Hessisches LSG, Urteil vom 30.10.2013 - L 4 KA 65/11
Fundstelle
openJur 2013, 45365
  • Rkr:
Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 5. Oktober 2011 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits auch im Berufungsverfahren zu tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert wird für beide Instanzen auf 8.141,06 €festgesetzt.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die rückwirkende Abänderung des EHV-Anspruchssatzes wegen der fehlerhaften Berücksichtigung von Zuschlägen für Mehrzeiten und die Festsetzung eines Rückforderungsbetrages für die Zeit vom 1. Mai 2008 bis 31.Dezember 2009 in Höhe von 2.999,34 € netto.

Die 1943 geborene Klägerin war als Fachärztin für Psychiatrie vom 1. Juli 1986 bis 31. Januar 2005 zur vertragsärztlichen Versorgung im Bezirk der Beklagten zugelassen. Zum 31. Januar 2005verzichtete sie auf ihre vertragsärztliche Zulassung.

Die Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 30. September 2008 die Teilnahme an der erweiterten Honorarverteilung (EHV) ab 1. Mai 2008mit einem Anspruchssatz in Höhe von 5,9794 %. Im Bescheid führte sie aus, die Klägerin habe vorzeitig auf ihre Vertragsarztzulassung verzichtet. Nach § 4 der Grundsätze der EHV (GEHV) werde der Anspruchssatz für jedes volle Jahr zwischen Beendigung der vertragsärztlichen Tätigkeit in Hessen und dem Eintritt in die EHVum 0,5 % gekürzt. Der ermittelte Anspruchssatz von 6,0705 %reduziere sich somit um 1,5 % auf den genannten Anspruchssatz. Der Bescheid enthielt folgenden Hinweis:

„Wir behalten uns einen Widerruf dieses Bescheides vor,soweit sich ergibt, dass bei Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen wurde, der sich als unrichtig erweist.“

Dem Bescheid war ein Berechnungsbogen beigefügt, dem u. a.folgende Angaben zu entnehmen sind:

Verhältnis der erreichten Punktzahl zur Punktzahl der Normalstaffel: 43,3626 %Anspruchsprozente:11,10 %Davon 43,3626 % =4,8132 %Zuschlag für Mehrjahre (0,12 %/Jahr) 10,4779 Jahre x 0,12 =1,2573 %Errechneter Anspruchssatz:6,0705 %Kürzungen vorz. Verzicht 3 x 0,5 1,5 % =0,0911 %Tatsächlicher Anspruchssatz5,9794 %Der Bescheid vom 30. September 2008 wurde bestandskräftig.

Die Beklagte zahlte für die Quartale II/08 bis IV/09 an die Klägerin auf der Basis von Quartalsbescheiden EHV-Honorar aus. Den bestandkräftigen Bescheiden sind folgende Abrechnungswerte zu entnehmen.

QuartalDurchschnittshonoraranforderung in €EHV-Anspruchssatz in %Auszahlungsquote in % (Nachhaltigkeitsfaktor)EHV-Honorar in € *II/0845.161,783,986283,70731.506,93III/0841.871,885,979484,01762.103,54IV/0846.013,375,979483,63712.301,13I/0948.178,215,979482,62142.380,13II/0945.331,315,979482,46282.235,19III/0944.371,465,979482,44322.187,34IV/0945.684,175,979482,63822.257,38* vor Abzug Verwaltungskosten

Die Beklagte änderte mit Bescheid vom 2. August 2010 den Anspruchssatz rückwirkend auf 4,7410% ab und forderte für den Zeitraum vom 1. Mai 2008 bis 31. Dezember 2009 wegen einer Überzahlung von insgesamt 3.100,80 € abzgl. 101,46 €Verwaltungskosten und Umlagen einen Betrag in Höhe von 2.999,34€ zurück. Die monatliche Abschlagzahlung setzte sie ab Juli 2010 auf 440,00 € fest. Zur Begründung führte sie aus, bei der Überprüfung der Unterlagen habe sie festgestellt, dass bei der Ermittlung des Anspruchssatzes § 4 (1) Unterabsatz 2, letzter Satz GEHV nicht berücksichtigt worden sei. Hiernach würden Zuschläge für Mehrzeiten gegenüber der Normalstaffel nach § 3 Abs. 1c Buchstabe bb) der GEHV i. d. F. vom 1. Juli 2006 nicht gewährt werden. Es habe daher eine Neuberechnung des Anspruches vorgenommen werden müssen.

