den Vorschriften des § 60 Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 7 Satz 2 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet vom 25. Februar 2008 (BGBl. I, S. 162), maßgeblich geändert durch Art. 4 Abs. 5 des Gesetzes vom 30. Juli 2009 (BGBl. I, S. 2437) – Aufenthaltsgesetz (AufenthG) – ins nationale Recht umgesetzt. Diese bilden einen einheitlichen Streitgegenstand (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14/10DVBl. 2011, 1565 f.; BayVGH, U.v. 20.1.2012 – 13a B 11.30427 – juris).

Nach § 60 Abs. 2 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für diesen Ausländer die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Der Wortlaut dieser Vorschrift entspricht vollständig Art. 3 EMRK und teilweise dem früheren § 53 AuslG; deshalb kann zur Auslegung auf die diesbezügliche Rechtsprechung und Literatur verwiesen werden (Hailbronner, Ausländerrecht, § 60 AufenthG, Rn. 107). Es müssen konkrete Anhaltspunkte oder stichhaltige Gründe dafür geltend gemacht werden, dass der Schutzsuchende im Fall seiner Abschiebung einem echten Risiko oder einer ernsthaften Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre (Hailbronner, a.a.O., § 60 AufenthG, Rn. 108). Hierbei ist ein besonderer Schweregrad und ein Element der Menschenwürdeverletzung erforderlich, um die Behandlung als unmenschlich im Sinne der Vorschrift zu qualifizieren (Hailbronner, a.a.O., § 60 AufenthG, Rn. 111).

Für die Feststellung dieses Abschiebungsverbots gelten nach § 60 Abs. 11 AufenthG die Art. 4 Abs. 4, Art. 5 Abs. 1 und 2 und Art. 6 bis 8 Richtlinie 2004/83/EG (QRL). Damit werden die dortigen Bestimmungen über Vorverfolgungsmaßstab, Nachfluchtgründe, Verfolgungs- und Schutzakteure und internen Schutz als anwendbar auch für dieses Abschiebungsverbot erklärt. Gemäß Art. 6 QRL muss die Gefahr demnach nicht zwingend vom Staat ausgehen (Buchst. a). Der Schutz entfaltet sich ebenso gegenüber Gefahren, die von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Buchst. b) oder von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern die unter Buchst. a und b genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung bzw. ernsthaftem Schaden zu bieten (Buchst. c). Darüber hinaus privilegiert Art. 4 Abs. 4 QRL den Vorverfolgten bzw. Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden (BVerwG, U.v. 7.9.2010 – 10 C 11/09 – juris Rn. 15; VG München, U.v. 27.6.2013 – M 1 K 13.30257 – juris Rn. 15). Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei. Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (VG München, U.v. 27.6.2013 – M 1 K 13.30257 – juris Rn. 15). Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (BVerwG, U.v. 7.9.2010 – 10 C 11/09 – juris Rn. 15; VG München, U.v. 27.6.2013 – M 1 K 13.30257 – juris Rn. 15). Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung.

Ein solcher Schaden wurde dem Kläger auch unter Berücksichtigung der extremen seelischen Belastung, welche die Nachricht vom Verschwinden und Tod eines nahen Angehörigen hervorrufen kann, nicht zugefügt, insbesondere fehlt es an der erforderlichen Menschenwürdeverletzung auf Seiten der Angehörigen der verschwundenen und möglicher Weise getöteten Person, hier des Klägers als Vater des entführten Jungen.

Auch aus den allgemeinen humanitären Verhältnissen in Afghanistan folgt keine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 2 AufenthG (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12NVwZ 2013, 1167; VGH Mannheim, U. v. 14.08.2013 – A 11 S 688/13 – juris). Schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebezielstaat können nur in begründeten Ausnahmefällen in Bezug auf Art. 3 EMRK ein Abschiebungsverbot begründen. Ein derartiger Ausnahmefall liegt nicht vor.

Anhaltspunkte für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 3 AufenthG finden sich nicht.

Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG hinsichtlich der Provinz Balkh bzw. der Stadt Herat kann nicht festgestellt werden.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Diese Vorschrift ist in Umsetzung von Art. 15c QRL geschaffen worden. Die Tatbestandsvoraussetzung von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist daher im Licht des Art. 15c QRL zu sehen, wonach als ernsthafter Schaden eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gilt (BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – juris Rn. 14). Die Regelung umfasst also subsidiäre Schutzgewährung in Fällen willkürlicher Gewalt im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten, nicht dagegen aber aus anderen Gründen wie z.B. krankheitsbezogenen Abschiebungshindernissen oder allgemeinen wirtschaftlichen Notlagen im Herkunftsland, die nicht auf einem bewaffneten Konflikt beruhen.

