Bayerischer VGH, Urteil vom 24.10.2013 - 13a B 12.30421
Fundstelle
openJur 2013, 44503
  • Rkr:
Tenor

I. Unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts München vom 7. September 2012 wird die Klage insgesamt abgewiesen.

II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen zu tragen.

III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger ist eigenen Angaben zufolge afghanischer Staatsangehöriger aus der Provinz Maydan-Wardak und Paschtune. Er reiste im Juli 2008 in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ein. Dabei gab er als Geburtsdatum den 25. Februar 1993 an. Diese Angaben wurden von der Regierung von Oberbayern als nicht glaubwürdig angesehen, weil er nach dem äußeren Anschein älter sei. Fiktiv wurde der 31. Dezember 1989 angenommen. Am 10. Juli 2008 stellte der Kläger beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) Asylantrag. Bei der Befragung durch die Regierung von Oberbayern am 17. Juli 2008 gab er an, vor ca. eineinhalb Monaten aus Kabul abgeflogen zu sein. In einem unbekannten Land sei er dann ca. einen Monat geblieben. Mit dem Flugzeug sei er dann erneut weiter geflogen; wann und wo er gelandet sei, wisse er nicht. Der Schleuser habe ihn dann zum Taxi gebracht.

Bei der Anhörung vor dem Bundesamt am 12. August 2008 gab der Kläger an, er habe überwiegend in Nerkh in der Provinz Maydan-Wardak mit seinen Eltern gelebt. Lediglich ca. eineinhalb Jahre hätten sie sich in Baghlan aufgehalten. Er habe die Schule bis zur 9. Klasse besucht, zuletzt das Lycée in Nerkh. Vor ca. einem Jahr sei seine Mutter aufgrund psychischer Belastungen nach dem Tode seines Bruders verstorben. Vor ca. eineinhalb Monaten sei sein Vater getötet worden. Dieser sei Leiter der Sicherheitsbehörde der Provinz Maydan-Wardak gewesen. Er sei gemeinsam mit seinen Sicherheitsleuten unterwegs gewesen. Dann sei eine Mine explodiert und Bewaffnete in der Nähe hätten auf seinen Vater und dessen Begleiter mit Maschinengewehren geschossen. Nach dem Anschlag auf seinen Vater seien überall Flugblätter gewesen, in denen jeder aufgefordert worden sei, seine Familie zu töten. Er sei nach dem Anschlag bei einem Cousin seines Vaters gewesen. Dann habe er das Land aus Furcht verlassen. Man habe ihm gesagt, alle Mitglieder seiner Familie sollten getötet werden. Sie seien Verräter, weil sie mit der Regierung zusammen gearbeitet hätten. Nähere Verwandte habe er nicht mehr in Afghanistan.

Aufgrund einer Anfrage des Bundesamts teilte das Auswärtige Amt am 25. November 2008 mit, der Sicherheitschef der Provinz Maydan-Wardak habe nicht den vom Kläger genannten Namen seines Vaters. Auch sei er weder ermordet noch anderweitig zu Schaden gekommen. Mit Bescheid vom 15. Mai 2009, zugestellt am 29. Juli 2009, lehnte das Bundesamt (1.) den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter ab, stellte fest, dass (2.) die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und (3.) Abschiebungsverbote nach §§ 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen und forderte (4.) den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde die Abschiebung nach Afghanistan angedroht. Die Feststellung der Flüchtlings-eigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG komme nicht in Betracht. Die Angaben des Klägers insoweit hätten sich als unglaubhaft dargestellt. Die Gewährung von Schutz nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG scheitere auf jeden Fall daran, dass keine dem Kläger im Rahmen eines bewaffneten Konflikts drohende erhebliche individuelle Gefahren für Leib oder Leben festgestellt werden könnten. Eine extreme Gefahrenlage, die bei verfassungskonformer Auslegung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde, läge ebenfalls nicht vor. Als alleinstehender männlicher Erwachsener könne der Kläger jedenfalls ein Leben am Rande des Existenzminimums führen.

Am 3. August 2009 erhob der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht München. Mit Schreiben vom 27. August 2009 wurde die Klage auf Feststellung von Abschiebungsverboten hinsichtlich Afghanistan gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2, hilfsweise Satz 1 AufenthG beschränkt. Auf gerichtliche Anfrage erklärten Kläger und Beklagte am 11. August und 13. Oktober 2009 Verzicht auf mündliche Verhandlung. Am 17. August 2010 teilte die Beklagte mit, dass nunmehr als Geburtsdatum des Klägers der 30. September 1992 festgesetzt worden sei.

