VG Regensburg, Urteil vom 19.11.2013 - RN 5 K 13.30226
Fundstelle
openJur 2013, 45887
  • Rkr:
Tatbestand

Der am ...1979 in Lagos geborene Kläger, eigenen Angaben nach nigerianischer Staatsangehöriger, Yoruba-Stammeszugehöriger, reiste nach seinen Angaben auf dem Luftweg in das Bundesgebiet ein, wo er am 31.5.2012 seine Anerkennung als Asylberechtigter beantragte.

Am 16.7.2012 erfolgte seine Anhörung in englischer Sprache durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge jetzt Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (kurz: Bundesamt). Auf die hierbei aufgenommene Niederschrift wird Bezug genommen.

Dabei gab der Kläger im Wesentlichen an:

Er habe als Dozent in einer privaten Hochschule in Jos gearbeitet. Das sei zwischen 2008 bis 2010 gewesen. Danach sei er bei einer Firma in Lagos beschäftigt gewesen. Er habe ein Verhältnis mit einem seiner Studenten gehabt. Die anderen Studenten hätten das mitbekommen und sich über ihn beschwert. Seine Wohnung in Jos sei angegriffen worden, sein Freund sei dabei getötet worden. Er sei aber glücklicherweise nicht zu Hause gewesen, sondern bei der Arbeit. Das sei Anfang 2010 geschehen. Deshalb sei er dann nach Lagos gezogen. Sie hätten ihn dann aber auch in Lagos gesucht und verfolgt. Er habe in Lagos versucht, seine Homosexualität zu vertuschen. Homosexuelle seien in Nigeria nicht geduldet. Bei den Verfolgern handle es sich um eine Gruppe, die auch seinen Freund umgebracht hätten. Das sei die Familie des Freundes, sie gäben ihm die Schuld am Tod des Freundes. Es seien aber auch die Nachbarn, weil er die Homosexualität in die Nachbarschaft gebracht habe. Seinen Freund hätten bewaffnete Studenten umgebracht. Das sei eine okkulte Gruppe. Wie diese Mitglieder hießen, wisse er nicht. Er sei ja nicht zu Hause gewesen. Die Studenten gehörten aber zu dem Volk der Haussa und sie hätten Sondernamen. Die Familie des getöteten Freundes unterstütze auch die okkulte Studentengruppe bei der Verfolgung gegen ihn. Sein Freund habe J... geheißen. Aber den Namen der Familienmitglieder kenne er nicht. Er habe diese Personen nie getroffen. J... sei ein Student gewesen und er habe mit seiner Familie in der B... Road in Jos gelebt. In welcher Hausnummer wisse er nicht, denn er sei nie dort gewesen. Er nehme an, dass die Straße in Jos Local Gouvernement Area liege. Er kenne sich aber in Jos nicht aus und wolle sich nicht festlegen. Auf Frage erklärte er, dass die Universität im Stadtteil Nepa Gamadigu liege. Es könne aber auch die Local Gouvernement Area Jos-Central sein. Es gäbe studentische Netzwerke in Nigeria. Deshalb hätten Leute aus Lagos ihn gefunden und dies an die Leute in Jos weitergegeben. So habe man ihn ausfindig machen können. In Lagos habe man versucht, ihn anzugreifen. Er sei aber glücklicherweise erneut nicht zu Hause gewesen. Diese Gruppe heiße „Eye“. Das bedeute Vogel. Es sei der Name der Brüderschaft. Die Nachbarn hätten berichtet, dass die Angreifer blaue Mützen getragen hätten. Deshalb müsse es sich um die Eye-Brüderschaft handeln. Der Freund J... habe im Juli Geburtstag. Auf Vorhalt erklärte er dann, der Freund habe am 30. Juli Geburtstag. Er sei 27 Jahre alt gewesen. An welchem Tag J... gestorben sei, könne er sich nicht erinnern. Er sei im Jahr 2009 nach Jos gekommen. J... habe er zwei Monate später kennengelernt. Er habe ihn von 2009 bis Anfang 2010 gekannt. J... sei nicht sein erster Freund gewesen. Der andere Mann habe M1... geheißen. Er habe in S... in Lagos gelebt. Dieser habe auch inzwischen Nigeria verlassen und sei jetzt zur Schule in London. Bei einer Rückkehr befürchte er, dass ihn die okkulte Gruppe einfach umbringen werde. Er habe keine Probleme mit der Polizei oder mit Behörden in Nigeria gehabt. Er sei Christ. Er habe noch chronische Magenschmerzen. Aber er kenne keine genaue Diagnose.