Ein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt liegt jedenfalls dann vor, wenn bewaffnete Konflikte im Hoheitsgebiet eines Staates zwischen dessen Streitkräften und abtrünnigen Streitkräften oder anderen organisierten Gruppen stattfinden, die unter verantwortlicher Führung eine solche Kontrolle über einen Teil des Hoheitsgebietes des Staates ausüben, dass sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen durchführen können. Demgegenüber liegt ein Konflikt i.S. des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nicht vor bei Fällen innerer Unruhen oder Spannungen wie Tumulte oder vereinzelt auftretende Gewalttaten. Für die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegenden Konflikte ist die Annahme eines Konflikts i.S. von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nicht von vornherein ausgeschlossen. Typische Beispiele sind Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerilla-Kämpfe. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein gewisses Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen (vgl. zur gesamten Problematik: BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 4/09BVerwGE 136, 360 m.w.N.; VGH Baden-Württemberg, U.v. 6.3.2012 – A 11 S 3177/11 – juris Rn. 26 unter Verweis auf die vier Genfer Konventionen zum humanitären Völkerrecht von 1949 und das Zusatzprotokoll II von 1977).

Aufgrund eines derartigen Konflikts muss für den Schutzsuchenden eine erhebliche individuelle Gefahr infolge willkürlicher Gewalt bestehen. Hierbei ist zu prüfen, ob sich die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgehende und damit allgemeine Gefahr in der Person des Schutzsuchenden so verdichtet hat, dass sie eine erhebliche individuelle Gefahr i.S. von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG darstellt. Hierbei ist auf die jeweilige Herkunftsregion abzustellen, in die ein Kläger typischerweise zurückkehren wird (BayVGH, U.v. 12.1.2012 – 13a B 11.30427 – juris Rn. 15 m.w.N.), also auf seinen „tatsächlichen Zielort“ (EuGH, U.v. 17.2.2009 – C-465/07 – juris Rn. 40). Dies dürfte im Falle des Klägers die Provinz Balkh sein, in der er sich nach eigenen Angaben vor der Ausreise überwiegend aufgehalten hat. Ein Abstellen auf die Stadt Herat, wo der Kläger bisweilen Stoffe eingekauft hat und bei diesen Gelegenheiten bei seinen Schwiegereltern gewohnt hat, führt jedoch nicht zu einer anderen Betrachtungsweise.

Im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist jedenfalls annäherungsweise eine quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betroffenen Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Anzahl der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die gegen Leib oder Leben der Zivilpersonen verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung erforderlich (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 4/09BVerwGE 136, 360 Rn. 33). Hierzu gehört beispielsweise auch die Würdigung der medizinischen Versorgungslage. In jedem Fall setzt § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG für die Annahme einer erheblichen individuellen Gefahr voraus, dass dem Betroffenen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Schaden an den Rechtsgütern Leib oder Leben droht (BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 11/10 – juris Rn. 18).

Normalerweise hat ein derartiger bewaffneter Konflikt nicht eine solche Gefahrendichte, dass alle Bewohner des betroffenen Gebiets ernsthaft persönlich betroffen sein werden. Allerdings kann der bewaffnete Konflikt ein so hohes Niveau willkürlicher Gewalt erreichen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land/die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung ausgesetzt zu sein. Dies bleibt allerdings außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind (BVerwG, U.v. 24.6.2008 – 10 C 43.07 – juris; EuGH, U.v. 17.2.2009 – Elgafaji, C-465/07 – juris). Eine Individualisierung kann sich auch bei einem hohen Niveau willkürlicher Gewalt für die Zivilbevölkerung aus gefahrerhöhenden persönlichen Umständen in der Person des Schutzsuchenden ergeben, die ihn von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffenen erscheinen lassen. Solche persönlichen Umstände können sich z.B. aus dem Beruf des Schutzsuchenden als Arzt oder Journalist ergeben, ebenso aber aus seiner religiösen und ethnischen Zugehörigkeit, aufgrund derer der Schutzsuchende zusätzlich der Gefahr gezielter Gewalttaten ausgesetzt ist.

