KG, Beschluss vom 28.10.2013 - 4 Ws 132/13
Fundstelle
openJur 2014, 3325
  • Rkr:

1. Das in Haftsachen geltende, aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 5 Abs. 3 Satz 2 MRK folgende Gebot der besonderen Verfahrensbeschleunigung verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte von Anfang an alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen.

2. Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Je nach Sachlage kann dabei bereits eine vermeidbare Verfahrensverzögerung von wenigen Wochen mit dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen unvereinbar sein.

3. Ist die durch eine fehlerhafte Sachbehandlung eingetretene, von dem Beschuldigten nicht zu vertretende und vermeidbare Verfahrensverzögerung nicht unerheblich und könnte sie auch durch zukünftige besonders beschleunigte Bearbeitung nicht mehr hinreichend ausgeglichen werden, ist der Haftbefehl ohne Rücksicht auf die Straferwartung aufzuheben.

Tenor

1. Auf die weitere Beschwerde der Angeschuldigten werden der Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 23. August 2013 – 381 Gs 211/13 – und der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 24. September 2013 aufgehoben.

2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens fallen der Landeskasse Berlin zur Last.

Gründe

I.

Die Angeschuldigte ist am 22. August 2013 in Berlin wegen des Verdachts des Taschendiebstahls in einem Ladengeschäft vorläufig festgenommen worden. Sie war von dem Ladendetektiv dabei beobachtet worden, wie sie in einer A.-Filiale am R.-Damm 6 die Geldbörse einer Kundin mit ca. 150 Euro Bargeld aus deren am Einkaufswagen hängender Tasche entnommen hatte.

Zum Zeitpunkt der Festnahme war sie von drei auswärtigen Staatsanwaltschaften zur Aufenthaltsermittlung zum Zwecke der Strafverfolgung ausgeschrieben. Das Amtsgericht Delmenhorst hatte bereits am 10. Juli 2013 gegen sie einen Haftbefehl – 81 Gs 660 Js 61688/12 (176/13) – erlassen, weil sie dringend verdächtig war, zwischen September 2012 und April 2013 in sieben Fällen in Selbstbedienungsläden fremde Geldbörsen aus Einkaufstaschen entwendet und in drei Fällen die mit den Geldbörsen erbeuteten EC-Karten und PIN zur Abhebung von Bargeld an Geldautomaten eingesetzt zu haben. Aufgrund dieses Haftbefehls ist Überhaft notiert.

Hinsichtlich einer weiteren Strafanzeige wegen Diebstahls – in einer Filiale der Firma R. in der M.straße 34 in Berlin war am 24. Juli 2013 einer Kundin die Geldbörse mit ca. 40 Euro Bargeld aus ihrer am Einkaufswagen hängenden Tasche entwendet worden – konnte die Angeschuldigte mittels Videoaufzeichnungen noch am selben Tag als Tatverdächtige ermittelt werden.

Wegen des dringenden Verdachts der gewerbsmäßigen Begehung des Diebstahls am 22. August 2013 und bestehender Fluchtgefahr hat das Amtsgericht Tiergarten in Berlin am 23. August 2013 den angefochtenen Haftbefehl gegen die Angeschuldigte erlassen und ihr Rechtsanwalt R. gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO zum Pflichtverteidiger bestellt.

Die Amtsanwaltschaft Berlin hat wegen der Taten vom 24. Juli und 22. August 2013 bereits am 30. August 2013 die Anklage zum Strafrichter gefertigt, die am 2. September 2013 bei dem Amtsgericht Tiergarten eingegangen ist. Die zuständige Strafrichterin hat am 4. September 2013 die Übersendung der Anklageschrift an die Angeschuldigte und ihren Verteidiger verfügt, die Übersetzung derselben veranlasst und die Frist nach § 201 StPO auf sieben Tage bestimmt. Die Verfügung ist am 5. September 2013 ausgeführt, Termin zur Wiedervorlage zwecks Eröffnungsentscheidung, Terminierung und Entscheidung über die von der Amtsanwaltschaft beantragte Erweiterung des Haftbefehls wegen der Tat vom 24. Juli 2013 ist dementsprechend auf den 12. September 2013 notiert worden.

Mit am selben Tag beim Amtsgericht eingegangenem Schriftsatz vom 6. September 2013 hat sich Rechtsanwalt F. unter Vollmachtvorlage zum Verteidiger der Angeschuldigten bestellt, Akteneinsicht beantragt und Beschwerde gegen den Beiordnungsbeschluss vom 23. August 2013 eingelegt. Er hat beantragt, der Angeschuldigten unter Entpflichtung von Rechtsanwalt R. als Pflichtverteidiger bestellt zu werden. Mit einem weiteren Schriftsatz vom selben Tag hat er für die Angeschuldigte Haftbeschwerde eingelegt und die Aufhebung des Haftbefehls vom 23. August 2013 beantragt. Er hat das Fehlen eines Haftgrundes und im Übrigen die Unverhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft gerügt.