Mit Urteil vom 7. September 2012 hob das Verwaltungsgericht München den Bescheid vom 15. Mai 2009 insoweit auf, als festgestellt worden war, dass kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliege, und verpflichtete die Beklagte festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegen. Im Übrigen wurde die Klage abgewiesen. Die allgemeine Gefahr habe sich im maßgeblichen Zeitpunkt zu einer extremen Gefahr verdichtet, so dass eine entsprechende Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geboten sei. Der Kläger könne in Kabul sein Existenzminimum nicht durch eigene Erwerbstätigkeit erlangen. In Afghanistan habe er keine Familienangehörigen. Mittellos und ohne soziale Absicherung eines Familienverbandes sei mit hoher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrensituation wegen der allgemeinen Versorgungsanlage anzunehmen.

Auf Antrag der Beklagten hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 14. November 2012 die Berufung wegen Divergenz hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsschutzes zugelassen (Az. 13a ZB 12.30393).

Die Beklagte beantragt unter Verweis auf die entsprechenden Ausführungen im Antrag auf Zulassung der Berufung, in dem sie sich der Annahme eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG widersetzt,

die Klage unter entsprechender Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts München vom 7. September 2012 vollumfänglich abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er habe in Afghanistan keine ihm bekannten Familienangehörigen mehr. Seine nächsten Angehörigen lebten in Deutschland. In Afghanistan besitze seine Familie weder Land noch sonstige Immobilien und auch kein Vermögen. In Deutschland habe er in den vergangenen fünf Jahren den qualifizierenden Hauptschulabschluss erworben und eine Berufsausbildung absolviert. Die Ausbildung zum Bäckereifachverkäufer habe er abbrechen müssen, da der Ausbildungsbetrieb in Insolvenz gegangen sei. Er sei gegenwärtig auf der Suche nach einem neuen Ausbildungsbetrieb. Auch leide er seit längerer Zeit an unklaren Magen-Darmbeschwerden. Ein ärztliches Attest werde vorgelegt, soweit die Untersuchungen abgeschlossen seien. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan wäre er einer extremen Gefahrensituation ausgesetzt. Er habe keinerlei Bindungen in Afghanistan. Auch habe er mit 24 Jahren bereits die Hälfte der durchschnittlichen Lebenserwartung erreicht und sei damit im Vergleich zu der Mehrzahl der dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden Männer kein ganz junger Mann mehr. An körperliche Arbeit und insgesamt an die Lebensverhältnisse in Afghanistan sei er nicht gewöhnt. Das Überleben in Afghanistan erfordere nicht nur Durchsetzungsstärke, sondern insbesondere vorhandene Netzwerke, aber auch eine sehr genaue Kenntnis der Verhältnisse in Afghanistan und eine Anpassung hieran. Über diese Voraussetzungen verfüge er nicht.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten sowie auf die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen verwiesen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig und begründet. Das Bundesamt ist nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylVfG) nicht verpflichtet festzustellen, dass für den Kläger ein national begründetes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG besteht. Beim national begründeten Abschiebungsverbot handelt es sich um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand, weshalb alle entsprechenden Anspruchsgrundlagen zu prüfen sind (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10BVerwGE 140, 319 Rn. 16 und 17). Allerdings sind weder die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 noch die des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt.

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention unzulässig (EMRK) ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Vorgängerregelung in § 53 Abs. 4 AuslG (U.v. 11.11.1997 – 9 C 13.96BVerwGE 105, 322) umfasst der Verweis auf die EMRK lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen ("zielstaatsbezogene" Abschiebungshindernisse). Dabei sind alle Verbürgungen der EMRK in den Blick zu nehmen, aus denen sich ein Abschiebungsverbot ergeben kann. Schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebezielstaat können jedoch nur in besonderen Ausnahmefällen in Bezug auf Art. 3 EMRK ein Abschiebungsverbot begründen. In Afghanistan ist die Lage jedoch nicht so ernst, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK wäre (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12NVwZ 2013, 1167 unter Verweis auf EGMR, U.v. 21.1.2011 – M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09NVwZ 2011, 413; U.v. 28.6.2011 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07NVwZ 2012, 681; U.v. 13.10.2011 – Husseini/Schweden, Nr. 10611/09NJOZ 2012, 952).

Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt nicht vor. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG sind die Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde anordnen, dass die Abschiebung für längstens sechs Monate ausgesetzt wird.

Eine individuelle, erhebliche konkrete Gefahr i.S.v. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG droht dem Kläger nicht. Hinsichtlich seines Vortrags bei der Anhörung vor dem Bundesamt am 15. Mai 2009, sein Vater sei Sicherheitschef für die Provinz Maydan-Wardak, hat bereits das Bundesamt in dem ablehnenden Bescheid vom 15. Mai 2009 festgestellt, dass dies unzutreffend ist. Nach einer Auskunft des Auswärtigen Amtes sei weder der Name des im fraglichen Zeitraum amtierenden Sicherheitschefs mit dem vorgetragenen Vatersnamen des Klägers identisch noch sei auf den Amtsinhaber ein Mordanschlag verübt worden, bei dem dieser ums Leben gekommen sei. Dieser Annahme des Bundesamts ist der Kläger weder im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht noch im Berufungsverfahren entgegengetreten. Auch hinsichtlich der vorgetragenen Magen-/Darmbeschwerden wurde nichts weiter vorgetragen. Sonstige Anhaltspunkte für eine individuelle und konkrete Gefahr i.S.v. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind ebenfalls nicht ersichtlich.

Eine Gefahr im Sinn von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kann allerdings grundsätzlich auch in einer unzureichenden Versorgungslage in Afghanistan, die insbesondere für Rückkehrer ohne Berufsausbildung und ohne familiäre Unterstützung besteht, begründet sein. Dies stellt jedoch eine allgemeine Gefahr im Sinn des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG dar, die auch dann nicht als Abschiebungshindernis unmittelbar nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG berücksichtigt werden kann, wenn sie durch Umstände in der Person oder in den Lebensverhältnissen des Ausländers begründet oder verstärkt wird, aber nur eine typische Auswirkung der allgemeinen Gefahrenlage ist (BVerwG, U.v. 8.12.1998 – 9 C 4.98BVerwGE 108, 77). Dann greift grundsätzlich die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG. Eine Abschiebestoppanordnung besteht jedoch für die Personengruppe, der der Kläger angehört, nicht (mehr). Das Bayerische Staatsministerium des Innern hat durch die Verwaltungsvorschriften zum Ausländerrecht (BayVVAuslR) mit Rundschreiben vom 10. August 2012 (IA2-2081.13-15) in der Fassung vom 16. April 2013 bezüglich der Rückführungen nach Afghanistan verfügt, dass nach wie vor vorrangig zurückzuführen sind alleinstehende männliche afghanische Staatsangehörige, die volljährig sind (s. BayVVAuslR Nr. C.3.2).

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist jedoch im Einzelfall Ausländern, die zwar einer gefährdeten Gruppe im Sinn des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG angehören, für welche aber ein Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 AufenthG oder eine andere Regelung, die vergleichbaren Schutz gewährleistet, nicht besteht, ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzusprechen, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen würde. Das ist der Fall, wenn der Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (st. Rspr. des BVerwG; vgl. nur BVerwGE 99, 324; 102, 249; 108, 77; 114, 379; 137, 226). Diese Grundsätze über die Sperrwirkung bei allgemeinen Gefahren und die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise verfassungskonforme Anwendung in den Fällen, in denen dem Betroffenen im Abschiebezielstaat eine extrem zugespitzte Gefahr droht, sind auch für die neue Rechtslage nach dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes maßgeblich (BVerwG, B.v. 23.8.2006 – 1 B 60.06 – Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 19).

Die allgemeine Gefahr in Afghanistan hat sich für den Kläger aber nicht derart zu einer extremen Gefahr verdichtet, dass eine entsprechende Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geboten ist (vgl. ständige Rspr. des Senats, z.B. U.v. 3.2.2011 – 13a B 10.30394 – juris; U.v. 8.12.2011 – 13a B 11.30276 – EzAR-NF 69 Nr. 11 = AuAS 2012, 35 -LS-; U.v. 20.1.2012 – 13a B 11.30425 – juris; U.v. 22.3.2013 – 13a B 12.30044 – juris; U.v. 4.6.2013 – 13a B 12.30063 – juris; so auch VGH BW, U.v. 27.4.2012 – A 11 S 3079/11 – juris = DÖV 2012, 651 -LS-). Die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung hierfür aufgestellten Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Wann allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Die Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Das Erfordernis des unmittelbaren – zeitlichen – Zusammenhangs zwischen Abschiebung und drohender Rechtsgutverletzung setzt zudem für die Annahme einer extremen Gefahrensituation wegen der allgemeinen Versorgungslage voraus, dass der Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Rückkehr in sein Heimatland in eine lebensgefährliche Situation gerät, aus der er sich weder allein noch mit erreichbarer Hilfe anderer befreien kann (Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl. 2013, § 60 AufenthG Rn. 54). Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, U.v. 29.6.2010 – 10 C 10.09BVerwGE 137, 226).

