OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13.01.2014 - 10 B 1323/13
Fundstelle
openJur 2014, 4535
  • Rkr:
Tenor

Der angefochtene Beschluss wird mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert.

Der Antrag wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt.

Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 3.750,00 Euro festgesetzt.

Gründe

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Das Verwaltungsgericht hat dem Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 2. Oktober 2012 für den Neubau einer Tischlerei anzuordnen, im Wesentlichen mit der Begründung stattgegeben, die Baugenehmigung verstoße nach summarischer Prüfung zu Lasten des Antragstellers gegen das in § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO verankerte Gebot der Rücksichtnahme. Der die Zumutbarkeitsschwelle für schädliche Umwelteinwirkungen im Sinne von § 3 Abs. 1 BImSchG zutreffend kennzeichnende Immissionswert von 0,15 (15 % Geruchsstunden im Jahr) nach Nr. 3.1. der GIRL werde auf dem Vorhabengrundstück ausweislich des im Bebauungsplanverfahren eingeholten Gutachtens des U. vom 24. Mai 2011 aller Voraussicht nach um 0,7 überschritten.

Die mit der Beschwerde dargelegten Gründe geben Anlass zu einer Änderung der angefochtenen Entscheidung.

Das Verwaltungsgericht ist von der Wirksamkeit des vom Rat der Gemeinde I. am 8. November 2011 als Satzung beschlossenen Bebauungsplans BO 30 "Nördlich C." Teil 2 (im Folgenden: Bebauungsplan) ausgegangen. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung der Bausenate des Oberverwaltungsgerichts, die in Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die einem Dritten erteilte Baugenehmigung grundsätzlich die Wirksamkeit des maßgeblichen Bebauungsplans zugrunde legen, wenn dieser nicht offensichtlich unwirksam ist.

Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 21. Dezember 2006 - 7 B 2193/06 -, BRS 70 Nr. 181, vom 24. November 2008 - 7 B 955/08 - und vom 12. April 2007 - 10 B 113/07 -.

Der vom Verwaltungsgericht angenommene Verstoß der Baugenehmigung gegen § 15 Abs. 1 BauNVO wäre danach schon deshalb nicht gegeben, weil die im Zusammenhang mit der Gebietsfestsetzung gebotene Rücksichtnahme auf die Nutzungen in der Umgebung des Plangebiets bereits in die dem Bebauungsplan zugrunde liegende Abwägung der öffentlichen und privaten Belange eingeflossen ist. § 15 Abs. 1 BauNVO als Ausprägung des bauplanungsrechtlichen Rücksichtnahmegebotes findet im Baugenehmigungsverfahren keine Anwendung mehr, wenn das Rücksichtnahmegebot von der vorausgegangenen planerischen Abwägung gleichsam "aufgezehrt" ist. Die Vorschrift ergänzt lediglich die Festsetzungen des Bebauungsplans, soweit dieser selbst noch keine Lösung für bestimmte Konfliktsituationen enthält. Ihre Anwendung darf aber nicht zur Korrektur der planerischen Entscheidung führen.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 12. September 2013

- 4 C 8.12 -, juris.

Grundsätzlich gebietet das in § 1 Abs. 7 BauGB enthaltene Gebot der Konfliktbewältigung, dass jeder Bebauungsplan die von ihm selbst geschaffenen oder ihm sonst zurechenbaren Konflikte zu lösen hat, indem die von der Planung berührten Belange zu einem gerechten Ausgleich gebracht werden. Die Planung darf nicht dazu führen, dass Konflikte, die durch sie hervorgerufen werden, zu Lasten der Betroffenen letztlich ungelöst bleiben. Dessen war sich der Rat ausweislich des Inhalts der vom Senat beigezogenen Aufstellungsvorgänge auch bewusst. Er hat die durch die beabsichtigten Gebietsfestsetzungen GI und GE in der Umgebung vorhandener Tierhaltungsbetriebe zu erwartenden Konflikte dahingehend gelöst, dass er auf der Grundlage des eingeholten Geruchsgutachtens des U. vom 24. Mai 2011 immissionsempfindliches Wohnen nach § 8 Abs. 3 Nr. 1 sowie § 9 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO im Plangebiet nicht zugelassen und den künftigen gewerblichen und industriellen Anlagen im Plangebiet Geruchsbelästigungen von 0,17 bis maximal 0,24 (17 % bis 24 % Geruchsstunden im Jahr) zugemutet hat. Für den Rat war ausweislich der Bebauungsplanbegründung ausschlaggebend, dass dadurch in den für produzierendes Gewerbe vorgesehenen Baugebieten keine ungesunden oder unzumutbaren Arbeitsbedingungen zu erwarten seien. Es bestehe für die ortsansässigen Betriebe ein konkreter Bedarf an gewerblichen Nutzflächen im Gemeindegebiet, der es rechtfertige, die Orientierungswerte der GIRL zu überschreiten, zumal die Rechtsprechung für Wohnnutzungen am Rande des Außenbereichs Belastungswerte von 0,25 (25 % Geruchsstunden im Jahr) als zumutbar angesehen habe. Da die durch Gerüche hervorgerufenen Beeinträchtigungen in dem vorhandenen benachbarten Gewerbegebiet die für das Plangebiet zu erwartenden Werte noch überschritten, sei mit keinen planbedingten Einschränkungen für die in der Umgebung angesiedelten landwirtschaftlichen Betriebe zu rechnen.