Hiergegen legte die Klägerin am 9. August 2010 Widerspruch ein.Sie trug vor, ohne Kenntnis der Satzung sei die Begründung nicht nachvollziehbar. Im Übrigen könne die Korrektur im Zweifel nur für die Zukunft gelten, nicht rückwirkend. Es sei offenkundig, dass sie in keiner Weise zu der fehlerhaften Rechtsanwendung auf Seiten der Beklagten beigetragen habe. Das unterstellte Quartalshonorar in Höhe von 1.770,00 € sei ebenfalls nicht nachvollziehbar.

Die Beklagte wies mit Widerspruchsbescheid vom 23. März 2011 den Widerspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie aus,zutreffende Rechtsgrundlage für die Berichtigung des Anspruchssatzes und die Rückforderung seien die Vorschriften über die sachlich-rechnerische Richtigstellung im Vertragsarztrecht gem.§ 45 Abs. 2 Satz 1 BMV-Ä und § 34 Abs. 4 Satz 1 GKV-Ä. Sie habe die Honoraranforderungen ihrer Vertragsärzte quartalsmäßig zu prüfen, ohne dass sie aus rechtlichen und/oder tatsächlichen Gründen die Rechtmäßigkeit der Honoraranforderungen umfassend überprüfen könne. Hinzu komme, dass Fehler der Richtigkeit häufig erst später aufgrund besonderer Umstände aufgedeckt werden könnten.Die Honorarausschüttung habe insoweit einen vorläufigen Charakter (Hinweis auf BSG, Urteil vom 31. Oktober 2001 - B 6 KA 16/00R –). Diese Überlegungen würden dem Grundsatz nach auch für die erweiterte Honorarverteilung gelten. Zwar träten dort keine Fehler auf, die im Zusammenhang mit dem Leistungsspektrum und Leistungsumfang eines individuellen Vertragsarztes entstehen könnten, die übrigen Besonderheiten der Honorarverteilung,insbesondere soweit sie im Zusammenhang mit der Ungewissheit über die Höhe der Gesamtvergütung der Ermittlung der Durchschnittshonorare stünden, würden weiter gelten und rechtfertigen auch hier die Abweichung von den allgemeinen Regelungen der §§ 45 ff. SGB X (Hinweis auf: LSG Hessen, Urteil vom 15. März 2006 – L 4 KA 8/05 –). Einzige Voraussetzung sei die Unrichtigkeit der Honorarforderung. Im Bescheid vom 30.September 2008 sei ein Zuschlag für Mehrjahre in Höhe von 1,2573 %enthalten gewesen. Diese Sonderregelung habe die Unterstützung von Ärzten vorgesehen, die wegen geringer Umsätze die Punktzahl der Normalstaffel nicht erreicht haben. Bei der Ermittlung des Anspruchssatzes der Klägerin sei jedoch übersehen worden, dass die Regelung nicht anwendbar sei, da sie vorzeitig freiwillig auf die Zulassung verzichtet habe. Die Klägerin hätte daher von Anfang an lediglich mit einem Anspruchssatz in Höhe von 4,7410 % an der EHVteilnehmen dürfen. Hieraus ergebe sich auch der Berichtigungsbetrag. Aufgrund des § 45 BMV-Ä sei sie auch berechtigt, die Rückforderung festzusetzen (Hinweis auf BSG, Urteil vom 12. Dezember 2001 – B 6 KA 3/01 R –). Gründe des Vertrauensschutzes stünden nicht entgegen. Die Vertrauensschutzregelungen des § 45 SGB X seien bei einer individuell fehlerhaften Rechtsanwendung anwendbar. Die Klägerin könne sich aber nicht auf ein Vertrauen berufen, weil sie die Fehlerhaftigkeit des Bescheides vom 30. September 2008 zumindest infolge von grober Fahrlässigkeit nicht gekannt habe. Grobe Fahrlässigkeit liege dann vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt habe.Bei Überprüfung des Bescheides und des dazugehörigen Berechnungsbogens anhand der seinerzeit gültigen Fassung der Grundsätze der erweiterten Honorarverteilung hätte sie aufgrund des eindeutigen Wortlauts des § 3 unschwer erkennen können, dass sie aufgrund ihres vorzeitigen freiwilligen Zulassungsverzichts keinen Anspruch auf einen Mehrjahreszuschlag gehabt habe. Insoweit habe sie gem. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 i. V. m. Absatz 4 SGB X den Bescheid auch für die Vergangenheit zurücknehmen dürfen. Das im Bescheid genannte Quartalshonorar von ca. 1.770,00 € sei auf der Basis eines Jahresdurchschnitts der Quartalsansätze aller hessischen Vertragsärzte in Höhe von 37.300,00 € ermittelt worden. Bei einem Anspruchssatz von 4,741 % ergebe dies ca.1.770,00 €.