Der Umgang mit Homosexualität in Nigeria sei ein Versteckspiel gewesen. Sie hätten sich verstecken müssen, aber irgendwann komme es halt doch heraus. In der Öffentlichkeit habe er immer alleine gehandelt. Nur zu Hause sei er gemeinsam mit seinem Freund gewesen. Eines Tages habe der Vermieter, bei dem er gewohnt habe, dies herausgefunden. Der Vermieter sei ein muslemischer Haussa. Der Vermieter habe ein Kind, das an der Universität studiert und dort verbreitet habe, dass er, der Kläger, homosexuell sei. Seine Eltern hätten ihn ignoriert wegen der Homosexualität, aber nicht verstoßen. Seine Homosexualität gehe auf seine Kindheit zurück. Sein Stiefbruder habe ihn dazu verführt. Der Stiefbruder habe im Bett an ihm herumgespielt. Sein Vater habe dies nicht ernst genommen als er sie beide im Bett erwischt habe. Er habe gedacht, das seien Kinder, die Blödsinn machten. Danach habe er die beiden aber dann getrennt. Bei der Ausreise haben ihm ein gewisser M2... und auch sein Chef geholfen. Der Chef wisse, dass Homosexuelle in diesem Teil der Welt nicht abgestempelt würden. Der Chef heiße ... Er denke, dass einige Freunde ihn verdächtigen, dass er homosexuell sei. Er habe aber eine Freundin einbezogen und so eine Tarnung aufgebaut. Auch Studenten wüssten von seiner Homosexualität, ferner seine Eltern und sein Chef. Er denke, dass viele Menschen davon wüssten.

Mit Bescheid vom 3.5.2013 lehnte das Bundesamt den Asylantrag ab (Ziffer 1), stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2) und auch keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen (Ziffer 3), forderte den Kläger auf, innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe bzw. Bestandskraft des Bescheides die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen, drohte seine Abschiebung nach Nigeria an und wies darauf hin, dass er auch in einen anderen Staat abgeschoben werden könne, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei (Ziffer 4). Das Bundesamt hielt den Vortrag des Klägers, dass er homosexuell sei, für unglaubhaft und einstudiert. Hinsichtlich der näheren Begründung wird auf diesen Bescheid verwiesen.

Gegen diesen am 13.5.2013 zur Post gegebenen Bescheid erhob der Kläger am 31.5.2013 Klage mit dem (sinngemäßen) Antrag,

den Bescheid des Bundesamtes vom 3.5.2013 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen sowie ihm die Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen, hilfsweise zu verpflichten, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.

Zur Begründung der Klage ließ der Kläger im Wesentlichen vortragen:

Dem Kläger würde bei Rückkehr menschenrechtswidrige Behandlung erwarten, da er als Homosexueller in Nigeria Angst um sein Leben haben müsste. Er sei in Nigeria wegen seiner Homosexualität so geschlagen worden, dass er ein Auge verloren habe. Die Sehfähigkeit nach vorliegendem Attest betrage nur noch 0.05 % (linkes Auge). Beim rechten Auge 0.8 (Blatt 5 GA). Ferner legt der Klägervertreter noch weitere ärztliche Atteste der Fachärzte für Orthopädie vom 21.11.2012 und des Medizinischen Klinikums Passau vom 7.5.2013 vor.