Diese planerische Entscheidung ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - jedenfalls wenn sie rechtmäßig ist - keiner Korrektur im Baugenehmigungsverfahren zugänglich. Eine Verlagerung der Konfliktbewältigung auf das nachfolgende Baugenehmigungsverfahren kommt nur in Betracht, sofern der Bebauungsplan für eine solche noch offen ist, wovon nach dem Vorstehenden hier nicht ausgegangen werden kann.

Demgegenüber würde die vom Verwaltungsgericht getroffene Wertung zu einer Korrektur der planerischen Entscheidung führen. Die gutachterlich für das Plangebiet ermittelten Geruchsstundenhäufigkeiten liegen sämtlich über den für Gewerbe- und Industriegebiete geltenden Orientierungswerten der GIRL von jeweils 0,15 (15 % Geruchsstunden im Jahr), sodass die Gebietsfestsetzungen im gesamten Plangebiet nicht umsetzbar und der Bebauungsplan in seinen Kernaussagen nicht vollziehbar wäre.

Aber auch im Falle einer offensichtlichen Unwirksamkeit des Bebauungsplans vermag der Senat keinen Nachbarrechtsverstoß der Baugenehmigung zu Lasten des Antragstellers festzustellen.

Erwiese sich der Bebauungsplan als unwirksam, läge das Vorhabengrundstück im Außenbereich. Es fände das in § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BauGB verankerte Rücksichtnahmegebot Anwendung. Dem genehmigten Tischlereibetrieb wären die nach derzeitigem Erkenntnisstand zu erwartenden Geruchsbelästigungen aller Voraussicht nach zumutbar, sodass der Antragsteller keine vorhabenbedingten Einschränkungen für seinen Betrieb befürchten muss. Auch die im Beschwerdeverfahren durch Vorlage des Gutachtens der Ingenieurgesellschaft A. vom 23. September 2013 geltend gemachte Gesamtbelastung des Vorhabengrundstücks von maximal 0,25 (25 % Geruchsstunden im Jahr) zwänge ihn - ungeachtet des Umstandes, dass diese nur an dem geplanten Industriegebiet prognostiziert ist - nicht zu einer ihm nicht mehr zumutbaren Rücksichtnahme auf die genehmigte Tischlerei.

Einen ausdrücklichen Immissionsgrenzwert für Außenbereichsvorhaben regelt die GIRL nicht. In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist allerdings anerkannt, dass beispielsweise Eigentümer eines Wohnhauses am Rande zum Außenbereich stärkere Immissionen hinzunehmen haben, als dies in einem allgemeinen Wohngebiet für zulässig angesehen wird. In der Begründung und in den Auslegungshinweisen zu Nr. 3.1 GIRL ist erläuternd ausgeführt, dass das Wohnen im Außenbereich mit einem immissionsschutzrechtlich geringeren Schutzanspruch verbunden sei. Vor diesem Hintergrund sei es möglich, unter Prüfung der speziellen Randbedingungen des Einzelfalls im Außenbereich eine Geruchsbelastung durch landwirtschaftliche Gerüche von bis zu 0,25 (25 % Geruchsstunden im Jahr) zuzulassen.

Der Außenbereich ist bauplanungsrechtlich nur ausnahmsweise für Wohnnutzungen, regelmäßig aber als Standort auch für solche - insbesondere landwirtschaftliche - Betriebe vorgesehen, die erhebliche Emissionen verursachen (§ 35 Abs. 1 BauGB). Im typischerweise landwirtschaftlich genutzten Außenbereich muss deshalb vor allem mit Lärm und Gerüchen gerechnet werden, die durch Tierhaltung, Dungstätten, Güllegruben und dergleichen üblicherweise entstehen. Sie sind typische Begleiterscheinungen der zulässigen landwirtschaftlichen Nutzung, so dass der Eigentümer eines Wohnhauses am Rande zum Außenbereich in der Regel nicht verlangen kann, von den mit der Tierhaltung verbundenen Immissionen weitestgehend verschont zu bleiben.

Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 21. Februar 2013

- 10 A 2844/11 - und vom 12. August 2008 - 10 A 1666/05 -, juris, m.w.N.; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 23. Januar 2013 - 8 C 10782/12 -, juris.

Dies gilt erst recht für den Eigentümer eines im Außenbereich gelegenen Grundstücks, der dort in der Nachbarschaft emittierender landwirtschaftlicher Betriebe und in Kenntnis der situationsgeprägten Vorbelastung seines Grundstücks - wie hier - eine gewerbliche Nutzung aufnehmen will.

Diese Maßstäbe werden auch nicht durch den Einwand in Frage gestellt, es könne sich bei den auf das Vorhabengrundstück einwirkenden Gerüchen nicht um "landwirtschaftliche", sondern um "gewerbliche" Emissionen handeln. Dem U. lagen ausweislich seiner Feststellungen bei der Erstellung seines Gutachtens vom 24. Mai 2011 sämtliche Bauakten der bewerteten Tierhaltungsbetriebe vor, weshalb die in dem Gutachten getroffene Aussage, es handele sich dabei um landwirtschaftliche Betriebe ‑ vgl. insbesondere Seite 7 des Gutachtens vom 24. Mai 2011 -, im Eilverfahren keiner näheren Prüfung zu unterziehen ist. Das Beschwerdevorbringen, einige der zur Geruchsbelastung beitragenden Tierhaltungsbetriebe könnten gewerblicher Art sein, beschränkt sich insoweit auf eine reine Vermutung.

Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO. Dabei geht der Senat davon aus, dass sich der Beigeladene der Beschwerdebegründung des Antragsgegners in der Sache zwar angeschlossen, aber keinen eigenen Antrag gestellt hat.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 40, 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.

Der Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).