Hiergegen hat die Klägerin am 19. April 2011 Klage beim Sozialgericht Marburg erhoben.

Sie hat vorgetragen, es sei ein Rückgriff auf die allgemeinen Vertrauensschutzgrundsätze des § 45 Abs. 2 bis 4 SGB Xerforderlich. Ihr Vertrauen sei schützenswert gewesen. Die Fehlerhaftigkeit des Bescheides sei ihr nicht infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt geblieben. Der Bescheid sei nicht offensichtlich fehlerhaft gewesen und auch die fehlerhafte Berechnung des Anspruchssatzes sei für sie nicht erkennbar gewesen.Die Berechnung sei als solche schon schwer nachzuvollziehen und die Fehlerhaftigkeit könne ihr nicht angelastet werden. Als juristischer Laie habe sie die Rechtswidrigkeit des Bescheides nicht erkennen können, da die Rechtslage für sie nur schwer nachzuvollziehen sei. Auch habe sie nach einem Zeitraum von fast zwei Jahren von der Rechtmäßigkeit ausgehen dürfen.

Die Beklagte hat ergänzend zum Widerspruchsbescheid vorgetragen,der Zuschlag für Mehrjahre habe bereits nach den Grundsätzen der erweiterten Honorarverteilung i. d. F. vom 1. Juli 2006 nicht bewilligt werden dürfen. Soweit das Sozialgericht Marburg mit Urteil vom 24. Februar 2010 – S 12 KA 289/08 – das Fehlen eines Übergangsrechts beanstandet habe, so betreffe dies nur den Personenkreis, der im Zeitraum 1. Juli 2003 bis 30. Juni 2006seinen freiwilligen Verzicht erklärt habe und bis spätestens 30.Juni 2009 in die EHV einbezogen worden sei. Die Klägerin habe aber nicht maximal drei Jahre vor dem EHV-Bezug auf die Zulassung verzichtet.

Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 5. Oktober 2011 den streitgegenständlichen Bescheid aufgehoben. Es hat zur Begründung ausgeführt, der Bescheid vom 2. August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. März 2011 sei rechtswidrig. Die Beklagte habe mit diesen Bescheiden zwei Verwaltungsakte im Sinne des § 31 Satz 1 Sozialgesetzbuch, 10. Buch, Verwaltungsverfahren – SGB X – erlassen. Sie habe zum einen die Regelung getroffen, dass rückwirkend der Anspruchssatz von 5,9794 % auf 4,7410 % zu reduzieren sei. Sie habe des Weiteren die Regelung getroffen, dass auf der Grundlage der rückwirkenden Änderung des Anspruchssatzes die eingetretene Überzahlung in Höhe von 2.999,34€ zurückzufordern sei. Soweit bereits die der Rückforderung vorausgehende Änderung des Anspruchssatzes rechtswidrig sei, sei auch die nachfolgende Rückforderung ohne Rechtsgrundlage ergangen.Die Änderung des Anspruchssatzes sei aber bereits rechtswidrig,weil die Beklagte von einer fehlerhaften Rechtsgrundlage ausgegangen sei und fehlerhaft das Vorliegen von Vertrauensschutzgründen verneint und infolge hiervon kein Ermessen ausgeübt habe.

Gegen das ihr am 24. Oktober 2011 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 24. November 2011 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht eingelegt.

