KG, Beschluss vom 14.10.2013 - (4) 151 AuslA 92/13 (198/13)
Fundstelle
openJur 2014, 3313
  • Rkr:

Nachdem die Bundesrepublik Deutschland am 3. November 2010 die nach Art. 31 Abs. 2 Unterabsatz 4 RbEuHb erforderliche Erklärung, dass bei der Behandlung Europäischer Haftbefehle die mit einzelnen EU-Staaten geschlossenen bilateralen Vereinbarungen u. a. dann anwendbar bleiben, wenn sie "die Möglichkeit bieten, über die Ziele des Europäischen Haftbefehls hinauszugehen" und "zu einer Vereinfachung oder Erleichterung der Verfahren beitragen", ausdrücklich zurückgenommen (Anlage zum Ratsdokument 16037/10) und am 9. November 2010 auch gegenüber dem Europarat erklärt hat, die Bestimmungen zum Europäischen Haftbefehl ersetzten das EuAlÜbk, das gegenüber einem Mitgliedstaat nur angewendet werde, wenn der Rahmenbeschluss unanwendbar sei (BGBl. 2011 II S. 66), kommt Art. 4 PL-ErgV EuAlÜbk nicht (mehr) zur Anwendung. Für die Beurteilung der Verjährung einer auch der deutschen Gerichtsbarkeit unterliegenden Tat ist daher nach § 78 Abs.1 IRG ausschließlich § 9 Nr. 2 IRG maßgeblich.

Tenor

1. Die Auslieferung des Verfolgten an die Republik Polen zum Zwecke der Strafverfolgung wird (nur) wegen der zu E. 2. I. in dem Europäischen Haftbefehl des Bezirksgerichts in Koszalin vom 28. Mai 2013 – II Kop 30/13, Oz 95/13 – bezeichneten Straftat für zulässig erklärt. Im Übrigen ist sie unzulässig.

2. Die Auslieferungshaft dauert fort.

3. Der Antrag auf Beiordnung eines Beistands wird abgelehnt

Gründe

Die polnischen Behörden haben durch Übermittlung eines Europäischen Haftbefehls um die Festnahme und Auslieferung des Verfolgten zum Zwecke der Strafverfolgung ersucht. Der Verfolgte ist am 8. August 2013 festgenommen worden. Bei seiner am Folgetag nach §§ 22, 28 IRG durchgeführten richterlichen Vernehmung hat er sich nicht mit der vereinfachten Auslieferung (§ 41 IRG) einverstanden erklärt; zur Frage des Verzichts auf die Einhaltung des Spezialitätsgrundsatzes ist er nicht befragt worden. Mit Beschluss vom 22. Juli 2013 hat der Senat die Auslieferungshaft angeordnet. Auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Berlin erklärt er die Auslieferung des Verfolgten für zulässig (§ 29 IRG).

1. Der Europäische Haftbefehl des Bezirksgerichts in Koszalin vom 28. Mai 2013 – II Kop 30/13, Oz 95/13 – entspricht den Anforderungen des § 83a Abs. 1 IRG. Er weist aus, dass gegen den Verfolgten der Haftbefehl des Kreisgerichts in Koszalin vom 18. April 2012, ergänzt durch Beschluss vom 7. Mai 2013 – X Kp 198/12 (V Ds. 8/12) –, besteht, der ihm Folgendes zur Last legt:

a) Der Verfolgte soll von Koszalin (Polen) aus mit einem Mobiltelefon einen Raubüberfall geleitet haben, den die gesondert verfolgten Mittäter B. und M. am 17. April 2002 in Kopenhagen bewaffnet begingen. Unter Androhung von Schusswaffengewalt sollen die Mittäter im Juweliergeschäft „K.“ die Herausgabe von Uhren der Marken Rolex und Omega im Gesamtwert von 1,6 Mio. DKK (1.015.000 PLN) erzwungen haben, um sie für sich zu verwerten.

b) Am 22. Dezember 2000 soll der Verfolgte gemeinschaftlich mit dem gesondert Verfolgten P. und in Absprache mit S. und Z. in Bad Kreuznach in das Juweliergeschäft „Giesler“ dergestalt eingebrochen sein, dass er mit Hilfe eines PKW die äußeren Sicherungsanlagen des Geschäfts durchbrach. Zu der beabsichtigten Wegnahme von Wertgegenständen kam es nicht, weil sich das Kraftfahrzeug nicht mehr nutzen ließ.

