Bayerischer VGH, Beschluss vom 13.02.2014 - 9 CS 13.2143
Fundstelle
openJur 2014, 4382
  • Rkr:
Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

II. Die Beigeladene hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.

III. Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 3.750 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Die Antragsteller wenden sich als Eigentümer des Grundstücks Fl.Nr. 4155/65 der Gemarkung S., U.straße 1, ... eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines Zweifamilienhauses als Doppelhaushälfte mit Garage und Wintergarten auf dem Nachbargrundstück Fl.Nr. 4155/31. Beide Grundstücke liegen im Geltungsbereich des am 10. September 1971 in Kraft getretenen Bebauungsplans „Ü.“ (im Folgenden: Bebauungsplan). Nach Ziffer 3 der weiteren Festsetzungen des Bebauungsplans sind bei „Doppelhäusern und Gruppenbauweise (…) die zusammenhängenden Gebäude im Querschnitt genau einander anzugleichen und in der Gestaltung auf einander abzustimmen“. Gemäß einer zeichnerischen Festsetzung („o“) ist auf den bezeichneten Grundstücken die offene Bauweise festgesetzt. Gemäß Ziffer 4 der weiteren Festsetzungen beträgt die „zulässige Bebauungstiefe = maximal 12,00 m entsprechend § 23 BauNVO (soweit keine rückwärtige Baugrenze oder Baulinie festgesetzt ist)“. Weiterhin setzt der Bebauungsplan eine vordere Baulinie und eine hintere Baugrenze fest.

Mit Bescheid vom 14. Mai 2013 erteilte das Landratsamt der Beigeladenen die beantragte Baugenehmigung auf der Grundlage der „Baupläne vom Februar 2013“. Die bei den Akten befindlichen, mit einem entsprechenden Genehmigungsvermerk versehenen Pläne weisen keine Nachbarunterschrift auf und sehen an der südlichen Fassade, westlich des Wintergartens, einen ca. 3 m breiten, 1,50 m vorspringenden und 6,20 m hohen Erker vor. In den Akten finden sich daneben weitere Eingabepläne, ebenfalls vom Februar 2013, die farbig als „überholt“ gekennzeichnet sind, Nachbarunterschriften – unter anderem der Antragsteller – aufweisen und einen Erker an der westlichen Außenwand mit einer Länge von 4,50 m und einer Tiefe von 87 cm vorsehen.

Dem Antrag der Antragsteller – die keine Ausfertigung der Baugenehmigung erhalten haben –, die aufschiebende Wirkung ihrer gegen die Baugenehmigung erhobenen Klage anzuordnen, gab das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 24. September 2013 statt. Die Erfolgsaussichten ihrer Anfechtungsklage seien nach summarischer Prüfung anhand der Akten als offen anzusehen, weil das streitgegenständliche Vorhaben möglicherweise den planungsrechtlichen Vorgaben in den Festsetzungen des Bebauungsplans widerspreche. Zweifel bestünden insbesondere hinsichtlich der – insoweit wohl nachbarschützenden – geforderten Angleichung und abzustimmenden Gestaltung von Doppelhäusern untereinander (von dieser Festsetzung habe die Beigeladene auch keine Befreiung beantragt), bezüglich der Bebauungstiefe und im Hinblick auf die Frage, ob es sich bei dem geplanten Anbau des Wintergartens tatsächlich um einen solchen handle. Im Übrigen sei fraglich, ob das nachbarliche Gebot der Rücksichtnahme durch eine etwaige Nichteinhaltung von Abstandsflächen verletzt sei. Bei dieser Sach- und Rechtslage, die eine umfassende Prüfung im Rahmen eines Hauptsacheverfahrens erfordere, überwiege das Interesse der Antragsteller, von der Schaffung vollendeter Tatsachen verschont zu bleiben, dasjenige der Beigeladenen an einer baldigen Ausführung ihres Bauvorhabens.

Die Beigeladene hat gegen diesen Beschluss Beschwerde eingelegt, mit dem Antrag,

den Beschluss des Verwaltungsgerichts aufzuheben und die sofortige Vollziehung des Baugenehmigungsbescheids anzuordnen,

hilfsweise,

die aufschiebende Wirkung nur für die im südlichen Anbau errichteten Anbauten „Erker“ und „Wintergarten“ wiederherzustellen, im Übrigen (den Antrag auf) die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage zurückzuweisen.

Den Antragstellern fehlten im vorliegenden Verfahren sowohl Antragsbefugnis als auch Rechtsschutzbedürfnis, denn zum einen sei der Bebauungsplan, wie die Gestaltung der Umgebungsbebauung zeige, weitgehend funktionslos geworden, zum anderen hätten sie mit ihrer Unterschrift ihr Einverständnis jedenfalls mit dem geplanten Wintergarten erklärt. Hinsichtlich des Erkers, der aufgrund abstandsrechtlicher Bedenken, die eine Tekturplanung erforderlich gemacht hätten, auf die südliche Seite zu verlegen gewesen sei, handle es sich um ein Bauwerk von untergeordneter Bedeutung. Im Übrigen sei auch ein entsprechender Befreiungsantrag gestellt worden.