Die Beklagte beantragt unter Bezugnahme auf die angefochtene Entscheidung,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat die mit Ladungsschreiben vom 28.8.2013 und in der mündlichen Verhandlung mitgeteilten Erkenntnisquellen (Auskünfte und Berichte) in das Verfahren eingeführt.

Im Übrigen wird auf die gewechselten Schriftsätze, die Niederschrift über die mündliche Verhandlung und den Inhalt der Asylakten Bezug genommen.

Gründe

Die zulässige Klage ist teilweise begründet.

Die angefochtene Entscheidung des Bundesamtes, den Asylantrag des Klägers abzulehnen, ist im Ergebnis rechtmäßig (1.). Es ist auch die vom Bundesamt vorgenommene Verneinung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in der Person des Klägers rechtswidrig und verletzt ihn in seinen Rechten (§ 113 Abs.1 Satz 1 VwGO). Dem Kläger ist Verfolgungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich Nigeria zu gewähren (siehe unten 3.).

1. Ziffer 1 des angefochtenen Bescheides ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Dem Kläger steht das Asylrecht im Sinne des Art. 16 a Abs. 1 Grundgesetz nicht zu. Nach Art. 16 a Abs. 2 GG kann sich auf das Asylrecht nicht berufen, wer zur Überzeugung des Gerichts über einen sicheren Drittstaat im Sinne des § 26 a AsylVfG eingereist ist. Zwar trägt der Kläger vor, dass er auf dem Luftweg/Seeweg in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist. Der Kläger konnte aber die von ihm behauptete Einreise weder glaubhaft machen noch gar beweisen. Die von einem Asylbewerber behauptete Einreise ohne Kontakt zu einem sicheren Drittstaat, also auf dem Luft- oder Seeweg über einen deutschen Flug- oder Seehafen, ist eine für ihn günstige, den Asylanspruch begründende Tatsache, für die er bei Nichtbeweislichkeit die Beweislast trägt (so BVerwG v. 29.6.1999 - 9 C 36.98). Der Kläger hat für die von ihm behauptete Einreise auf dem Luftweg unter Verstoß gegen seine asylverfahrensrechtliche Mitwirkungspflicht keinerlei Nachweise, wie Flugunterlagen, weder Flugschein noch Bordkarte oder Gepäckschein oder den angeblich benutzten Reisepass vorgelegt. Darüber hinaus sind die Angaben des Klägers zur Einreise auf dem Luftweg auch nicht glaubhaft und nachprüfbar. So machte der Kläger nur ungenaue Angaben zu dem von ihm angeblich benutzten Pass. Die Personalien des Passinhabers und Nationalität des Passes waren ihm nicht bekannt. Der Kläger hat aber damit rechnen müssen, dass er bei den Einreisekontrollen nach seinen Personalien gefragt wird. Hätte er am Flug - wie von ihm behauptet - tatsächlich teilgenommen, hätte er sich zumindest den Namen des Passinhabers und auch die Nationalität des von ihm benutzten Passes sowie Flugnummer und Fluggesellschaft des von ihm benutzten Fluges eingeprägt. Die Angaben zu seiner Einreise sind deshalb auch nicht glaubhaft und auch nicht weiter nachprüfbar, so dass für weitere Ermittlungen des Gerichts kein Anlass bestand.

Hinzu kommt noch, dass der Kläger nicht am angeblichen Ankunftsort sofort Asylantrag gestellt hat, sondern außerhalb. Auch dadurch war eine Nachprüfung seiner Angaben nicht mehr möglich. Der Kläger hat damit die Sachverhaltsaufklärung hinsichtlich der Einreise wesentlich erschwert und beweisvereitelndes und beweisvernichtendes Verhalten gezeigt. Dies kann zu Lasten des Asylbewerbers gewürdigt werden (so BVerwG a.a.O.). Wegen all dieser Umstände kommt das Gericht gemäß § 108 Abs. 1 VwGO zu der Überzeugung, dass der Kläger nicht wie von ihm angegeben von Lagos aus auf dem Luftweg nach Deutschland eingereist ist, sondern lediglich eine tatsächlich erfolgte Einreise auf dem Landweg verschleiern will. Die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter scheitert somit bereits an Art. 16 a Abs. 2 GG i.V.m. § 26 a AsylVfG).

