LAG Hamm, Urteil vom 16.08.2013 - 13 Sa 274/13
Fundstelle
openJur 2013, 41375
  • Rkr:
Tenor

Auf die Berufung des Klägers - unter Zurückweisung der Anschlussberufung der Beklagten - wird das Urteil des Arbeitsgerichts Hamm vom 09.01.2013 - 3 Ca 1329/12 - teilweise abgeändert und zu den Ziffern 1.-3. insgesamt wie folgt neu gefasst:

Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien begründete Arbeitsverhältnis weder durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 21.06.2012 noch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 22.06.2012 aufgelöst worden ist.

Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger ab sofort bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits als Betonbauer weiterzubeschäftigen.

Die Widerklage wird abgewiesen.

Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit zweier außerordentlicher Kündigungen; der Kläger begehrt seine Weiterbeschäftigung. Die Beklagte verlangt die Rückgewähr gewährter Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.

Der am 25.12.1964 geborene Kläger trat mit Wirkung ab 11.03.1991 in ein Arbeitsverhältnis zur Beklagten, bei der ca. 100 Arbeitnehmer beschäftigt sind. Im Betrieb besteht ein fünfköpfiger Betriebsrat, dem der Kläger angehört; es gibt keine Ersatzmitglieder.

Der Kläger arbeitete zuletzt zu einer Bruttomonatsvergütung in Höhe von 2.324,-- € als Betonbauer in einer Produktionshalle und war mit der geräteunterstützten Herstellung von Betonfertigteilen befasst.

Für den Zeitraum vom 27.06. bis zum 09.07.2011 legte der Kläger der Beklagten zwei jeweils für eine Woche von dem Facharzt für Allgemeinmedizin S1 ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor, datierend vom 27.06. und 05.07.20111 (Bl. 66 d. A.). Zur Erläuterung erteilte der Arzt dem Kläger am 12.03.2013 eine ärztliche Bescheinigung, die auszugsweise wie folgt lautet:

"Der Grund für die Arbeitsunfähigkeit waren Kniegelenks- und Rückenschmerzen. Schweres Heben und Tragen sowie Zwangshaltungen des Rückens bzw. der Kniegelenke, wie sie bei der Arbeit als Betonbauer anfallen, waren somit nicht möglich.

Gleichwohl wurde Herrn A1 keine Bettruhe verordnet. Bewegung an der frischen Luft, auch die Teilnahme an gesellschaftlichen Veranstaltungen wie z.B. Besuch eines Schützenfestes, waren ausdrücklich erlaubt (auch um einer möglichen depressiven Entwicklung vorzubeugen) und nicht genesungswidrig, wobei allerdings Voraussetzung war, dass nicht aktiv über mehrere Stunden mit marschiert wurde."

In der Zeit vom 01. bis zum 03.07.2011 fand in W1, einem Ortsteil von M1, das jährliche Schützenfest statt. Der Kläger gehört dem dortigen Schützenverein an und bekleidet die Funktion eines der beiden Zugführer. Er nahm an allen drei Tagen am Schützenfest teil, wobei zwischen den Parteien streitig ist, in welchem zeitlichen Umfang er dort welche Aktivitäten entfaltet hat. In der Lokalpresse erschien ein Bild, das den Kläger stehend in Uniform zeigt (Bl. 158 d. A.).

Ein knappes Jahr später legte der Kläger für den Zeitraum vom 11. bis zum 22.06.2012 eine weitere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor, und zwar wegen eines Erschöpfungssyndroms mit Konzentrationsstörungen und eingeschränkter psychischer Belastbarkeit. Wegen der arbeitgeberseitigen Vermutung, der Kläger stelle möglicherweise zu Hause seine Gabionen fertig, erkundigte sich die Personalleiterin A2 bei der Finanzbuchhalterin L1 nach der Wohnanschrift des Klägers. Bei dieser Gelegenheit erfuhr sie von der Zeugin L1, dass diese den Kläger knapp ein Jahr zuvor während der Zeit der Arbeitsunfähigkeit gesehen hatte, als er am Schützenfest teilgenommen hatte.