2. Die Auslieferung des Verfolgten ist in Bezug auf die im Jahr 2002 in Dänemark begangene Straftat zulässig (§ 29 IRG), nicht aber für die im Jahr 2000 in Bad Kreuznach begangene Tat.

a) Bei beiden dem Verfolgten zur Last gelegten Taten handelt es sich um auslieferungsfähige strafbare Handlungen (§§ 3, 81 IRG). Sie sind sowohl nach polnischem (Art. 13 § 1, Art. 279 § 1 des polnischen Strafgesetzbuches) als auch nach deutschem (§§ 242, 243, 249, 250, 22, 23, 25 Abs. 2 StGB) Strafrecht strafbar und nach dem Recht des ersuchenden Staates mit Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens einem Jahr bedroht.

b) Keinen Erfolg hat der Verfolgte mit dem Einwand, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe träfen nicht zu. Im Auslieferungsverfahren der vorliegenden Art findet eine Tatverdachtsprüfung grundsätzlich nicht statt; auch liegt ein Ausnahmefall, in dem besondere Umstände im Sinne des § 10 Abs. 2 IRG eine solche Prüfung ausnahmsweise veranlassen könnten (vgl. hierzu Schomburg/Lagodny/Gleß/ Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl., § 10 IRG Rdn. 29 ff.), nicht vor. Dazu müsste das Vertrauen in den die Auslieferung ersuchenden Staat durch konkret entgegenstehende Tatsachen erschüttert sein (vgl. BVerfG NJW 2004, 141). Das kann z. B. der Fall sein, wenn dem Verfolgten in dem ersuchenden Staat ein Verfahren droht, das gegen unabdingbare, von allen Rechtsstaaten anerkannte Grundsätze und damit gegen den völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandard verstößt, und die Prüfung des Tatverdachts darüber Aufschluss geben kann (vgl. BGHSt 32, 314). Hingegen ist das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der durch das EU-Mitglied Polen geführten Strafverfahren nicht erschüttert. Dass der Verfolgte beide Taten pauschal bestreitet, veranlasst den Senat daher ebenso wenig, in eine Tatverdachtsprüfung einzutreten, wie der Umstand, dass er bekundet, für die in Dänemark begangene Raubtat bereits sechs Monate Untersuchungshaft verbüßt zu haben. Dafür, dass das Verfahren in Polen, wie der Beistand insinuiert, im Zusammenhang mit der durch den Verfolgten behaupteten Entlassung aus der Untersuchungshaft mit Verbrauch der Strafklage eingestellt sein könnte, spricht nichts. Unbeachtlich wäre eine vorübergehende Einstellung des Ermittlungsverfahrens.

c) Der Auslieferung des Verfolgten steht jedoch in Bezug auf den für das Jahr 2000 erhobenen Vorwurf das Auslieferungshindernis der Verjährung bei konkurrierender Gerichtsbarkeit nach § 9 Nr. 2 iVm §§ 78 Abs. 1, 82 IRG entgegen.