Am 9. September 2013 hat die Amtsrichterin mit beiden Verteidigern den 23. September 2013, 9.00 Uhr, als möglichen Hauptverhandlungstermin abgesprochen, der Haftbeschwerde nicht abgeholfen und die Akte der Staatsanwaltschaft zur Vorlage an das Landgericht Berlin übersandt. Eine Frist zur Wiedervorlage hat sie nicht verfügt. Nachdem die Akte der Richterin am 11. September 2013 nochmals vorgelegt worden war und diese die Übersendung der Anklageübersetzung an die Angeschuldigte verfügt hatte, wurde die Verfügung vom 9. September 2013 am 12. September 2013 ausgeführt. Seither ist die Sachakte nicht zum Amtsgericht zurückgelangt; über die Eröffnung des Hauptverfahrens und die beantragte Erweiterung des Haftbefehls sowie den Antrag auf Auswechselung des Pflichtverteidigers ist noch nicht entschieden.

Bei dem Landgericht Berlin ist die Akte am 18. September 2013 eingegangen. Rechtsanwalt F. hat am selben Tag eine Meldebescheinigung für die Angeschuldigte (in Polen) und die Geburtsurkunde ihrer siebenjährigen Tochter – beides in polnischer Sprache – an das Landgericht gesandt und eine Vollmacht der Angeschuldigten zu den Akten gereicht, die ihn gemäß § 145a StPO zur Entgegennahme von Ladungen ermächtigt. Auf seine Bitte hin hat ihm das Landgericht Akteneinsicht gewährt.

Das Landgericht Berlin hat die Haftbeschwerde mit dem angefochtenen Beschluss vom 24. September 2013 als unbegründet verworfen. Die Angeschuldigte sei der gewerbsmäßigen Begehung des Diebstahls am 22. August 2013 aufgrund der Angaben des Ladendetektivs, der Geschädigten und des festnehmenden Polizeibeamten dringend verdächtig. Es bestehe der Haftgrund der Fluchtgefahr; im Hinblick auf den Tatvorwurf und die (wegen der im Haftbefehl genannten, der weiteren angeklagten und der Taten, die Gegenstand des Haftbefehls des Amtsgerichts Delmenhorst sind) zu erwartende Gesamtfreiheitsstrafe sei die Anordnung der Untersuchungshaft auch nicht unverhältnismäßig.

Mit der weiteren Beschwerde vom 27. September 2013 verfolgt die Angeschuldigte ihr Begehr der Aufhebung des Haftbefehls weiter. Die Verteidigung trägt vor, die Straferwartung der bislang unbestraften Angeschuldigten könne eine Fluchtgefahr nicht begründen; von fehlenden familiären Bindungen könne nicht ausgegangen werden. Der Umstand, dass die Angeschuldigte dem Verteidiger Ladungsvollmacht erteilt hat, sei vom Landgericht nicht berücksichtigt worden.

Die Kammer hat der weiteren Beschwerde mit Beschluss vom 15. Oktober 2013 nicht abgeholfen.

Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat in ihrer dem Senat am 23. Oktober 2013 zugegangenen Zuschrift ausschließlich unter Bezugnahme auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses die Verwerfung des Rechtsmittels als unbegründet beantragt.

II.

13Die – zulässige (§ 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO) – weitere Beschwerde hat Erfolg; der Haftbefehl ist aufzuheben.

1. Ob die Angeschuldigte der in dem angefochtenen Haftbefehl bezeichneten Tat dringend verdächtig ist (§ 112 Abs. 1 Satz 1 StPO) und der vom Amts- und vom Landgericht angenommene Haftgrund der Fluchtgefahr vorliegt, kann dahinstehen.