Am 19.06.2012 begaben sich dann die Personalleiterin A2 und der Leiter des Stahlbetonfertigteilwerks, B1, zum Wohnhaus des Klägers. Hinter einer Garage in der Nähe parkend, beobachteten sie, wie der Kläger bei laufender Betonmischmaschine in gebückter Haltung Arbeiten in seinem Garten verrichtete. Nach ca. 10 Minuten stellte er die Maschine ab und begab sich mit einer Flasche Bier unter ein Abdach. Als die beiden Zeugen zum klägerischen Haus kamen, lief dieser zunächst in das Haus, kam dann aber auf Zuruf wieder heraus. Ausweislich der von der Zeugin A2 anschließend erstellten "Darstellung des Sachverhaltes" kam es sodann zu folgendem Wortwechsel:

"Letzte Woche war ich wirklich krank. Da kannst Du meine Frau nach fragen, aber zu jetzt kann ich nichts sagen. Es stimmt. Es ist so wie es ist." Frau A2 erwiderte: "Du weißt ja, dass dies eine fristlose Kündigung nach sich ziehen wird." Darauf antwortete er: "Scheiße, ja."

Wegen des weiteren Inhalts wird verwiesen auf die mit Beklagtenschriftsatz vom 27.08.2012 eingereichte Kopie (Bl. 40 f. d. A.).

Am 20.06.2012 gegen 09.00 Uhr leitete dann die Beklagte beim Betriebsrat das Verfahren zur Erteilung der Zustimmung zu einer außerordentlichen Kündigung ein und übergab diesem den von der Zeugin A2 gefertigten Vermerk. Am Mittag gegen 13.00 Uhr nahmen die Betriebsratsmitglieder E1 und H1 an einem mit dem Kläger geführten Personalgespräch teil (Bl. 43 d. A.).

Am Nachmittag erteilte dann der Betriebsrat, bestehend aus den beiden genannten Betriebsratsmitgliedern, schriftlich die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung (Bl. 44 d. A.). Zu diesem Zeitpunkt waren der Betriebsratsvorsitzende L2 urlaubsabwesend und dessen Stellvertreter M2 arbeitsunfähig erkrankt.

Daraufhin sprach die Beklagte am 21.06.2012, zugegangen am selben Tag, dem Kläger die außerordentliche Kündigung aus (Bl. 11 d. A.).

Da der erkrankte stellvertretende Betriebsratsvorsitzende M2 Bedenken zur Wirksamkeit der erteilten Zustimmung bei der Personalabteilung anmeldete, hörte die Beklagte den Betriebsrat erneut an. Am Nachmittag des 21.06.2012 fand dann bei dem erkrankten stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden M2 zu Hause eine Betriebsratssitzung statt, wobei mit 2 : 1 erneut die Zustimmung erteilt wurde (Bl. 46 d. A.).

Daraufhin sprach die Beklagte dem Kläger am 22.06.2012, zugegangen am Folgetag, erneut eine außerordentliche Kündigung aus (Bl. 12 d. A.).

Der Kläger hat die Meinung vertreten, die streitbefangenen Kündigungen seien unwirksam. Es liege keine ordnungsgemäße Zustimmung des Betriebsrates vor, weil diesem im Rahmen des Zustimmungsverfahrens nicht die Gelegenheit gegeben worden sei, eine ordnungsgemäße Sitzung abzuhalten. Auch sei der Betriebsrat nicht umfassend informiert worden.

Auf einen wichtigen Grund könne sich die Beklagte nicht berufen. So stehe dem Vorfall aus dem Jahre 2011 bereits § 626 Abs. 2 BGB entgegen. Ungeachtet dessen sei die Teilnahme am Schützenfest zulässig gewesen, da sie den Genesungsverlauf nicht beeinträchtigt habe. Er sei nämlich lediglich gehalten gewesen, starke Beanspruchungen seines Rückens zu vermeiden.

