BGH, Beschluss vom 27.10.2010 - 2 StR 331/10
Fundstelle
openJur 2010, 10569
  • Rkr:
Tenor

Auf die Revisionen der Angeklagten P. und K. wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 17. Februar 2010 - soweit es diese Angeklagten betrifft - mit den Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hatte diese beiden Angeklagten in einem ersten Urteil wegen gewerbsmäßigen Bandenbetrugs in 132 tateinheitlich zusammentreffenden Fällen zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren ( K. ) bzw. einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und vier Monaten (P. ) verurteilt.

Nach Aufhebung dieses Urteils nur in den Strafaussprüchen durch Beschluss des Senats vom 29. Juli 2009 - 2 StR 91/09 - hat das Landgericht Kassel aufgrund einer am zweiten Verhandlungstag erfolgten Verständigung gegen den Angeklagten K. nunmehr eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten sowie gegen den Angeklagten P. eine Bewährungsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verhängt.

Die dagegen gerichteten Revisionen der Angeklagten haben mit einer Verfahrensrüge Erfolg. Zu Recht rügen die Beschwerdeführer den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 7 StPO, weil die gesetzliche Frist von fünf Wochen, in der das vollständige Urteil zu den Akten gebracht werden muss, nicht eingehalten worden ist (§ 275 Abs. 1 Satz 2 StPO).

I.

Der Rüge liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

An der Hauptverhandlung gegen die Angeklagten vor der 1. großen Strafkammer des Landgerichts Kassel nahmen als berufsrichterliche Mitglieder der Vorsitzende Richter am Landgericht D. , der Richter am Landgericht B. als Berichterstatter und der Richter S. teil. Das - am 17. Februar 2010 verkündete - schriftliche Urteil ist zwar bereits am 11. März 2010 und damit vor Ablauf der Urteilsabsetzungsfrist am 24. März 2010 bei der Geschäftsstelle eingegangen. Es war jedoch nicht vollständig, weil es nur von zwei Berufsrichtern, dem Vorsitzenden und dem Berichterstatter, unterzeichnet worden ist. Die Unterschrift des weiteren Beisitzers hat der Vorsitzende durch den Vermerk ersetzt: "Richter S. ist nicht mehr am Landgericht tätig und deshalb an der Unterschriftsleistung gehindert". Damit war - wie die Revision zutreffend rügt - die Verhinderung des dritten Richters nicht hinreichend dargetan. Aus dem Vermerk ergibt sich nämlich nicht, ob der Richter S. aus rechtlichen Gründen - etwa wegen Ausscheidens aus dem Justizdienst - oder aber aus tatsächlichen Gründen - etwa wegen einer Versetzung - an der Unterschriftsleistung gehindert war. In Ansehung dessen hat der Vorsitzende auf die dies rügenden Revisionsbegründungen eine dienstliche Stellungnahme abgegeben, in der er ausgeführt hat, der zweite Beisitzer S. sei seit dem 1. März 2010 an das Amtsgericht Bad Arolsen versetzt gewesen. Nach Fertigstellung des Urteilsentwurfs durch den Berichterstatter am 5. März 2010 und nach Durchsicht des Urteils durch ihn selbst am 10. März 2010 habe er jeweils bei S. angerufen. Dieser habe ihm mitgeteilt, infolge Arbeitsüberlastung beim Amtsgericht und wegen eines noch abzusetzenden umfangreichen Schwurgerichtsurteils bis zum Ablauf der Urteilsabsetzungsfrist nicht zur Lektüre des Urteils und zur Unterschrift in der Lage zu sein. Weil ihm ein weiteres Zuwarten bis zum Ende der Absetzungsfrist sinnlos erschienen sei und weil es sich zudem hinsichtlich eines nicht revidierenden Mittäters um eine Haftsache gehandelt habe, habe er einen entsprechenden Verhinderungsvermerk betreffend den Richter S. angebracht.

II.

Ausweislich dieser dienstlichen Erklärung hielt der Vorsitzende den Richter S. aus tatsächlichen Gründen für an der Unterschriftsleistung gehindert. Dies war hier auch in Anbetracht des einem Vorsitzenden insoweit zustehenden gewissen Beurteilungsspielraums (vgl. dazu Gollwitzer in Löwe/ Rosenberg, 25. Aufl. § 275 Rn. 49 mwN) rechtsfehlerhaft:

Zwar kann die Versetzung an ein anderes Gericht - wie hier die Versetzung an das Amtsgericht Bad Arolsen - im Einzelfall der Unterzeichnung des Urteils entgegenstehen (vgl. BGHR StPO § 275 Abs. 2 Satz 2 Verhinderung 1 und 3; BGH NStZ-RR 1999, 46; 2003, 288 [B] sowie Meyer-Goßner, StPO 53. Aufl. § 275 Rn. 23). Auch kann die Überlastung mit anderen Dienstgeschäften grundsätzlich einen Verhinderungsgrund darstellen (Meyer-Goßner aaO Rn. 22 mwN).