Die Beklagte vertritt weiterhin die Auffassung, Rechtsgrundlage für die nachträgliche Änderung des Bescheides vom 30. September 2008 seien § 45 Abs. 2 Satz 1 BMV-Ä bzw. § 34 Abs.4 Satz 1 EKV-Ä.Nach der Rechtsprechung des HLSG handele es sich bei der Teilnahme an der EHV ihrem Rechtscharakter nach um Honorarverteilung. Dafür spreche auch, dass Honorarbescheide und EHV-Bescheide hinsichtlich ihres Zustandekommens vollkommen vergleichbar seien, sie würden quartalsweise berechnet, ergingen auf einer komplexen Berechnungsgrundlage und erfolgten unter dem gleichen Zeitdruck.Sie seien daher in gleicher Weise besonders fehleranfällig, was durch die vergleichsweise einfache Berichtigungsmöglichkeit nach den bundesmantelvertraglichen Regelungen kompensiert würde. Die danach erfolgte sachlich-rechnerische Berichtigung berechtige sie – die Beklagte – nicht zur Ermessensausübung. Der statusbegründende Teil des Ausgangsbescheides werde nicht durch den streitgegenständlichen Bescheid berührt. Anders als die Entscheidung über die Teilnahme an der EHV sei die Festsetzung des konkreten Anspruchsgrundsatzes nicht statusbegründend. Die Korrektur des Anspruchssatzes stelle der Sache nach eine sachlich-rechnerische Berichtigung dar. Schon der konkrete Anspruchssatz ermittle sich aufgrund einer Addition verschiedener Faktoren und erfolge damit durch Berechnung. Vor allem sei die Festsetzung des Anspruchssatzes Grundlage einer jeden konkreten Honorarberechnung und damit Teil einer solchen. Die auch im Rahmen der Honorarberichtigung anzuwendenden Vertrauensschutztatbestände des § 45 Abs. 2 i. V. m. Abs. 4 SGB X führten nicht zur Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Bescheids; hierdurch dürfe die Berichtigung nicht übermäßig erschwert werden, § 45 Abs.2 SGB X sei daher nur entsprechend anwendbar, ausreichend sei, wenn sich die Kenntnis der Klägerin auf die Vorläufigkeit des Bescheides bezogen habe, nicht erforderlich sei die Kenntnis der Rechtswidrigkeit. Die Kenntnis von der Vorläufigkeit sei gegeben,jeder aktive und ehemalige Vertragsarzt wisse um die Schwierigkeiten der Berechnung von Honoraransprüchen. Das Vertrauen der Klägerin sei im Übrigen auch nicht schutzwürdig gewesen, die Beklagte habe im aufgehobenen Bescheid ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sie sich den „Widerruf“ vorbehalte,soweit sich ergebe, dass bei Erlass das Recht unrichtig angewandt worden sei. Darüber hinaus ergebe sich bereits aus § 7 Abs. 2 lit c S. 1 GEHV, dass einmal festgestellte Anspruchssätze nicht unumstößlich seien, etwa im Fall des Versorgungsausgleichs. Zum anderen sei sie – die Beklagte – im Rahmen der allgemeinen wie auch der erweiterten Honorarverteilung gehalten,fehlerhaft geleistete Beträge zurückzufordern. Danach war auch die Rückzahlungsaufforderung rechtmäßig. Selbst wenn die Änderung des Anspruchssatzes nicht im Rahmen einer sachlich-rechnerischen Berichtigung rechtmäßig gewesen sein sollte, sei der Änderungsbescheid jedenfalls mit Wirkung für die Zukunft rechtmäßig. Der Klägerin sei keine grobe Fahrlässigkeit im Hinblick auf ihre Unkenntnis der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes vorzuwerfen. Gleichwohl habe die Klägerin nicht auf den Bestand des Bescheides vertrauen dürfen, weil im Vertragsarztrecht allgemein nur ein eingeschränkter Vertrauensschutz bestehe, Änderungen des Anspruchssatzes seien immer möglich, z. B. im Fall einer Scheidung.Zudem sei die Klägerin auf die Möglichkeit einer Korrektur hingewiesen worden. Die Rücknahme mit Wirkung für die Zukunft sei auch innerhalb der Zweijahresfrist des § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB Xerfolgt.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 5. Oktober 2011aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin trägt vor, der Anspruchssatz werde im Rahmen der Zulassung zur erweiterten Honorarverteilung festgelegt und sei,auch wenn er zunächst in einem nicht wenig komplizierten Verfahren zu berechnen sei, nach seiner Bestimmung nicht mehr vom erwirtschafteten Durchschnittshonorar der aktiven Vertragsärzte abhängig. Der Fehler, der durch den streitgegenständlichen Verwaltungsakt korrigiert werden solle, resultiere nicht aus einer mit der Unsicherheit der Gesamtvergütung und der Ermittlung des Durchschnittshonorars in Zusammenhang stehenden Ungewissheit. Der Anspruchssatz regle gerade den Umfang, in dem der Vertragsarzt an der EHV teilnehme und bilde damit eine mit der Zulassung nicht trennbare Einheit. Die Senkung des Anspruchssatzes bedeute unmittelbar einen Einschnitt in den statusrechtlichen Regelungsgehalt der Zulassung selbst. Dementsprechend sei § 45 SGBX uneingeschränkt anwendbar. Die Beklagte hätte demnach Ermessen ausüben müssen. Weiterhin greife der Vertrauensschutz des § 45 Abs.2 SGB X ein. Ihr Vertrauen in den Bestand des Verwaltungsaktes sei aufgrund der fortgesetzten Zahlungen nach dem ursprünglich festgesetzten Anspruchssatz schützenswert. Der Hinweis auf die Vorläufigkeit sei für die Bescheide der Beklagten derartig üblich,dass sich die Warnwirkung abgenutzt habe. Allenfalls habe sie mit einer alsbaldigen Richtigstellung rechnen müssen.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Gründe