2. Dem Kläger steht jedoch ein Anspruch auf die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG zu.

Gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG in der Fassung des Gesetzes vom 19. August 2007 zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union (BGBl. I S. 1970 ff.) darf in Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch dann vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft. Eine Verfolgung im Sinne des Satzes 1 kann ausgehen von

a) dem Staat,

b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen oder

c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht,

es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative.

Das Gericht ist von der Wahrheit des Asylvorbringens des Klägers voll überzeugt. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung detailliert und nachvollziehbar dargestellt, dass er als Homosexueller in Nigeria durch nichtstaatliche Akteure verfolgt wurde. Das Vorbringen des Klägers wirkt für das Gericht nicht einstudiert, sondern ist detailliert und einzelfallbezogen. Auch Nachfragen kann der Kläger immer plausibel beantworten. Für das Gericht ist glaubhaft, dass der Kläger bei seiner ersten Dozentenstelle in Jos mit einem Studenten eine homosexuelle Beziehung eingegangen ist. Nach dem Vorbringen des Klägers hat er des Öfteren Studenten in seine Wohnung eingeladen und infolge ist es dann mit einem einzelnen Studenten zu einer homosexuellen Beziehung gekommen. Dieser Student hieß J... Dies kam dann in Studentenkreisen auf, weil die Tochter des Vermieters beobachtet hatte, dass ihn sein Freund öfter besucht und bei ihm übernachtet hat. Die Tochter des Vermieters war eine Studentin des Klägers bei seinen Kursen. Nach dem glaubhaften Vorbringen hat dann der Vermieter den Kläger und seinen Freund erwischt, als sie sich gerade küssten. Dies hat der Vermieter offenbar an seine Tochter weitergegeben und diese dann wieder an die anderen Studenten. Daraufhin ist der Kläger von den Studenten respektlos behandelt worden. Er wurde schikaniert und er wurde nicht einmal gegrüßt. Nach dem Vorbringen des Klägers ging dies so eine Weile dahin. Dann kamen Studenten, die einer Studentenverbindung angehörten, zu seiner Wohnung. Sie trafen dort aber nur J... an. Dieser wurde dann von den Studenten erstochen. Für das Gericht ist das Vorbringen überzeugend und schlüssig. Auch kann der Kläger erklären, warum er in der Wohnung nicht anwesend war, als die Studenten seinen Freund J... erstochen haben. Der Kläger verließ dann die Oberschule bzw. Hochschule und ging nach Lagos. Dort fand er eine Stelle bei einer Firma. Der Kläger ging dann nach seinem glaubhaften Vorbringen für sechs Monate keine Beziehung zu einem Mann oder zu einer Frau ein. Doch auch dies fiel den Mitbewohnern auf und sie unterstellten ihm, dass er homosexuell ist. Daraufhin wollte sich der Kläger nach seinem glaubhaften Vorbringen eine Tarnung aufbauen und suchte deshalb eine Bekanntschaft mit einer Frau. Dies gelang ihm auch und er lebte sogar einen Monat mit dieser Frau zusammen. Dabei kam es, als beide alkoholisiert waren, zu sexuellen Handlungen, aus der dann ein gemeinsames Kind hervorging. Gleichwohl zog die Frau noch während der Schwangerschaft beim Kläger aus. Der Kläger kann hierzu auch eine überzeugende Begründung angeben, weil er keine Gefühle für diese Frau hatte und die Frau dies bemerkte. Er wurde dann aber in der Wohnung in Lagos nicht in Ruhe gelassen. Er wurde von einer Studentengruppe, die offenbar mit der Studentenverbindung in Jos vernetzt war, aufgespürt. Die Studenten kamen dann zu seiner Wohnung in Lagos. Sie fanden sie zwar verschlossen. Sie traten aber die Tür ein und erzählten dann seinen Nachbarn, dass der Kläger homosexuell ist. Daraufhin hatte sich der Kläger bei seinem Boss versteckt. Er ging aber dann noch einmal zu seiner alten Wohnung, um Sachen zu holen. Dabei wurde er offenbar von den Mitbewohnern des Hauses überfallen. Durch den Überfall wurde sein linkes Auge so verletzt, dass er fast keine Sehkraft mehr hat.