Auch die in seinem Garten vorgenommenen Arbeiten hätten sich nicht genesungswidrig ausgewirkt. Aufgrund der Diagnose sei ihm durch seinen Arzt geraten worden, aktiv zu sein und sich insbesondere körperlich zu betätigen. Im Übrigen seien die Arbeiten, die er bei der Beklagten zu verrichten gehabt hätte, körperlich weitaus schwerer gewesen als die durchgeführte Gartentätigkeit.

Der Kläger hat beantragt,

1. festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis weder durch die fristlose Kündigung der Beklagten vom 21.06.2012 noch durch die fristlose Kündigung vom 22.06.2012 sein Ende gefunden hat,

2. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger für den Fall des Obsiegens mit dem Feststellungsantrag zu Ziff. 1 zu den bisherigen Bedingungen als Betonbauer bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Feststellungsantrag weiter zu beschäftigten.

3.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen und widerklagend den Kläger zu verurteilen, an die Beklagte 1.094,34 € brutto sowie 290,22 € netto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, der Kläger habe seine Arbeitsunfähigkeiten vorgetäuscht, um sich Entgeltfortzahlung zu erschleichen. Tatsächlich sei er nicht krank gewesen, wenn er im ersten Fall am Schützenfest habe teilnehmen und im zweiten Fall schwere Gartenarbeiten (Pflaster-/Bordsteine verlegen) habe durchführen können. Zum anderen habe die Teilnahme am Schützenfest den Genesungsprozess beeinträchtigt. Schließlich habe er sich danach erneut in ärztliche Behandlung begeben müssen.

Auch von dem ersten Vorfall habe sie erstmals am 19.06.2012 erfahren.

Der Betriebsrat sei ordnungsgemäß beteiligt worden. Am 20.06.2012 sei unter Überreichung des Vermerks der Zeugin A2 das Beteiligungsverfahren eingeleitet worden. Mittags sei der Sachverhalt dann nochmals mit der Geschäftsführung und dem Kläger in Anwesenheit des Betriebsrats erörtert worden. Da wegen des erkrankten stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden M2 Unsicherheit über die Wirksamkeit der zunächst erteilten Zustimmung bestanden habe, sei das Zustimmungsverfahren vorsorglich erneut eingeleitet und nach erteilter Zustimmung eine weitere Kündigung ausgesprochen worden. Über das Zustandekommen der Betriebsratsentscheidung sei ihr, der Beklagten, nichts bekannt. Veranlassung zur Nachfrage habe nicht bestanden.

Da der Kläger die Arbeitsunfähigkeit für den Zeitraum vom 27.06. bis 08.07.2011 nur vorgetäuscht habe, sei er verpflichtet, die gewährte Entgeltfortzahlung zurückzuzahlen.

Der Kläger hat beantragt,

die Widerklage abzuweisen

Das Arbeitsgericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen L1, A2 und B1. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird verwiesen auf die Sitzungsniederschrift vom 09.01.2013 (Bl. 89 ff. d. A.).

Das Arbeitsgericht hat mit Urteil vom 09.01.2013 die Klage und auch die Widerklage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass die außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses gerechtfertigt sei, weil der Kläger durch seine über drei Tage sich erstreckende aktive Teilnahme als Zugführer am Schützenfest Anfang Juli 2011 den Heilungserfolg durch gesundheitswidriges Verhalten gefährdet habe. Dabei sei als bekannt vorauszusetzen, dass zu den üblichen Abläufen bei einem Schützenfest das Marschieren und das lange Stehen gehörten. Dabei bestehe auch keine Möglichkeit, den Rücken zu entlasten und sich hinzulegen. So habe der Kläger sich nicht so verhalten, wie es für die Genesung eines kranken Rückens erforderlich gewesen sei. Bezeichnenderweise sei es deshalb danach auch zur Attestierung einer fortdauernden Arbeitsunfähigkeit gekommen.

Die Beweisaufnahme habe auch ergeben, dass die Beklagte im Rahmen des § 626 Abs. 2 Satz 1, Satz 2 BGB erst am 19.06.2012 von dem Sachverhalt erfahren habe.