Die zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache keinen Erfolg.

Zutreffend hat das Sozialgerichts Marburg den Bescheid der Beklagten vom 2. August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. März 2011 aufgehoben, denn die Verwaltungsakte, mit dem die Beklagte den EHV-Anspruchssatz der Klägerin mit Wirkung für die Vergangenheit abgeändert hat und vermeintlich überzahltes Honorar in Höhe von 2.999,34 €zurückgefordert hat, sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten.

Als Rechtsgrundlage für die Änderung des EHV-Anspruchssatzes von 5,9794 % auf 4,7410 % durch die angegriffenen Bescheide kommt lediglich § 45 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch –Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) in Betracht.

Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die Vorschrift hinsichtlich der Reduzierung des mit Bescheid vom 30. September 2008 festgestellten EHV-Anspruchssatzes anwendbar und wird nicht von § 45 BMV-Ä und § 34 EKV-Ä verdrängt. Dies ergibt sich –worauf bereits das Sozialgericht zutreffend hingewiesen hat –aus dem statusrelevanten Charakter der „weiteren Teilnahme“ inaktiver Vertragsärzte an der Honorarverteilung (hierzu Senatsurteil vom 27. Februar 2008, L 4 KA 18/07, BSG,Urteil vom 9. Dezember 2004, B 6 KA 44/03, Juris RdNr. 112 ff.)nach den Grundsätzen der Erweiterten Honorarverteilung (GEHV - in der hier maßgeblichen ab 1. Juli 2006 gültigen Fassung, Hessisches Ärzteblatt 9/2006, S. 1), der es nicht zulässt, dass über die Teilnahme an der EHV im Rahmen der Rechtmäßigkeit der Honorarabrechnung entschieden wird (vgl. Senatsurteil a. a. O, BSGa. a. O., RdNr. 112 ff., 116). Statusrelevante Wirkung entfaltet der Bescheid vom 3. September 2008 nicht nur, soweit hierin festgestellt wird, dass die Klägerin an der EHV beteiligt wird,sondern auch insoweit als der EHV-Anspruchssatz (§ 3 GEHV) in Höhe von 5,9794 % festgestellt wird, denn nach der Rechtsprechung des Senats bilden der Anspruch auf die „weitere Teilnahme“nach Maßgabe von Dauer und vertragsärztlichem Umsatz während der aktiven vertragsärztlichen Tätigkeit zusammen mit aktiver und inaktiver Phase sowie Hinnahme des Vorwegabzuges von Bestandteilen der Gesamtvergütung eine untrennbare Einheit; der EHV-Anspruchssatz bestimmt in welchem Umfang der inaktive Vertragsarzt weiterhin an der Honorarverteilung teilnimmt. Er beinhaltet mithin die generelle Festlegung der Anteilsberechtigung der Klägerin für deren weitere Teilnahme an der Honorarverteilung.