Der Bayer. Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) geht in seiner aktuellen Rechtsprechung auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnismittel davon aus, dass afghanische Staatsangehörige bei einer Rückkehr in die Provinz Balkh bzw. in die Stadt Herat nach derzeitiger Sicherheitslage im Allgemeinen keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ausgesetzt sind (zu Balkh BayVGH B.v. 8.2.2012 – 13a ZB 11.30267 – juris; B.v. 17.1.2013 – 13a ZB 12.30446 – juris; B.v.9.7.2013 – 13a ZB 13.30166 – juris; zu Herat BayVGH, U.v. 15.3.2013 – 13a B 12.30292, 13a B 12.30325 – juris; BayVGH, B.v. 14.10.2013 – 13a ZB 13.30020 – juris). So führt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in einem Urteil vom 15. März 2013 (13a B 12.30292, 13a B 12.30325 – juris Rn. 18 ff.) zu Herat aus:

„Gestützt unter anderem auf die Berichte von UNAMA (United Nations Assistance Mission in Afghanistan; Internet: unama.unmissions.org), in denen Zahlen genannt sind, wie viele Zivilpersonen im Zuge der Auseinandersetzungen in den einzelnen Regionen Afghanistans Schaden genommen haben, und ANSO (Afghanistan NGO Safety Office), in denen Zahlen zu Zwischenfällen (incidents) und solchen Angriffen genannt sind, die von Regierungsgegnern ausgeführt wurden (AOG – Armed Opposition Groups – Initiated Attacks), hat der Senat bereits für die meisten Regionen und viele Provinzen Afghanistans festgestellt, dass die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Anschlags zu werden, im Promillebereich liegt (aus jüngerer Zeit rechtskräftiges U.v. 29.1.2013 – 13a B 11.30510 – juris für Helman). Dies gilt auch für die hier einschlägige Provinz Herat in der Westregion.

Landesweit gibt der Midyear Report 2012 von UNAMA für das erste Halbjahr 2012 1.145 tote und 1.954 verletzte Zivilpersonen in ganz Afghanistan an. Dies entspricht einem Rückgang gegenüber dem Vergleichszeitraum 2011 um 10 bis 20%. Nach dem Annual Report 2012 sind im ganzen Jahr 2012 2.754 tote und 4.805 verletzte Zivilpersonen zu verzeichnen (S. 1). Hieraus ergibt sich dem Bericht zufolge im Vergleich zu 2011 ein Rückgang der Zahl der toten Zivilpersonen um 12%, verbunden allerdings mit einem gleichzeitigen geringfügigen Anstieg der verletzten Zivilpersonen. Die Gefährdungswahrscheinlichkeit bleibt damit insoweit weiterhin im unteren Promillebereich. Da sich einerseits UNAMA im Wesentlichen mit der landesweiten Entwicklung befasst, und ANSO andererseits zwar auf Provinzen abstellt, aber dort nur Zahlen für Zwischenfälle und Anschläge anführt, sind für die einzelnen Provinzen keine Opferzahlen verfügbar. Zur Beurteilung der Lage in den einzelnen Provinzen bedarf es dennoch zunächst eines Rückgriffs auf die Berichte von ANSO.

Zum einen wird dort auf Angriffe abgestellt, die von Regierungsgegnern ausgeführt wurden (AOG Initiated Attacks). Inwieweit es bei diesen Anschlägen zu Toten und Verletzten gekommen ist, ergibt sich hieraus nicht. Landesweit wurden jedoch von UNAMA im Jahr 2009 rund 5.700, im Jahr 2010 7.200, im Jahr 2011 7.500 und im Jahr 2012 7.600 Tote und Verletzte festgestellt (UNAMA, Report 2011, S. 3 und Report 2012, S. 1). Demgegenüber betrug nach ANSO landesweit die Zahl der Angriffe im Jahr 2010 12.252, im Jahr 2011 14.034 und im Jahr 2012 10.468 (Quarterly Data Report Q.4 2012 vom Januar 2013, S. 12). Hieraus ergibt sich, dass nicht jeder von ANSO gezählte Anschlag zu Toten und Verletzten geführt hat und deshalb als Gefährdungsgrad im Sinn von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nur bedingt herangezogen werden kann. Wird die Zahl der „attacks“ dessen ungeachtet zur Einwohnerzahl der Herkunftsprovinz der Kläger, Herat, mit rund 1,8 Mio. in Bezug gesetzt, ergab sich nach den von ANSO (Quarterly Data Report Q.4 2012, S. 16) gezählten 258 Anschlägen für 2010 dort eine Wahrscheinlichkeit für einen Anschlag von 0,01%. Für das Jahr 2011 sind bei ANSO für die Provinz Herat 317 „Attacks“ genannt, was gegenüber der Zahl des Jahres 2009 (mit 258 Anschlägen) eine Mehrung um 23% bedeutet. Im Jahr 2012 mit 299 von ANSO aufgelisteten Anschlägen betrug die Wahrscheinlichkeit eines Anschlags 0,02%. Unter Berücksichtigung der genannten Tatsache, dass ein Anschlag nicht zugleich der Zahl der Opfer entspricht, führt auch dies nicht zu einer relevanten Gefährdungswahrscheinlichkeit.