aa) Die Tat unterliegt neben der polnischen auch der deutschen Gerichtsbarkeit, denn sie wurde im Inland begangen (§ 3 StGB). Auch wenn die Tat nach deutschem Recht als Versuch des Bandendiebstahls (§ 244 Abs. 1 Nr. 2 StGB) oder schweren Bandendiebstahls (§ 244a StGB) und nicht lediglich des Einbruchsdiebstahls (§§ 242, 243 Abs. 1 StGB) zu würdigen wäre, wäre sie verjährt. Wie die Sachakten, die dem Senat vorliegen, erweisen, hat die Staatsanwaltschaft Duisburg wegen der Tat zum Aktenzeichen 124 Js 7/01 gegen den Verfolgten ein Verfahren unter dem Aliasnamen W. M. W. geführt. Das Amtsgericht Dinslaken hat hier am 12. Juni 2001 einen Haftbefehl gegen den Beschuldigten erlassen. Das Verfahren ist sodann an die Staatsanwaltschaft Bad Kreuznach abgegeben worden, die es zum Aktenzeichen 1021 Js 19114/04 eingetragen und am 6. Januar 2005 entsprechend § 205 StPO eingestellt hat. Am 11. Januar 2005 hat sie einen Europäischen Haftbefehl ausgestellt, der wenig später wieder aufgehoben worden ist. Am 16. Mai 2006 hat sie das Verfahren nach § 154 Abs. 1 StPO eingestellt. Rechtliches Gehör ist dem Verfolgten zu dem Vorwurf nicht gewährt worden; gerichtliche Untersuchungshandlungen hat es nicht gegeben. Die letzte nach § 78c StGB die Verjährung unterbrechende Maßnahme war mithin der Erlass des Haftbefehls am 12. Juni 2001, so dass auch unter Zugrundelegung der für die schwereren Tatbestände geltenden zehnjährigen Verjährungsfrist (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 StGB) nach deutschem Recht Verjährung eingetreten ist. Die Fertigung des Europäischen Haftbefehls konnte die Verjährungsfrist nicht unterbrechen, weil er durch die Staatsanwaltschaft und nicht durch ein ordentliches Gericht erlassen worden ist (vgl. Fischer, StGB 60. Aufl., § 78c Rdn. 15 a.E.).

bb) Für die Beurteilung der Verjährung ist nach § 78 Abs.1 IRG ausschließlich § 9 Nr. 2 IRG maßgeblich. Zwar sieht Art. 4 des zwischen Deutschland und Polen am 17. Juli 2003 geschlossenen Vertrags über die Ergänzung des EuAlÜbk (PL-ErgV EuAlÜbk) vor, dass für die Beurteilung der Verjährung das Recht des ersuchenden, hier: polnischen Staates maßgeblich ist. Auch hat die Bundesrepublik Deutschland am 7. September 2006 im Ratsdokument 12509/06 die nach Art. 31 Abs. 2 Unterabsatz 4 RbEuHb erforderliche Erklärung abgegeben, dass bei der Behandlung Europäischer Haftbefehle die mit einzelnen EU-Staaten geschlossenen bilateralen Vereinbarungen u. a. dann anwendbar bleiben, wenn sie „die Möglichkeit bieten, über die Ziele des Europäischen Haftbefehls hinauszugehen“ und „zu einer Vereinfachung oder Erleichterung der Verfahren beitragen“. Art. 4 PL-ErgV EuAlÜbk verfolgt ersichtlich diesen Zweck, denn die Abbedingung des § 9 Nr. 2 IRG begünstigt die Auslieferung. Am 3. November 2010 hat Deutschland diese Erklärung allerdings ausdrücklich zurückgenommen (Anlage zum Ratsdokument 16037/10), und am 9. November 2010 auch gegenüber dem Europarat erklärt, die Bestimmungen zum Europäischen Haftbefehl ersetzten das EuAlÜbk, das gegenüber einem Mitgliedstaat nur angewendet werde, wenn der Rahmenbeschluss unanwendbar sei (BGBl. 2011 II S. 66). Daher kommt Art. 4 PL-ErgV EuAlÜbk nicht (mehr) zur Anwendung und die Frage kann offen bleiben, ob die Bestimmung als Teil einer völkerrechtlichen Vereinbarung nach § 1 Abs. 3 IRG den Regelungen des Achten Teils des IRG vorgeht oder ob sie durch § 9 Nr. 2 IRG als eine im Sinne des § 78 Abs. 2 IRG abschließende Regelung verdrängt wird.

cc) Eine andere Beurteilung der Verjährung ergibt sich auch nicht aus Art. 62 SDÜ. Zwar sieht diese Vorschrift vor, dass für die Unterbrechung der Verjährung allein die Rechtsvorschriften des ersuchenden Staates maßgebend sind. Die Anwendung dieser Bestimmung ist allerdings schon deshalb ausgeschlossen, weil das sie enthaltende Kapitel durch den RbEuHb ersetzt worden ist (Art. 31 Abs. 1e RbEuHb).