Entgegen der Auffassung der Beklagten handelt es sich bei der Korrektur des EHV-Anspruchssatzes daher auch nicht um eine bloße Berichtigung der (erweiterten) Honorarforderung, die im Wege der sachlich-rechnerischen Richtigstellung nach den Voraussetzungen gem. § 45 BMV-Ä und § 34 EKV-Ä geändert werden kann. Soweit der Senat mit Urteil vom 15. März 2006 (L 4 KA 8/05) entschieden hat,dass die erweiterte Honorarverteilung nach ihrem Rechtscharakter Honorarverteilung bleibt, die untrennbar mit der allgemeinen Honorarverteilung (der aktiven Vertragsärzte) verbunden ist,weshalb die Berichtigung und Rückforderung der erweiterten Honorarverteilungsforderung sich nicht nach §§ 45 ff SGB X richtet,steht das der Anwendbarkeit von § 45 SGB X im vorliegenden Fall nicht entgegen. Denn dem Urteil vom 15. März 2005 lag ein Sachverhalt zugrunde, in dem streitgegenständlich lediglich die Rückforderung einer EHV-Quartalszahlung (für das Quartal I/09)wegen einer Überzahlung war, der EHV-Grundbescheid über die Festsetzung des Anspruchssatzes war – anders als hier -gerade nicht Gegenstand der Entscheidung. Der EHV-Anspruchssatz steht im Unterschied zur EHV-Quartalszahlung insbesondere nicht im Zusammenhang mit der Ungewissheit über die Höhe der Gesamtvergütung und der Ermittlung der Durchschnittshonorare, was nach der Rechtsprechung des Senats (a. a. O.) die Abweichung von den allgemeinen Regelungen der §§ 45 ff SGB X rechtfertigt. Vielmehr errechnet er sich nach Maßgabe von § 3 GEHV im Wesentlichen in Abhängigkeit von dem während der aktiven Zeit des Vertragsarztes erwirtschafteten Honorars, wobei das Honorarvolumen quartalsweise ins Verhältnis zum Durchschnitthonorar aller Vertragsärzte im gleichen Quartal gesetzt und mit einer bestimmten Punktzahl (100Punkte entsprechen dem Durchschnittshonorar im jeweiligen Quartal)bewertet wird, die ihrerseits nach Maßgabe der sog.„Normalstaffel“ in den EHV-Anspruchssatz umgewandelt wird. Die Berechnungsfaktoren zur Ermittlung des EHV-Anspruchssatzes eines inaktiven Vertragsarztes ergeben sich danach aus Abrechnungswerten, die typischerweise in der Vergangenheit liegen und somit den die Honorarforderungen der aktiven Vertragsärzte kennzeichnenden Ungewissheiten nicht mehr ausgesetzt sind. Vielmehr darf der EHV-Bezieher darauf vertrauen,dass bei relativ gleichbleibenden Finanzmitteln, die aufgrund der Gesamtvergütung zur Verteilung unter den aktiven und inaktiven Ärzten zur Verfügung stehen, die Leistung aus der EHV in einer aufgrund des erworbenen Anspruchssatzes bestimmbaren Höhe auf Dauer zu erwarten ist (Senatsurteil vom 27. Juni 2012, L 4 KA 43/11 unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 16. Juli 2008, B 6 KA 38/07 R, juris Rdnrn. 55, 57). Für die gegenüber §§ 45 ff. SGB X erleichterten Möglichkeiten der Korrektur nach den Vorschriften über die sachlich-rechnerische Richtigstellung besteht daher kein Raum.

Nach § 45 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), soweit er rechtswidrig ist,auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 des § 45 SGB X ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

Zutreffend ist die Beklagte davon ausgegangen, dass der Bescheid vom 30. September 2008 rechtswidrig ist, weil sie den EHV-Anspruchssatz fehlerhaft unter Berücksichtigung des Mehrzeitenzuschlags gem. § 3 Abs. 1 c) Buchstabe bb) GEHVfestgesetzt hat, obwohl dieser gem. § 4 Abs. 1 Unterabs. 2, letzter Satz GEHV wegen des vorzeitigen freiwilligen Verzichts der Klägerin auf ihre Zulassung nicht zu gewähren war.

Die Rücknahme des Verwaltungsakts ist - worauf das Sozialgericht bereits hingewiesen hat – indessen bereits deshalb rechtswidrig, weil die Beklagte von dem ihr gem. § 45 SGB Xzustehenden Ermessen in Verkennung der Rechtsgrundlage keinen Gebrauch gemacht hat. Es handelt sich um einen Ermessensausfall,denn entgegen der im Berufungsverfahren vertretenen Auffassung der Beklagten, liegt ein Fall der Ermessensreduzierung auf Null nicht vor. Diese ist nur dann gegeben, wenn nach dem festgestellten Sachverhalt eine anderweitige Entscheidung rechtsfehlerfrei ausgeschlossen ist (Schütze in: von Wulffen, SGB X, 7. Auflage 2010§ 45 RdNr. 91). Hiervon ist – auch unter Berücksichtigung des diesbezüglichen Berufungsvortrags der Beklagten – im Hinblick auf den rentenähnlichen Charakter der der Altersversorgung dienenden Honorare aus der EHV (vgl. hierzu Senatsurteil vom 27.Juni 2012, L 4 KA 43/11) nicht auszugehen.

