Hessischer VGH, Beschluss vom 14.12.2012 - 5 A 1884/12
Fundstelle
openJur 2013, 43944
  • Rkr:
Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen vom 14. Juni 2012 - 2 K 423/10.GI -abgeändert.

Der Bescheid der Beklagten vom 10. September 2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15. Februar 2010 wird aufgehoben,soweit der festgesetzte Erschließungsbeitrag 534,54 €übersteigt.

Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens in vollem Umfang. Die Kosten des Verfahrens erster Instanz trägt die Beklagte zu 1/12, die Klägerin zu 11/12.

Der Beschluss ist hinsichtlich der festzusetzenden Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 13,21 €festgesetzt.

Gründe

I.

Die Klägerin begehrt mit ihrer Berufung, soweit sie vom Senat mit Beschluss vom 18. September 2012 - 5 A 1479/12.Z - zugelassen worden ist, die Aufhebung des Erschließungsteilbeitragsbescheides der beklagten Gemeinde um weitere 13,21 €.

Hinsichtlich des Sachverhalts verweist der Senat auf den Tatbestand des angefochtenen verwaltungsgerichtlichen Urteils,dessen tatsächliche Feststellungen er sich zu eigen macht (§ 130b Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -).

Mit Urteil vom 14. Juni 2012 hat das Verwaltungsgericht Gießen den Bescheid der Beklagten über die Heranziehung der Klägerin zu einem Erschließungsteilbeitrag in Höhe von 581,03 €aufgehoben, soweit der festgesetzte Beitrag 547,75 €überstieg, da die Beklagte zu Unrecht nicht die Flurstücke …/12 und …/2 in die Verteilung des Erschließungsaufwandes einbezogen habe. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen.

Mit Beschluss vom 18. September 2012 hat der Senat auf Antrag der Klägerin die Berufung zugelassen, soweit der festgesetzte Erschließungsbeitrag 534,54 € übersteigt. Im Übrigen hat der Senat den Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung abgelehnt.

Zur Begründung der Berufung trägt der Bevollmächtigte der Klägerin vor, auch das Grundstück …/10 müsse an der Verteilung des Erschließungsaufwandes der Erschließungsanlage "Am Heiligenberg" teilnehmen, da es zusammen mit dem an die Erschließungsanlage angrenzenden Flurstück …/11einheitlich als Pferdekoppel genutzt werde und Eigentümeridentität bestehe. Eine zwischen den beiden Flurstücken verlaufende Grenze sei nicht erkennbar. Aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ergebe sich, dass es für ein Erschlossensein des Hinterliegergrundstücks genüge, wenn eine einheitliche Nutzung von Anlieger- und Hinterliegergrundstücks vorliege. Maßgeblich sei die Bewertung der Schutzwürdigkeit der Erwartung der übrigen Beitragspflichtigen, neben dem Anliegergrundstück werde auch das Hinterliegergrundstück zu ihrer Entlastung an der Aufwandsverteilung teilnehmen.

Die Klägerin beantragt,

unter teilweiser Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Gießen vom 14. Juni 2012 den Heranziehungsbescheid der Beklagten vom 10. September 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Februar 2010 aufzuheben, soweit der festgesetzte Erschließungsbeitrag 534,54 € übersteigt.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Entgegen der Auffassung der Klägerseite sei das Grundstück …/10 bei der Verteilung des umlagefähigen Aufwandes nicht zu berücksichtigen. Das Bundesverwaltungsgericht gehe davon aus, dass ein Hinterliegergrundstück grundsätzlich nicht durch eine Erschließungsanlage im Sinne des § 131 Abs. 1 BauGB erschlossen sei, sondern der Fall der Erschließungswirkung für das Hinterliegergrundstück die Ausnahme darstelle. Diese hänge davon ab, ob die Eigentümer der übrigen Erschlossenengrundstücke im Zeitpunkt des Entstehens der Beitragspflicht nach den tatsächlichen Verhältnissen schutzwürdig erwarten könnten, dass auch das Hinterliegergrundstück an der Verteilung teilnehme. Dies sei nur dann der Fall, wenn die tatsächlichen Verhältnisse den Eindruck vermittelten, dass mit einer erschließungsbeitragsrechtlich noch relevanten Wahrscheinlichkeit typischerweise mit einer Inanspruchnahme der Anbaustraße durch das Hinterliegergrundstück zu rechnen sei. Die Erwartungen der übrigen Grundstückseigentümer müssten, um schutzwürdig zu sein, in den bestehenden Verhältnissen ihre Stütze finden, so dass nicht jede einheitliche Nutzung eines Hinterliegergrundstücks mit einem Anliegergrundstück bei Eigentümeridentität ein schutzwürdiges Vertrauen begründe. Der beitragsrechtliche Vorteilsbegriff richte sich nach dem Ausmaß der zu erwartenden wahrscheinlichen Inanspruchnahme der hergestellten Erschließungsanlage durch das Grundstück. Somit könne ein schutzwürdiges Vertrauen nicht losgelöst vom erschließungsbeitragsrechtlichen Vorteilsbegriff allein durch jegliche einheitliche Nutzung begründet werden. Vielmehr sei eine differenzierte Betrachtung von so genannten Hinterliegergrundstücken zwischen gefangenen und nicht gefangenen Hinterliegergrundstücken vorzunehmen. Ein nicht gefangenes Hinterliegergrundstück habe grundsätzlich unberücksichtigt zu bleiben, wenn es aufgrund planungsrechtlicher, rechtlicher oder tatsächlicher Umstände eindeutig erkennbar auf die Anbaustraße ausgerichtet sei, an die es selbst angrenze, wenn mithin Anhaltspunkte dafür fehlten, die abzurechnende Straße werde über das Anliegergrundstück hinweg vom Hinterliegergrundstück ungeachtet dessen eigener Anbindung an eine eigenständige Anbaustraße im nennenswerten Umfang in Anspruch genommen werden. Es komme auf die konkreten Umstände des Einzelfalles an. An derartigen Anhaltspunkten fehle es hier. Das Grundstück …/10 werde zusammen mit dem Flurstück …/11 als Pferdekoppel genutzt.Auf den Bildern sei zu erkennen, dass das Flurstück …/10 auf den Eulenweg hin in seiner Nutzung ausgerichtet sei. Demgegenüber bestehe keine Nutzung durch die ausgebaute Erschließungsanlage "Am Heiligenberg ". Es sei nicht erkennbar, inwieweit aus einer nichtbaulichen Nutzung und auch nicht mit einer baulichen Nutzung im Zusammenhang stehenden Nutzung als Pferdekoppel Rückschlüsse auf eine nennenswerte Inanspruchnahme der ausgebauten Erschließungsanlage mit Blick auf den erschließungsbeitragsrechtlichen Vorteilsbegriff gezogen werden könnten.