d) Hingegen stehen der Auslieferung für die im Jahr 2002 begangene Straftat keine Hindernisse entgegen. Die Auslieferung ist insbesondere nicht nach § 73 Satz 2 IRG unzulässig. Es kann dahinstehen, ob die durch die Bundespolizei protokollierte Aussage des Verfolgten, er sei nicht der leibliche Vater des Kindes seiner Lebensgefährtin, zutrifft oder ob es sich hierbei, wie durch den Beistand nun behauptet, um ein Missverständnis oder um eine Fehlprotokollierung handelt. Denn jedenfalls stellen die familiären Bindungen des Verfolgten auch unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 MRK kein Auslieferungshindernis im Sinne von § 73 Satz 2 IRG dar (vgl. Senat, Beschluss vom 24. Mai 2011 – [4] Ausl. A. 1069/10 [68/11] –, OLGSt IRG § 83b Nr. 5 m.w.N.; OLG Karlsruhe GA 1987, 30; OLG Hamm NStZ-RR 2000, 158; Vogel in: Grützner/Pötz/Greß, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Aufl., § 73 IRG Rdn. 109 mwN.). Dass der Verfolgte im Falle seiner Auslieferung von seiner in Berlin lebenden Lebensgefährtin und dem Kind getrennt würde, begründet keinen außergewöhnlichen Härtefall. Es stellt auch keinen Verstoß gegen den Kernbestand der sich aus Art. 8 Abs. 1 MRK ergebenden Garantie der Achtung seines Privat- und Familienlebens dar. Trotz der räumlichen Trennung besteht für die Partnerin und das Kind die Möglichkeit, den Verfolgten in Polen zu besuchen, und zwar auch dann, wenn er dort in Untersuchungshaft genommen wird und sich im Falle einer Verurteilung eine zu vollstreckende Freiheitsstrafe anschließt. Koszalin ist etwa 300 Kilometer von Berlin entfernt. Auch kann der Kontakt mit Telefonaten und Briefen aufrechterhalten werden. Als Unionsbürger hat der Verfolgte zudem die Möglichkeit, nach seiner Freilassung in Polen wieder nach Deutschland einzureisen.

3. Die Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft Berlin vom 22. August 2013, keine Bewilligungshindernisse nach § 83b IRG geltend zu machen, ist nach den Grundsätzen, die für die Überprüfung dieser Entscheidung gemäß § 79 Abs. 2 Sätze 1 und 2 IRG zu beachten sind, in Bezug auf die 2002 begangene Tat nicht zu beanstanden. Die Ausführungen des Beistands zu Bewilligungshindernissen nach § 83b Abs. 1a und b IRG und namentlich zu der Frage, ob der Verfolgte im Inland seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (§ 83b Abs. 2a iVm § 80 IRG), betreffen im Wesentlichen die im Jahr 2000 in Deutschland begangene Straftat, wegen derer er nicht ausgeliefert wird. Anders als der Beistand des Verfolgten meint, ergibt sich für die im Jahr 2002 begangene Straftat ein Bewilligungshindernis nach § 83b Abs. 1b IRG auch nicht daraus, dass die polnischen Strafverfolgungsbehörden ein Strafverfahren möglicherweise eingestellt haben. Die genannte Vorschrift setzt nämlich voraus, dass ein inländisches Strafverfahren eingestellt worden ist. Das ist in Bezug auf die im Jahr 2002 begangene Straftat nicht der Fall.

4. Die weitere Anordnung der Auslieferungshaft ist für die im Jahr 2002 begangene Tat aus den Gründen erforderlich, die der Senat in seinem Beschluss vom 19. August 2013 dargelegt hat. Entscheidungserhebliche Änderungen haben sich seitdem nicht ergeben.

5. Die Voraussetzungen für die erneut beantragte Bestellung eines Beistands sind unter Berücksichtigung der hierfür geltenden Rechtsgrundsätze (vgl. Senat, Beschluss vom 14. März 2011 – [4] Ausl.A. 4/11 [30/11] – [juris] = NStZ-RR 2011, 339), weiterhin nicht gegeben. Zwar hat der Beistand darauf hingewiesen, dass wegen der in Deutschland begangenen Straftat bereits im Inland ermittelt worden ist, und dieser Hinweis hat den Senat zu Nachforschungen veranlasst, die das Auslieferungshindernis nach § 9 Nr. 2 IRG offenbart haben. Dieser Hinweis erweist die konstruktive Mitwirkung des Beistands, nicht aber die für seine Beiordnung erforderliche Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage (§ 40 Abs. 2 Nr. 1 IRG).