Es liegt damit eine Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG wegen der sexuellen Ausrichtung vor. Dies ergibt sich aus Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 2 der Richtlinie 2004/84/EG vom 29.4.2004 über die Mindestnahmen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen. Danach kann „je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland eine soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Ausrichtung gründet. Als sexuelle Ausrichtung dürfen keine Handlungen verstanden werden, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten; geschlechterbezogene Aspekte könne berücksichtigt werden, rechtfertigen aber für sich allein genommen noch nicht die Annahme, dass dieser Artikel anwendbar ist.“

Der Europäische Gerichtshof hat im Urteil vom 7.9.2013 in den verbundenen Rechtssachen C-199/12 bis C-201/12 festgestellt, dass Homosexuelle eine „soziale Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.4.2004 sind, wenn das Bestehen strafrechtlicher Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle betreffen, die Feststellung erlaubt, dass diese Personen als eine bestimmte soziale Gruppe anzusehen sind. Danach ist Art. 9 Abs. 1 i.V.m. Art. 9 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie dahin auszulegen, dass der bloße Umstand, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, als solcher keine Verfolgungshandlung darstellt. Dagegen ist eine Freiheitsstrafe, mit der homosexuelle Handlungen bedroht sind und die im Herkunftsland, das eine solche Regelung erlassen hat, tatsächlich verhängt wird, als unverhältnismäßige oder diskriminierende Bestrafung zu betrachten und stellt somit eine Verfolgungshandlung dar.

Ferner ist Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der genannten Richtlinie dahin auszulegen, dass vom Geltungsbereich der Richtlinie nur homosexuelle Handlungen ausgeschlossen sind, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten strafbar sind. Bei der Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft können die zuständigen Behörden von den Asylbewerbern nicht erwarten, dass er seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden.

Diese vom Europäischen Gerichtshof in den Leitsätzen dargestellten Voraussetzungen für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft liegen beim Kläger vor. Nach dem eingeführten neuesten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 28.8.2013 werden homosexuelle Handlungen jeglicher Art in Nigeria mit Freiheitsstrafen bis zu 14 Jahren betraft. 2011 nahm dann der Staat eine weitere Verschärfung der Gesetze vor. Danach könnte bereits das Zusammenleben homosexueller Paare mit bis zu 10 Jahren Haft bestraft werden. Personen, die davon erfahren, dass Homosexuelle zusammenleben und dies nicht den Behörden mitteilen, droht danach künftig eine bis zu 5jährige Haftstrafe. Das Gesetz ist bereits beschlossen und bedarf nur noch der Unterschrift des Präsidenten, ehe es in Kraft treten kann.

Das Bestehen dieses strafrechtlichen Bestimmungen in Nigeria, die spezifisch Homosexuelle betreffen, erlaubt die Feststellung, dass diese Personen eine abgegrenzte Gruppe bilden, die von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.

Homosexuelle müssen in Nigeria auch damit rechnen, dass die Freiheitsstrafen auch verhängt werden. Zwar versuchen Homosexuelle aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen und der weit verbreiteten Vorbehalte in der Bevölkerung ihre sexuelle Orientierung zu verbergen. Deshalb werden strafrechtliche Verfolgungen einvernehmlich homosexueller Handlungen selten bekannt. Gleichwohl werden aber solcher Strafen verhängt. Hinzu kommt noch, dass nach der Verschärfung der Gesetze nun auch bald das Zusammenleben homosexueller Paare mit bis zu 10 Jahren Haft bestraft werden kann. Denn es droht auch Personen, die davon erfahren, dass Homosexuelle zusammenleben und dies nicht den Behörden mitteilen, künftig eine bis zu 5jährige Haftstrafe. Deshalb muss davon ausgegangen werden, dass das Zusammenleben homosexueller Paare von Nachbarn den Behörden vermehrt angezeigt wird, damit sie nicht selbst bestraft werden.