Die Ermessenausübung hat die Beklagte auch nicht im Berufungsverfahren, insbesondere nicht im Schriftsatz vom 12.September 2013 gem. § 41 Abs. 2 SGB X nachgeholt. Jedenfalls in Fällen, in denen es sich nicht um einen Fehler der Ermessenbegründung sondern um einen Mangel der Ermessensbetätigung nach § 39 SGB I handelt, ist das einfache Nachschieben von Ermessensgründen im Klageverfahren auch nach § 41 Abs. 2 SGB X als unzulässig anzusehen (vgl. hierzu Schütze, in: von Wulffen SGB X,7. Auflage 2010, § 41 RdNr. 11 m. w. N.). Da die Beklagte ersichtlich bei Erlass des streitgegenständlichen Bescheides von einer gebundenen Entscheidung ausgegangen ist, kommt eine Heilung nach § 41 Abs. 2 SGB X nicht in Betracht. Vielmehr hätte die Beklagte einen neuen Bescheid nach Ausübung pflichtgemäßen Ermessens erlassen müssen, der gem. § 96 SGG zum Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden wäre (BSG, Großer Senat, Beschluss vom 6. Oktober 1994, GS 1/91, BSGE 75, 159).

Lediglich ergänzend weist der Senat darauf hin, dass auch die Voraussetzungen gem. § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X nicht vorliegen.Danach kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung bis zum Ablauf von zehn Jahren nach seiner Bekanntgabe nach Abs. 2 zurückgenommen werden, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 2 Nr. 2 oder 3 gegeben sind (Nr. 1) oder der Verwaltungsakt mit einem zulässigen Widerrufsvorbehalt erlassen wurde (Nr. 2).

Ein Fall des § 45 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 SGB X ist nicht gegeben,denn der zurückgenommene Bescheid vom 30. September 2008 enthält keinen Widerrufsvorbehalt im Sinne von § 32 SGB X. Dies gilt unabhängig davon, dass der Bescheid bestandskräftig geworden ist,denn soweit die Beklagte formuliert hat, „Wir behalten uns einen Widerruf diese Bescheides vor, soweit sich ergibt, dass bei Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen wurde, der sich als unrichtig erweist.“, handelt es sich bereits rechtstechnisch nicht um einen Widerrufsvorbehalt im Sinne von § 32 SGB X, sondern lediglich um einen allgemeinen Vorbehalt in dem Sinne, dass die Behörde einen Verwaltungsakt ohne Vertrauensschutzerwägungen mit Wirkung auch für die Vergangenheit ändern könne, der letztlich auf einen § 39 SGB X widersprechenden allgemein Ausschluss der Bindungswirkung abzielt (vgl. hierzu Krasney in: Kasseler Kommentar, Stand Dezember 2003, § 32 RdNr.10).

Nach alledem erfolgte auch die Rückforderung des vermeintlich überzahlten EHV-Honorars zu Unrecht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i. V. m. § 154 Abs.2 Verwaltungsgerichtsordnung.

Gründe für die Zulassung der Revision gem. § 160 Abs. 2 SGG sind nicht gegeben.

Der Streitwert bestimmt sich gemäß § 197a SGG i. V. m. §§ 47, 52Abs. 3 Gerichtskostengesetz (GKG). Hierbei war in Anlehnung an den Rechtsgedanken des § 42 Abs. 2 Satz 1 GKG von dem Differenzbetrag der sich nach dem ursprünglichen und dem reduzierten EHV-Anspruchssatz ergebenden Netto-Honoraren aus der EHV für die Dauer von drei Jahren hinsichtlich der Korrektur des EHV-Anspruchssatz auszugehen. Unter Berücksichtigung des Durchschnittswerts in den streitgegenständlichen Quartalen ergibt sich ein Betrag in Höhe von 5141,72 €. Hierzu ist der bezifferte Rückforderungsbetrags in Höhe von 2.999,34 € zu addieren.