Voraussetzung ist aber stets, dass sich der Vorsitzende ernsthaft darum bemüht hat, dem in § 275 Abs. 2 Satz 1 StPO formulierten Gebot, dass das Urteil von allen mitwirkenden Berufsrichtern zu unterschreiben ist, Geltung zu verschaffen. Bei der Unterzeichnung eines Strafurteils handelt es sich nämlich um ein dringliches unaufschiebbares Dienstgeschäft, weshalb der Vorsitzende verpflichtet ist, rechtzeitig organisatorische Vorsorge für die Erfüllung dieser Pflicht zu treffen (BGH NStZ 2006, 586). Hier kommt hinzu, dass der Schuldspruch nach Bestätigung durch den Bundesgerichtshof bereits feststand. Die Urteilsgründe umfassten zwar 113 Seiten, wovon allerdings 3 Seiten auf das Rubrum entfielen und 87 Seiten lediglich ein Abdruck der rechtskräftigen Feststellungen des ersten Durchgangs waren. Weitere 11 Seiten entfallen auf wörtliche Wiedergaben der Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten, die bereits im ersten Urteil enthalten waren. Die neue Beweiswürdigung umfasst 3 Seiten, die Strafzumessung für die drei nicht rechtskräftig Verurteilten insgesamt 5 Seiten. Die substantiell neuen Teile der Urteilsgründe umfassten somit insgesamt weniger als 10 Seiten. Vor diesem Hintergrund hätte der Vorsitzende in dem Zeitraum zwischen Urteilsverkündung am 17. Februar 2010 bis zur Umsetzung des Proberichters am 1. März 2010 Absprachen mit diesem zur Sicherstellung der Unterschriftsleistung treffen müssen, was auch dem Beschleunigungsgebot in idealer Weise Rechnung getragen hätte. Jedenfalls aber hätte er nach Fertigstellung des Urteilsentwurfs durch den Berichterstatter die von dem Proberichter behauptete überlastungsbedingte Verhinderung nicht ohne weiteres hinnehmen dürfen, sondern die behauptete dienstliche Belastung oder Tätigkeit des Proberichters im Hinblick darauf bewerten und gewichten müssen, dass es sich bei der Mitwirkung an der Fertigstellung des Urteils um ein unaufschiebbares Dienstgeschäft handelte. So ist es schlechterdings unvorstellbar, dass der an das Amtsgericht versetzte Richter in dem gesamten Zeitraum gegenüber seiner Pflicht zur Mitwirkung an der Urteilsabfassung vorrangige Dienstgeschäfte wahrzunehmen hatte. Im Ergebnis dieser Überprüfung hätte der Vorsitzende gegenüber dem umgesetzten Richter der Lektüre und Unterzeichnung des Urteilsentwurfs innerhalb der noch zur Verfügung stehenden Zeit bis zum 24. März 2010 höheres Gewicht geben müssen; gegebenenfalls hätte er dem Richter einen Urteilsentwurf auch bereits am 5. März 2010 per Fax oder E-Mail zuleiten können, damit diesem ein noch größerer Bearbeitungszeitraum zur Verfügung gestanden hätte. Wenn eine Überprüfung nach diesem Maßstab tatsächlich eine permanente Überbelastung des Proberichters mit dringlicheren Dienstgeschäften ergeben hätte, hätte der Vorsitzende über die Justizverwaltung auf eine Entlastung des Proberichters hinwirken können, die diesem eine Mitwirkung an der Urteilsabfassung ermöglicht hätte. Aus dem Vermerk des Vorsitzenden ergibt sich, dass er den Maßstab für die Beurteilung der Verhinderung, der sich an der Bedeutung der Mitwirkung der beteiligten Berufsrichter an der Fassung der Urteilsgründe orientiert, verkannt hat.

Die Aufhebung des Urteils wegen des Verfahrensmangels erstreckt sich nicht auf den Mitangeklagten C. , der die Rüge nicht erhoben hat (vgl. BGHSt 17, 176, 179).

Fischer Appl Schmitt Eschelbach Ott