Seit dem Jahr 2012 enthalten die Berichte zum anderen einen tabellarischen Überblick über Zwischenfälle („incidents“) in den jeweiligen Provinzen, unterteilt nach Nichtregierungsorganisationen (NGO incidents), bewaffneten Regierungsgegnern (AOG OPS), internationalen Streitkräften (IMF OPS), afghanischen Streitkräften (ANSF OPS) und allgemeiner Kriminalität („crime“). Für Herat sind insgesamt 892 „incidents“ genannt. Selbst wenn alle 892 „incidents“, zu denen auch allgemeine Kriminalität („crime“) gehört, zugrunde gelegt würden, ergäbe sich bei einer Einwohnerzahl der Provinz von rund 1,8 Mio. für das Jahr 2012 eine Gefahrendichte im Promillebereich (0,05%). Dies ist weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10NVwZ 2012, 454 Rn. 23, demgemäß die Höhe des festgestellten Risikos von ca. 0,12 % oder ca. 1:800 pro Person und Jahr noch deutlich darunter liegt).

Wenngleich die von UNAMA bzw. ANSO ermittelten Zahlen nicht exakt sein können, weil die Liste der Vorfälle nicht unbedingt erschöpfend ist und die Abgrenzung der Vorfälle zu allgemeiner Kriminalität nicht immer eindeutig erfolgen kann, so vermitteln sie jedenfalls eine realistische Basis, die eine verlässliche Risikoabschätzung ermöglicht. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass eventuelle statistische Ungenauigkeiten bei den aufgelisteten Zahlen die Größenordnung des Gefahrenpotentials in Frage stellen würde. Die proportionale Abschätzung zeigt, dass die Gefahrendichte im Promillebereich liegt.“

Das Gericht schließt sich der Einschätzung des BayVGH an. Auch aus den neueren Erkenntnismitteln, insbesondere dem Quartalsbericht Q1/2013 von ANSO ergibt sich trotz der sich verschlechternden Sicherheitslage keine derart hohe Gefahrendichte, dass praktisch jede Zivilperson schon alleine aufgrund ihrer Anwesenheit in der Provinz Balkh oder der Provinz Herat einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.

Für die Provinz Balkh verzeichnet ANSO für das erste Quartal 2013 30 „incidents“. Gegenüber dem ersten Quartal des Jahres 2012 (16 „incidents“) bedeutet dies zwar beinahe eine Verdoppelung der Häufigkeit solcher Zwischenfälle, die sich damit wieder in etwa auf dem Niveau des Vergleichszeitraumes des Jahres 2011 (31 „incidents“) bewegt. Gegenüber anderen Provinzen stellt sich die Sicherheitslage in der Provinz Balkh jedoch vergleichsweise gut dar. Die Provinz Balkh wird von ANSO als „deteriorating“ (sich verschlechternd) eingestuft, der zweitniedrigsten Stufe der 5-stufigen Skala.

Für die Provinz Herat verzeichnet ANSO für das erste Quartal 2013 81 „incidents“. Dies ist zwar eine deutliche Steigerung gegenüber dem ersten Quartal des Jahres 2011 (58 „incidents“) und des Jahres 2012 (40 „incidents“). Gegenüber anderen Provinzen stellt sich die Sicherheitslage in der Provinz Herat jedoch vergleichsweise gut dar. Die Provinz Herat wird von ANSO als „moderately insecure“ (mäßig unsicher) eingestuft. Nach den Erkenntnissen von UNAMA (United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA), Afghanistan Annual Report, Februar 2013, S. 18) hat sich die Zahl der durch Sprengfallen in der gesamten Nord- und Westregion getöteten oder verletzten Zivilpersonen von 2011 bis 2012 nicht signifikant verändert.