Es handelt sich hier um eine unverhältnismäßige und auch diskriminierende Bestrafung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie. Es ist zu befürchten, dass der Kläger bei der Rückkehr nach Nigeria in diesem Sinne verfolgt wird. Ferner müsste der Kläger bei einer Rückkehr auch damit rechnen, dass er durch unterschiedliche Maßnahmen nichtstaatlicher Akteure zusätzlich noch in seinen Menschenrechten verletzt wird, wie dies auch bereits vor seiner Ausreise der Fall war.

Wie der Europäische Gerichtshof in seiner Entscheidung ausgeführt hat, kann nicht vom Asylbewerber erwartet werden, dass er seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden.

Der Kläger würde aufgrund des Strafrechts in Nigeria gezwungen, sowohl auf eine öffentliche Praktizierung der Sexualität als auch auf eine nicht öffentliche Praktizierung der Sexualität zu verzichten. Dies stellt für den Kläger eine schwerwiegende Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 EG dar.

Außerdem liegt eine Vorverfolgung im flüchtlingsrechtlichen Sinne vor. Eine Vorverfolgung im flüchtlingsrechtlichen Sinn kann nach der neuen Rechtslage im Hinblick auf § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG nicht mehr allein wegen einer zum Zeitpunkt der Ausreise bestehenden Fluchtalternative in einem anderen Teil des Herkunftsstaates verneint werden (so BVerwG vom 19.1.2009 Az.: 10 C 52/07). Diese Rechtsprechung des BVerwG wurde zu Gunsten der Asylsuchenden noch verbessert. Nach der Entscheidung des BVerwG vom 27.4.2010 Az.: 10 C 5/09 privilegiert Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/84/EG den Verfolgten bzw. Geschädigten durch die (widerlegbare) Vermutung, dass sich eine frühere Verfolgung oder Schädigung bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen wird. Ob die Vermutung durch „stichhaltige Gründe“ widerlegt ist, obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung. Der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab der hinreichenden Sicherheit hat bei der Prüfung der Flüchtlingsanerkennung und des subsidiären Schutzes keine Bedeutung mehr (BVerwG a.a.O., Leitsatz und Rn. 23 und auch BVerwG vom 5.5.2009 Az. 10 C 21/08 Rn. 25).

Unter Auswertung der eingeführten Erkenntnisquellen und unter Berücksichtigung des Vortrags des Klägers in der mündlichen Verhandlung liegen nach tatrichterlicher Würdigung keine stichhaltigen Gründe vor, dass sich die frühere Verfolgung des Klägers bei einer Rückkehr in das Herkunftsland nicht wieder wiederholen würde.

Deshalb ist Ziffer 3 des angefochtenen Bescheides rechtswidrig und war aufzuheben. Dem Kläger steht ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG zu.

3. Auch Ziffer 3 des angefochtenen Bescheides war deklaratorisch aufzuheben. Denn die rechtskräftige Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG lässt die negative Feststellung des Bundesamtes zu § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG gegenstandslos werden (vgl. BVerwG vom 26.6.2002 Az.: 1 C 17/01 zur alten Rechtslage).

4. Auch Ziffer 4 des angefochtenen Bescheides war aufzuheben, weil Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG gegen einen Verfolgerstaat den Erlass einer Abschiebungsandrohung in diesen Staat ausschließt (vgl. § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG und auch BayVGH vom 8.5.2002 Az.: 23 B 02.30349 zur früheren Rechtslage).

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO, die Regelung der vorläufigen Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt auf § 167 Abs. 2 VwGO und der Abwendungsbefugnis, § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.

Die Höhe des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 30 RVG.