2. Denn die Fortdauer der Untersuchungshaft unter Aufrechterhaltung des Haftbefehls ist nicht gerechtfertigt, weil das aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 5 Abs. 3 Satz 2 MRK folgende Beschleunigungsgebot (vgl. BVerfG StV 1992, 121, 122; KG StV 2003, 627 m.w.Nachw.) durch das bisherige Verfahren in einem Maße verletzt ist, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der der Untersuchungshaft auch unabhängig von der zu erwartenden Strafe Grenzen setzt (vgl. BVerfGE 20, 45, 49), nicht mehr gewahrt ist.

a) Das in Haftsachen geltende Gebot der besonderen Verfahrensbeschleunigung verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte von Anfang an alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2781/10 – [juris]; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 56. Aufl., § 120 Rn. 3 m.w.Nachw.). Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verzögerungen verursacht ist. Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare Verfahrensverzögerungen stehen daher regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen. Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Dabei ist nicht entscheidend, ob eine einzelne verzögert durchgeführte Verfahrenshandlung ein wesentliches Ausmaß annimmt, sondern ob die Verfahrensverzögerungen in ihrer Gesamtheit einen Umfang erreichen, der im Rahmen der Abwägung die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht mehr erlaubt (vgl. BVerfG StraFo 2009, 375; KG StraFo 2007, 26; Senat, Beschluss vom 4. Dezember 2009 – 4 Ws 123/09 –, jeweils m.w.Nachw.). Je nach Sachlage kann dabei bereits eine vermeidbare Verfahrensverzögerung von wenigen Wochen mit dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen unvereinbar sein (vgl. BVerfG StV 2007, 644; OLG Naumburg StV 2007, 364, jeweils m.w.Nachw.).

b) Den sich aus diesen Grundsätzen ergebenden Anforderungen wird das bisherige Verfahren nicht gerecht.

Zwar sind die polizeilichen Ermittlungen in dieser Sache mit großer Beschleunigung geführt worden. Die Amtsanwaltschaft hat am 2. September 2013 und damit weniger als zwei Wochen nach Festnahme der Angeschuldigten Anklage erhoben. Die Strafrichterin hat die Anklageübersendung zeitnah unter kurzer Fristsetzung verfügt. Zur Eröffnungsentscheidung und Terminierung sollte ihr die Akte unmittelbar nach Fristablauf am 12. September 2013 vorgelegt werden. Für den Fall der Eröffnung des Hauptverfahrens war mit beiden Verteidigern der 23. September 2013, 9.00 Uhr, als Termin zur Hauptverhandlung abgesprochen. Damit war eine bei der gegebenen Sachlage angemessene Verfahrensdauer von viereinhalb Wochen zwischen Festnahme der Angeschuldigten und Hauptverhandlung, in der angesichts der übersichtlichen Beweislage und des wenig komplexen Tatgeschehens auch mit dem Abschluss des Verfahrens in erster Instanz zu rechnen gewesen wäre, abgesteckt.

19Zu der in Aussicht genommenen gerichtlichen Entscheidung über die der Angeschuldigten vorgeworfene Tat in angemessener Zeit konnte es aber nicht kommen, weil nach Eingang der Haftbeschwerde der Angeschuldigten am 6. September 2013 beim Amtsgericht kein Beschwerdeband gefertigt, sondern dem Landgericht die – zu diesem Zeitpunkt lediglich 86 Blatt umfassende – Originalakte zur Entscheidung über das Rechtsmittel übersandt worden ist. Da beim Amtsgericht auch keine Wiedervorlagefrist für ein anzulegendes Retent notiert wurde, ist der Vorgang dort aus dem Blick geraten. Soweit der Beschwerdeband, den das Landgericht nach Eingang der weiteren Beschwerde hat anlegen lassen und in welchem die Kammer (offenbar zeitnah zum Eingang des Rechtsmittels) eine Nichtabhilfeentscheidung getroffen hat, in der Folgezeit in Verlust geraten ist, hat jedenfalls die Angeschuldigte (auch) die hierdurch eingetretene Verzögerung nicht zu vertreten.

Die gebotene Förderung des Verfahrens hat danach seit dem 11. September 2013 nicht mehr stattgefunden; über die Eröffnung des Hauptverfahrens ist annähernd fünf Wochen nach der ursprünglich vorgesehenen Durchführung der Hauptverhandlung noch nicht entschieden. Die durch die fehlerhafte Sachbehandlung eingetretene, von der Angeschuldigten nicht zu vertretende und vermeidbare Verfahrensverzögerung ist nicht unerheblich und könnte auch durch besonders beschleunigte Bearbeitung nach Rückkehr der Akte zum Amtsgericht nicht mehr hinreichend ausgeglichen werden. Der Haftbefehl war danach ohne Rücksicht auf die Straferwartung aufzuheben, so dass es auf weitere Verhältnismäßigkeitserwägungen nicht mehr ankam.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus entsprechender Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO. Über die notwendigen Auslagen war nicht zu entscheiden, da es sich um ein Zwischenverfahren handelt (vgl. Senat, Beschluss vom 24. März 2010 – 4 Ws 37/10 – [bei juris]).