Die Antragsteller verteidigen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts und beantragen,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Der Antragsgegner hat im Beschwerdeverfahren keinen Antrag gestellt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

II.

Die zulässige Beschwerde bleibt in der Sache ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat dem Antrag der Antragsteller, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Baugenehmigung vom 14. Mai 2013 anzuordnen, zu Recht stattgegeben, weil diese Genehmigung nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nur möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung möglicherweise gegen nachbarschützende Rechtsvorschriften verstößt, die im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren zu prüfen sind. Bei dieser Sach- und Rechtslage fällt die anzustellende Interessenabwägung zu Ungunsten der Beigeladenen aus. Die allein zu prüfenden Beschwerdegründe (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO) rechtfertigen keine Abänderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses.

1. Soweit die Beigeladene im Beschwerdeverfahren vorträgt, eine Verletzung der Antragsteller in sich aus dem Bebauungsplan ergebenden, nachbarschützenden Rechten scheide schon deshalb aus, weil dieser, wie die tatsächliche äußere Gestaltung der bereits vorhandenen Bauten zeige, weitgehend funktionslos geworden sei, verhilft dies ihrer Beschwerde nicht zum Erfolg. Nach ständiger Rechtsprechung sowohl des Bundesverwaltungsgerichts als auch des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (vgl. BVerwG, U.v. 18.11.2004 – 4 CN 11/03 – m.w.N.; BayVGH, B.v. 25.9.2013 – 15 ZB 11.2302 – m.w.N.) kann ein Bebauungsplan funktionslos werden, wenn sich die Sach- oder Rechtslage nachträglich so verändert hat, dass ein Planvollzug auf unüberschaubare Zeit ausgeschlossen erscheint. Bloße Zweifel an der Verwirklichungsfähigkeit des Plans reichen für die Annahme eines unüberwindlichen Hindernisses indes nicht aus. Ein Bebauungsplan tritt wegen nachträglicher Funktionslosigkeit nur dann außer Kraft, wenn offenkundig ist, dass er als Instrument für die Steuerung der städtebaulichen Entwicklung nicht mehr tauglich ist.

Gemessen daran belegen weder die von der Beigeladenen als Anlage A 2 zum Schriftsatz vom 30. September 2013 vorgelegte Ablichtung aus Google maps noch die Fotoaufnahmen der U.straße und Umgebung (Anlage A 3) diese Behauptung. Der – undeutliche – Ausdruck aus Google maps lässt schon die vorhandenen Bautiefen nicht mit der gebotenen Zuverlässigkeit erkennen, dies gilt erst recht für die äußere Gestaltung der bestehenden Bauten – etwa das Vorhandensein von Erkern oder die nach Ziffer 3 der weiteren Festsetzungen des Bebauungsplans erforderliche Angleichung von Doppelhäusern. Die vorgelegten Fotos zeigen lediglich im Hinblick auf die aufgenommene Örtlichkeit nicht bezeichnete einzelne Bauten, die betreffend die Gesamtbebauung und deren Gestaltung ebenfalls keine substantiierte Einschätzung ermöglichen. Soweit die Beigeladene im Übrigen zur diesbezüglichen Glaubhaftmachung die Einholung der Baugenehmigungen und Befreiungen für den Bebauungsplanbereich „Ü.“, zu übergeben durch das Landratsamt Aschaffenburg, sowie die Einholung einer eidesstattlichen Versicherung einer (namentlich benannten) Beamtin fordert, gingen derartige gerichtliche Ermittlungen über die im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens notwendige und ausreichende, lediglich summarische Überprüfung der Sach- und Rechtslage deutlich hinaus und sind schon aus diesem Grund nicht geboten.