Nach der Rechtsprechung des Senats (z.B. U.v. 22.3.2013 – 13a B 12.30044 – juris) ergibt sich aus den Erkenntnismitteln nicht, dass ein alleinstehender arbeitsfähiger männlicher afghanischer Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach einer Rückkehr in eine derartige extreme Gefahrenlage geraten würde, die eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich als unzumutbar erscheinen ließe. Zwar ist die Versorgungslage in Afghanistan schlecht, jedoch ist im Wege einer Gesamtgefahrenschau nicht anzunehmen, dass bei einer Rückführung nach Afghanistan alsbald der sichere Tod drohen würde oder alsbald schwere Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten wären. Der Senat hat sich dabei u.a. auf den Lagebericht des Auswärtigen Amtes (im letztgenannten Urteil Lagebericht vom Januar 2012, S. 26 ff.) gestützt, wonach sich nahezu alle volkswirtschaftlichen Indikatoren Afghanistans positiv entwickelt hätten. Von den verbesserten Rahmenbedingungen profitierten dem Lagebericht zufolge grundsätzlich auch Rückkehrer. Die Versorgung mit Wohnraum zu angemessenen Preisen in den Städten sei allerdings nach wie vor schwierig. Das Ministerium für Flüchtlinge und Rückkehrer bemühe sich um eine Ansiedlung der Flüchtlinge in Neubausiedlungen für Rückkehrer. Dort erfolge die Ansiedlung unter schwierigen Rahmenbedingungen; für eine permanente Ansiedlung seien die vorgesehenen „Townships“ kaum geeignet. Auch sei der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser und Gesundheitsversorgung häufig nur sehr eingeschränkt möglich.

Ähnliche Erkenntnisse haben sich für den Senat aus den weiter zu Grunde gelegten Berichten ergeben. So geht der Sachverständige Dr. Mustafa Danesch in seinem Gutachten vom 7. Oktober 2010 an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof hinsichtlich der Arbeitsmöglichkeiten davon aus, dass am ehesten noch junge kräftige Männer, häufig als Tagelöhner, einfache Jobs, bei denen harte körperliche Arbeit gefragt sei, fänden. In diesen Sektor, meist im Baugewerbe, ströme massiv die große Zahl junger Analphabeten. Ein älterer Mann, der vorher schon lange im Westen gelebt habe, hätte keine Chance auf einen solchen Arbeitsplatz. Hieraus konnte der Senat im Umkehrschluss die Folgerung ziehen, dass bei anderen Voraussetzungen eine Beschäftigung möglich ist. Nach der Stellungnahme vom 8. Juni 2011 an das OVG Rheinland-Pfalz (zum dortigen Verfahren 6 A 11048/10.OVG) von Dr. Karin Lutze (stellvertretende Geschäftsführerin der AGEF – Arbeitsgruppe Entwicklung und Fachkräfte im Bereich der Migration und der Entwicklungszusammenarbeit i.L.) gebe es für qualifiziertes Personal ein umfangreiches Angebot an offenen Stellen. Für einen nicht oder gering qualifizierten Rückkehrer bestünden nur geringe Chancen für eine dauerhafte Beschäftigung mit geregeltem Einkommen. Das Existenzminimum für eine Person könne durch Aushilfsjobs ermöglicht werden (S. 9). Fälle, in denen Rückkehrer aufgrund von Hunger oder Unterernährung verstorben seien, seien nicht bekannt. Schließlich hat der Senat auch die Auskunft von ACCORD (Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation) vom 1. Juni 2012 herangezogen, in der ebenfalls auf die schwierige Arbeitssuche hingewiesen wird. Die meisten Männer und Jugendlichen würden versuchen, auf nahe gelegenen Märkten als Träger zu arbeiten. Aufgrund dieser Auskünfte sah der Senat deshalb die Annahme als gerechtfertigt an, dass grundsätzlich Arbeitsmöglichkeiten bestehen.