Im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten (3 Bände) sowie die Verwaltungsvorgänge der Beklagten (3 Hefte) verwiesen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.

II.

Der Senat entscheidet über die Berufung der Klägerin, soweit er sie mit Beschluss vom 18. September 2012 zugelassen hat, gemäß §130 a Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -, da er sie einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind zu dieser Entscheidungsmöglichkeit gehört worden (§ 130 a, § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO).

Die Berufung der Klägerin ist im zugelassenen Umfang auch im Übrigen zulässig und begründet.

Wie der Senat bereits in seinem Beschluss über die teilweise Zulassung der Berufung ausgeführt hat, hätte auch das Flurstück …/10 als Hinterliegergrundstück zu dem an der im Wege der Kostenspaltung abgerechneten Erschließungsbeitrag für die Straßenbeleuchtung an der Straße "Am Heiligenberg" in die Abrechnungsfläche einbezogen werden müssen. Auch dieses Grundstück ist im Sinne von § 131 Abs. 1 Satz 1 Baugesetzbuch - BauGB - durch die Erschließungsanlage "Am Heiligenberg" als Hinterliegergrundstück des Anliegergrundstücks …/11erschlossen. Dabei ist in diesem Zusammenhang eine bereits vorhandene Erschließung des Hinterliegergrundstücks durch eine andere Straße, wie sie hier für das Flurstück …/10 durch den Eulenweg vorliegt, nicht zu berücksichtigen (so genannte "Hinwegdenkenstheorie", vgl. BVerwG, Urteile vom 26.Februar 1993 - 8 C 35.92 -, BVerwGE 92, 157, und vom 28. März 2007 - 9 C 4.06 -, BVerwGE 128, 246 = NVwZ 2007, 823). Fehlt es in dem maßgeblichen Bebauungsplan diesbezüglich an relevanten Festsetzungen, ist ein in einem Wohngebiet gelegenes Grundstück durch eine Anbaustraße regelmäßig erschlossen im Sinne von § 131Abs. 1 Satz 1 BauGB, wenn diese die Möglichkeit eröffnet, mit Fahrzeugen an die Grenze des Grundstücks heranzufahren und es von dort aus zu betreten. Bei einem Hinterliegergrundstück ist das nur der Fall, wenn es tatsächlich durch eine Zufahrt über das Anliegergrundstück mit der Anbaustraße verbunden ist und diese Verbindung in rechtlich gesicherter Weise und auf Dauer genommen werden kann. Auch wenn eine derartige Zufahrt nicht besteht, kann ausnahmsweise ein Erschlossensein des Hinterliegergrundstücks anzunehmen sein, wenn die Eigentümer der übrigen Grundstücke nach den bestehenden tatsächlichen Verhältnissen schutzwürdig erwarten können, dass auch ein Grundstück, dessen Erschlossensein nach der bebauungsrechtlichen Situation (noch) zu verneinen wäre, in den Kreis der erschlossenen Grundstücke einbezogen wird und sich so die Beitragslast der übrigen Grundstücke vermindert. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist dies bei Eigentümeridentität von Anlieger- und Hinterliegergrundstück bejaht worden für den Fall, dass (nur) tatsächlich eine Zufahrt über das Anliegergrundstück besteht (vgl. Urteil vom 1. April 1981 - 8C 5.81 -, Buchholz 406.11 § 131 BBauG Nr. 37), später aber auch für den Fall der einheitlichen Nutzung von Hinter- und Anliegergrundstück bei Eigentümeridentität (vgl. Urteil vom 15.Januar 1988 - 8 C 111.86 -, BVerwGE 79, 1). Dieser Rechtsprechung liegt der das Erschließungsbeitragsrecht beherrschende Gedanke eines angemessenen Vorteilsausgleichs zu Grunde, der eine Berücksichtigung des Hinterliegergrundstücks gebietet, wenn dies mit dem Anliegergrundstück einheitlich genutzt wird und sich infolge dieser einheitlichen vom Willen des Eigentümers beider Grundstücke getragenen Nutzung der von der Anbaustraße dem Anliegergrundstück vermittelte Erschließungsvorteil auf das Hinterliegergrundstück erstreckt. Aus der Sicht der übrigen Beitragspflichtigen verwischt nämlich die einheitliche Nutzung beider Grundstücke deren Grenze und lässt sie als ein Grundstück erscheinen (vgl. auch: BVerwG, Urteile vom 30. Mai 1997 - 8 C 27.96-, NVwZ-RR 1998, 67, und vom 28. März 2007, a.a.O.). Insofern kann die einheitliche Nutzung zweier Grundstücke dazu führen, dass ein nicht an die Erschließungsanlage angrenzendes Grundstück als erschlossen im Sinne von § 131 Abs. 1 Satz 1 BauGB anzusehen ist,was für die Frage der Einbeziehung in die Abrechnungsfläche maßgeblich ist. Zur Bejahung eines Erschlossenseins im Sinne von §133 Abs. 1 BauGB, d.h. zur Bejahung der Inanspruchnahmemöglichkeit des betreffenden Grundstückseigentümers genügt eine einheitliche Nutzung für sich allein jedoch nicht (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.Februar 2010 - 9 C 1.09 -, BVerwGE 106. 30, 126). Eine Differenzierung danach, ob das betreffende Hinterliegergrundstück "gefangen" oder "nicht gefangen", d.h. durch eine oder mehrere weitere Erschließungsanlagen zusätzlich als Anliegergrundstück erschlossen ist und innerhalb der Gruppe der "nicht gefangenen" Hinterliegergrundstücke danach, ob mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit dem Grundstück durch die Inanspruchnahmemöglichkeit der - zusätzlichen - Erschließungsanlage ein nennenswerter Vorteil zuwächst, wie sie Driehaus (Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 9. Aufl., § 17 Rn. 96 ff; siehe auch: Bayerischer VGH, Urteil vom 20. Oktober 2011 - 6 B 09.2043 -,Juris) vorschlägt - und damit eine Abkehr von der oben genannten "Hinwegdenkenstheorie" - hält der Senat schon aufgrund der sich in der Praxis stellenden Einordnungsprobleme nicht für sinnvoll.