2. Die weitere Rüge der Beigeladenen, die Antragsteller hätten sich ihres Rechts, gegen die erteilte Baugenehmigung gerichtlich vorzugehen, durch die von ihnen geleistete Unterschrift auf den Planungsunterlagen begeben, mithin kein Rechtsschutzinteresse (mehr), greift ebenfalls nicht durch. Denn es müssen, um eine rechtswirksame Zustimmung des bzw. der Nachbarn annehmen zu können, die mit der Unterschrift der Nachbarn versehenen Bauvorlagen mit der erteilten Baugenehmigung übereinstimmen, d.h. die Bauvorlagen müssen so genehmigt worden sein, wie sie dem Nachbarn zur Unterschrift vorgelegt worden waren (Dirnberger in: Simon/Busse, BayBO, Art. 66 Rn. 149). Die Unterschrift deckt insbesondere nicht spätere Anträge auf Tektur- oder Änderungsgenehmigungen. Bei den Nachbarn belastenden Änderungen der Bauvorlagen ist er vom Bauherrn, der Gemeinde oder der Behörde erneut zu beteiligen (Dirnberger in: Simon/Busse, BayBO, Art. 66 Rn. 150). Daran fehlt es hier. Denn die ursprünglichen, von den Antragstellern unterschriebenen Baupläne sind mittels eines roten Stempelaufdrucks ausdrücklich als „überholt“ gekennzeichnet und liegen damit der am 14. Mai 2013 erteilten Baugenehmigung ersichtlich nicht zu Grunde. Die mit einem entsprechenden behördlichen Genehmigungsvermerk versehenen – und nicht als Tektur bezeichneten – Planunterlagen, auf die die Baugenehmigung Bezug nimmt, sind dagegen nicht von den Antragstellern unterzeichnet worden. Diese Pläne enthalten auch – jedenfalls bezüglich des geplanten Erkers – eine die Antragsteller als Nachbarn betreffende, nicht nur geringfügige Änderung: Denn der Erker wurde nicht nur in seinen Ausmaßen verändert, sondern auch von der westlichen, den Antragstellern abgewandten Seite des Bauvorhabens der Beigeladenen auf dessen südliche Fassadenseite verlagert. Dadurch wird jedenfalls – wovon das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeht – die nach den weiteren Festsetzungen des Bebauungsplans einheitlich zu gestaltende Fassade des entstehenden Doppelhauses deutlich verändert, ohne dass es im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes noch darauf ankommt, ob eventuell auch weitere Rechte der Antragsteller verletzt sein könnten. Soweit die Beigeladene in diesem Zusammenhang geltend macht, sie habe einen Befreiungsantrag gestellt, bezieht sich dieser von ihr mit Schriftsatz vom 22. Oktober 2013 vorgelegte und auch bei den Akten befindliche Antrag auf den früheren, noch in westlicher Richtung geplanten Erker; im Übrigen wurde eine entsprechende ausdrückliche Befreiung mit der Baugenehmigung vom 14. Mai 2013 nicht erteilt.

3. Der Hinweis der Beigeladenen schließlich, die Antragsteller seien im vorläufigen Rechtsschutzverfahren auch deshalb nicht schutzwürdig, weil sie bezüglich der von ihnen errichteten Doppelhaushälfte selbst in den Genuss von Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans gekommen seien, verhilft der Beschwerde ebenfalls nicht zum Erfolg. Die von der Beigeladenen „exemplarisch“ gemachten Angaben zu „Dachneigung, Trempel, Maigauben und Versetzung der Baulinie“ legen nicht hinreichend substantiiert dar, in welchem Verhältnis diese zu der von ihr geplanten Gestaltung des Doppelhauses stehen bzw. diese beeinflussen sollten. Im Übrigen stellt der früher errichtete Grenzbau (hier der Antragsteller) insoweit und in gewissem Rahmen eine „Vorbelastung“ für den geplanten Grenzbau (hier der Beigeladenen) dar, als das nachfolgende Bauvorhaben in eine „harmonische Beziehung“ zu diesem treten muss (vgl. dazu auch BVerwG, U.v. 24.2.2000 – 4 C 12/98).

4. Angesichts der offenen Erfolgsaussichten der von den Antragstellern erhobenen Klage ist die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Abwägung, das Interesse der Antragsteller, von der Schaffung vollendeter Tatsachen verschont zu bleiben, überwiege das Interesse der Beigeladenen am Vollzug ihrer Baugenehmigung, nicht zu beanstanden. Die weder begründete noch belegte Behauptung der Beigeladenen, eine derartige Gefahr der Schaffung vollendeter Tatsachen bestehe nicht, ändert daran nichts.

5. Der im Beschwerdeverfahren hilfsweise gestellte Antrag der Beigeladenen, die aufschiebende Wirkung nur für die im südlichen Anbau errichteten Anbauten „Erker“ und „Wintergarten“ wiederherzustellen und den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage im Übrigen zurückzuweisen, ist ebenfalls nicht begründet. Zwar kann unter Umständen eine lediglich teilweise Stattgabe des Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage aus sachlichen oder räumlichen Gründen geboten sein. Räumliche Beschränkungen wie die hier beantragten sind angezeigt, wenn sich die Rechtswidrigkeit einer Baugenehmigung nur auf bestimmte abtrennbare Bauteile, wie etwa eine Grenzgarage, einen Balkon oder Nebenanlagen bezieht (Schmidt in Eyermann, VwGO, 13. Auflage, § 80 Rn. 87). Es ist jedoch nicht ersichtlich und von der Beigeladenen auch nicht dargelegt, wie im vorliegenden Fall der Bau des Erkers bzw. des Wintergartens, die beide räumlich mit dem Bau des gesamten Hauses unmittelbar verbunden sind, isoliert eingestellt werden könnte.

6. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, Abs. 3 VwGO; die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG und orientiert sich am Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.