Diese Einschätzung der Sicherheitslage in den Provinzen Balkh und Herat wird auch durch den Fortschrittsbericht Afghanistan der Bundesregierung vom Juni 2013 im Ergebnis nicht in Frage gestellt. Zwar relativiert die Bundesregierung in ihrem Bericht die Aussagekraft der statistischen Erhebungen aufgrund von Fehlern bei der Erfassung der sicherheitsrelevanten Zwischenfälle (SRZ) in gewissem Maße und geht vorbehaltlich einer erneut notwendigen Überprüfung der statistischen Erhebungen im Augenblick davon aus, dass die Zahl der zivilen Opfer gegenüber dem Vergleichszeitraum 2012 um etwa zwei Drittel gestiegen ist. Jedoch liegt die Gefahrendichte nach den durchgeführten Berechnungen im Promillebereich und ist weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt. Selbst wenn man für die Provinzen Balkh und Herat von einem Anstieg der zivilen Opfer um zwei Drittel ausginge, käme man nicht zu einer Gefährdungswahrscheinlichkeit, die ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG begründen würde.

2.

Der Kläger hat jedoch einen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Kann der Schutzsuchende auf der Ebene der europarechtlichen Abschiebungsverbote keinen subsidiären Schutz erlangen, sind weiter hilfsweise die nationalen Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 5 AufenthG (2.1) und des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (2.2) zu prüfen (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 4/09BVerwGE 136, 360).

2.1

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK – ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Diese Vorschrift verweist auf die EMRK, soweit sich aus dieser zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse ergeben (Hailbronner, a.a.O., § 60 AufenthG, Rn. 145). Vorliegend ist nicht erkennbar, welches – nicht bereits bei der vorrangigen Prüfung zu berücksichtigende – Recht der EMRK im vorliegenden Fall ein Abschiebungshindernis begründen soll.

2.2

Dem Kläger droht jedoch im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan eine individuelle, erhebliche konkrete Gefahr im Sinn von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG durch Racheakte einer kriminellen Gruppierung, die seinen Vater und seinen ältesten Sohn ermordet hat.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Allerdings sind nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG derartige Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen.

Dies bedeutet, dass auf der Grundlage von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG der Schutzsuchende lediglich individuelle, nur ihm persönlich drohende Gefahren geltend machen kann (BVerwG, U.v. 29.6.2010 – 10 C 10/09NVwZ 2011, 48). Beruft er sich auf allgemeine Gefahren außerhalb bewaffneter Konflikte, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der er angehört, allgemein ausgesetzt ist, kann dies ausschließlich bei Anordnungen nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG berücksichtigt werden. Zur Gruppe der allgemeinen Gefahren in diesem Sinn gehört auch eine unzureichende Versorgungslage in Afghanistan, die insbesondere für Rückkehrer ohne Berufsausbildung und ohne familiäre Unterstützung besteht. Dies gilt auch dann, wenn die Gefahr durch Umstände in der Person oder in den Lebensverhältnissen des Schutzsuchenden begründet oder verstärkt wird, aber nur eine typische Auswirkung der allgemeinen Gefahrenlage ist (BayVGH, U.v. 9.12.2011 – 13a B 10.30171 – juris Rn. 18). Die Anordnung eines solchen Abschiebestopps besteht derzeit für die Personengruppe, der die Klagepartei angehört, nicht.

Dem Kläger droht nach der Überzeugung des Gerichts im Falle seiner Rückkehr in die Heimatstadt Mazar-i-Sharif die erhebliche und konkrete individuelle Gefahr, das Ziel von weiteren Racheakten der kriminellen Gruppierung zu werden, die bereits seinen Vater und seinen Sohn ermordet hat, weil sein Vater ihre kriminellen Aktivitäten aufgedeckt hat. Das diesbezügliche Vorbringen des Klägers ist glaubhaft (siehe 1.1). Aus dem Umstand, dass vor der Ausreise bereits zwei Angehörige des Klägers ermordet wurden und mittlerweile offenbar auch sein Schwager, und dass der Kläger von Bekannten vor weiteren Racheakten gewarnt wurde, ergibt sich mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit, dass er selbst das Opfer eines Mordanschlages werden könnte, wenn er sich wieder in Mazar-i-Sharif niederlassen sollte.