Der aktuelle Lagebericht vom 4. Juni 2013 (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: März 2013) formuliert die maßgeblichen Passagen zwar anders (S. 17 ff: „IV. Rückkehrerfragen“). Danach ist der Entwicklungsbedarf in Afghanistan weiterhin beträchtlich. Die Möglichkeiten des afghanischen Staats, die Grundbedürfnisse der eigenen Bevölkerung zu befriedigen und ein Mindestmaß an sozialen Dienstleistungen, etwa im Bildungsbereich, zur Verfügung zu stellen, würden aufgrund des rapiden Bevölkerungswachstums zusätzlich unter Druck geraten. Die Situation am Arbeitsmarkt stelle das Land vor besondere wirtschaftliche und soziale Herausforderungen. Die Grundversorgung sei für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung. Andererseits wird im Lagebericht dargestellt, dass zunehmend Arbeiter aus Bangladesch, Iran und Pakistan nach Afghanistan kommen, da hier höhere Gehälter bezahlt würden, wenngleich es an einer politischen Strategie zur Schaffung von Arbeitsplätzen fehle (S. 17). Auch sei die afghanische Wirtschaft in den vergangenen Jahren aufgrund der internationalen Präsenz ständig gewachsen, unterliege allerdings derzeit besonderen Herausforderungen. Die medizinische Versorgung sei zwar immer noch unzureichend, Verbesserungen seien aber erkennbar (S. 18). Zusammenfassend lassen sich dem Lagebericht vom 4. Juni 2013 damit keine für die Beurteilung der Gefahrenlage relevanten Änderungen entnehmen.

Aufgrund der in den Auskünften geschilderten Rahmenbedingungen geht der Senat weiterhin davon aus, dass trotz großer Schwierigkeiten grundsätzlich auch für Rückkehrer durchaus Perspektiven im Hinblick auf die Sicherung des Lebensunterhalts bestehen und jedenfalls der Tod oder schwerste Gesundheits-gefährdungen alsbald nach der Rückkehr nicht zu befürchten sind. Insbesondere Rückkehrer aus dem Westen sind in einer vergleichsweise guten Position. Allein schon durch Sprachkenntnisse sind ihre Chancen, einen Arbeitsplatz zu erhalten, gegenüber den Flüchtlingen, die in die Nachbarländer geflüchtet sind, wesentlich höher (Lagebericht 2012, S. 27). Hinzu kommt, dass eine extreme Gefahrenlage zwar auch dann besteht, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, U.v. 29.6.2010 – 10 C 10.09BVerwGE 137, 226), jedoch Mangelernährung, unzureichende Wohnverhältnisse und eine schwierige Arbeitssuche nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit „alsbald“ zu einer extremen Gefahr führen. Diese muss zwar nicht sofort, also noch am Tag der Ankunft eintreten. Erforderlich ist allerdings eine hinreichende zeitliche Nähe zwischen Rückkehr und unausweichlichem lebensbedrohenden Zustand. Die Gefahr muss sich alsbald nach der Rückkehr realisieren. Dies ist aus den genannten Erkenntnismitteln nicht ersichtlich.

Bei dieser Ausgangslage ist davon auszugehen, dass auch der Kläger selbst ohne nennenswertes Vermögen, ohne abgeschlossene Berufsausbildung und ohne familiären Rückhalt im Falle einer zwangsweisen Rückkehr in sein Heimatland in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten, etwa in Kabul, aber auch in seiner Heimatprovinz Maydan-Wardak, wenigstens ein kleines Einkommen zu erzielen, sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren und allmählich wieder in die afghanische Gesellschaft zu integrieren. Der Kläger hat die Schule in seinem Heimatort bis zur 9. Klasse besucht, zuletzt das Gymnasium. Er spricht die Landessprachen Dari und Paschtu. In Deutschland hat er zusätzlich eine Ausbildung als Bäckereifachverkäufer begonnen. Mit diesen Kenntnissen und Erfahrungen wird er bei einer Rückkehr nach Afghanistan jedenfalls eine Tagelöhner- oder Gelegenheitsarbeit ausüben können. Unter diesen Umständen ist anzunehmen, dass ihm eine ausreichende Sicherung seines Lebensunterhalts gelingen wird. Damit liegt die für eine verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderliche hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger alsbald existenzbedrohenden Mangellagen ausgesetzt wäre, nicht vor.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylVfG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

Die Revision war nicht zuzulassen, da keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.