In Anwendung dieser Grundsätze ergibt sich, dass das im selben Eigentum wie das Anliegerflurstück …/11 stehende Hinterliegerflurstück …/10 als erschlossen im Sinne von §131 Abs. 1 Satz 1 BauGB anzusehen ist. Die einheitliche Nutzung als Pferdekoppel zum Zeitpunkt der Beitragsentstehung, die die Grundstücksgrenze zwischen beiden Flurstücken aus Sicht der übrigen Beitragspflichtigen verwischt, lässt beide Flurstücke insgesamt als ein Grundstück erscheinen, so dass sich aus diesem Blickwinkel der durch die Straße "Am Heiligenberg" vermittelte Erschließungsvorteil auch auf das Hinterliegergrundstück …/10 erstreckt. Die Richtigkeit dieser Auffassung vermittelt auch der Blick auf die Nachbargrundstücke. Das Grundstück der Klägerin …/8 verläuft als einheitliche Parzelle zwischen dem Eulenweg und der Straße "Am Heiligenberg" hindurch und ist als einheitliches Grundstück beitragspflichtig. Das Grundstück daneben besteht aus der "Am Heiligenberg" anliegenden Parzelle …/13 und der am Eulenweg anliegenden Parzelle …/12. In Bezug auf die Parzelle …/12 hat auch das Verwaltungsgericht diese zu Recht als durch die Anlage "Am Heiligenberg" erschlossenes Hinterliegergrundstück angesehen.Im Vergleich dazu ist es aus dem Blickwinkel der übrigen Beitragspflichtigen nicht nachvollziehbar, warum für die noch nicht bebaute Parzelle …/10 anderes gelten soll. Unter Zugrundelegung dieser vergrößerten Umlagefläche ergibt sich für das Grundstück der Klägerin, dem die Ermäßigung für mehrfach erschlossene Grundstücke zugute kommt, ein gegenüber dem vom Verwaltungsgericht angenommenen Beitrag geringfügig ermäßigter Betrag, wie er sich aus dem Tenor ergibt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Entscheidung hinsichtlich der Vollstreckbarkeit der festzusetzenden Kosten ergibt sich aus § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11, § 711 ZPO in entsprechender Anwendung.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 VwGO) liegen nicht vor.

Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 52 Abs. 3, § 47Gerichtskostengesetz - GKG.