Dem Kläger steht auch keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bayer. Verwaltungsgerichtshofs (z.B. U.v. 3.2.2011 – 13a B 10.30394 – juris Rn. 31 ff.; U.v. 8.11.2012 – 13a B 11.30391 – juris Rn. 28 ff.; U.v. 15.3.2013 – 13a B 12.30292, 13a B 12.30325 – juris Rn. 35 ff.), der sich das Gericht anschließt, ist gemäß sämtlichen Auskünften und Erkenntnismitteln nicht davon auszugehen, dass ein alleinstehender arbeitsfähiger männlicher afghanischer Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach einer Rückkehr in eine derartige extreme Gefahrenlage geraten würde, die eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich als unzumutbar erscheinen ließe. Zwar ist die Versorgungslage in Afghanistan schlecht, jedoch ist im Wege einer Gesamtgefahrenschau nicht anzunehmen, dass bei einer Rückführung nach Afghanistan alsbald der sichere Tod drohen würde oder alsbald ernste Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten wären.

Der Kläger kann aber aufgrund einer Gesamtbetrachtung seiner persönlichen Umstände nicht der o.g. Gruppe zugerechnet werden, die sich nach ständiger Rechtsprechung nicht auf eine extreme Gefahrenlage infolge der landesweit schlechten Versorgungslage in Afghanistan berufen kann. Zum einen ist der Kläger gegenüber seiner Ehefrau und seinen beiden Kindern unterhaltsverpflichtet. Zum anderen könnte er außerhalb von Mazar-i-Sharif wohl nicht mehr auf eine wirtschaftliche Existenzgrundlage zurückgreifen. Zwar hat sich der Kläger vor seiner Ausreise bisweilen in Herat aufgehalten und dort im Hause seiner Schwiegermutter gewohnt. Diese ist aber nach seinen Angaben nach England geflohen. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung auch angegeben, er wisse nicht, ob das Haus seiner Schwiegereltern noch existiere. Ebenso gut ist daher möglich, dass das Haus verkauft wurde, um die Flucht der Schwiegermutter und des Schwagers zu finanzieren. Daher steht nicht fest, dass der Kläger in Herat auf eine ausreichende Existenzgrundlage zurückgreifen könnte. In anderen Landesteilen leben keine Familienangehörigen des Klägers mehr, die ihn im Falle einer Rückkehr unterstützen könnten. Seine Brüder leben nach seinen Angaben im Iran. Seine Schwestern leben zwar noch in Afghanistan, er kennt aber ihren Aufenthaltsort angeblich nicht. Der Kläger könnte also im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan nicht auf die Unterstützung eines Familienverbandes zurückgreifen. Ob er als Auswanderer seine Ansprüche auf das Haus in Mazar-i-Sharif durchsetzen könnte, das er nach seinen Angaben beim Bundesamt noch besitzt, etwa um es zu verkaufen, erscheint fraglich. Daher wäre der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan auf sich alleine gestellt. Er hatte im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bereits sein 48. Lebensjahr überschritten und ist damit für afghanische Verhältnisse als älterer Mann anzusehen, der auch in einer Großstadt wie Kabul keine Chance haben dürfte, sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten (VG Würzburg U.v. 14.12.2012 – W 6 K 10.30258 – UA S. 21; Dr. Mostafa Danesch, Stellungnahmen an den HessVGH v. 23.1.2006, 4.12.2006, 3.12.2008 und 7.10.2010). Es ist ihm daher nicht zuzumuten, sich in einem anderen Landesteil von Afghanistan niederzulassen.

3.

Die vom Bundesamt verfügte Abschiebungsandrohung in Ziffer 4 des Bescheides ist im Hinblick auf Afghanistan als Zielstaat der Abschiebung aufzuheben, weil insoweit die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes vorliegen (§ 34 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 83b AsylVfG, wobei das Gericht von folgender Gewichtung der Streitgegenstände ausgeht: Flüchtlingseigenschaft und Abschiebungsverbote im Verhältnis zueinander 1:1, innerhalb der Abschiebungsverbote § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG und § 60 Abs. 5, 7 Satz 1 AufenthG im Verhältnis zueinander 1:1 (VG Würzburg B.v. 5.4.2013 – W 1 M 12.30181 – juris Rn. 14 m.w.N.).