Ein Anspruch auf Rückzahlung gewährter Entgeltfortzahlung bestehe aber nicht, weil die Beklagte nicht dargelegt habe, dass der Kläger die Arbeitsunfähigkeit nur vorgetäuscht habe.

Gegen diese Entscheidung wendet sich der Kläger mit der Berufung und die Beklagte mit der Anschlussberufung.

Der Kläger ist der Ansicht, sich anlässlich des Schützenfestes im Jahre 2011 nicht genesungswidrig verhalten zu haben. Er gesteht zwar zu, von der Funktion her Zugführer im Schützenverein zu sein. Er bestreitet aber, im Jahre 2011 auch als solcher aktiv - marschierend - teilgenommen zu haben, wobei die Strecke des Schützenumzuges auch nur einen Weg von ca. 500 m umfasse. Er habe das Schützenfest nur sporadisch aufgesucht und dabei in der Festhalle auch sitzen können. An Abendveranstaltungen habe er nicht teilgenommen. Das eingereichte Foto gebe lediglich wieder, dass er an einer Ehrung teilgenommen habe; darin liege kein genesungswidriges Verhalten.

Im Übrigen liege auch keine ordnungsgemäße Beteiligung des Betriebsrates vor. So sei dieser beispielsweise zu einer vorgetäuschten Arbeitsunfähigkeit, nicht aber zu einem genesungswidrigen Verhalten gehört worden.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Hamm vom 09.01.2013 - 3 Ca 1329/12 - abzuändern und

1. festzustellen, dass das zwischen den Parteien begründete Arbeitsverhältnis weder durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 21.06.2012 noch durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 22.06.2012 aufgelöst worden ist,

2. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger für den Fall des Obsiegens mit dem Feststellungsantrag zu 1. unter den bisherigen Bedingungen als Betonbauer bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Feststellungsantrag weiterzubeschäftigen.

Die Beklagte beantragt,

a) die Berufung zurückzuweisen,

b) im Wege der Anschlussberufung das Urteil des Ar-

beitsgerichts Hamm vom 09.01.2013 - 3 Ca1329/12 -

teilweise abzuändern und widerklagend den Kläger

zu verurteilen, an die Beklagte 1.094,34 € brutto zu

zahlen.

Sie behauptet, der Betriebsrat sei über alle Tatsachen umfassend informiert worden. Zu Recht seien die außerordentlichen Kündigungen wegen eines genesungswidrigen Verhaltens des Klägers ausgesprochen worden. Dieser habe nämlich als Zugführer über drei Tage aktiv am Schützenfest teilgenommen und dadurch den Genesungsprozess beeinträchtigt, zumal Lärm, Alkohol, Tabakqualm, Tanz und Gespräche sich auch auf das allgemeine Wohlbefinden belastend ausgewirkt hätten.

Der Kläger beantragt,

die Anschlussberufung zurückzuweisen.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst deren Anlagen ergänzend Bezug genommen.

Gründe

Die zulässige Berufung des Klägers ist in vollem Umfang begründet, während die Anschlussberufung der Beklagten zurückzuweisen war.

I. Was die außerordentlichen Kündigungen vom 21. und 22.06.2012 angeht, kann letztlich unentschieden bleiben, ob die Beklagte in ausreichendem Umfang Tatsachen vorgetragen hat, aus denen geschlossen werden kann, dass dem Betriebsrat im Rahmen des § 102 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 BetrVG und § 103 Abs. 1 BetrVG die Kündigungssachverhalte hinreichend mitgeteilt worden sind.

Im Übrigen spricht alles dafür, dass die Beklagte bei dem gegebenen Sachverhalt nicht darauf vertrauen durfte, die Zustimmungsbeschlüsse des Betriebsrates seien wirksam ergangen (vgl. z.B. BAG, 23.08.1994 - 2 AZR 391/83 - AP BetrVG 1972 § 103 Nr. 17). So war ihr am 20.06.2012 die Verhinderung des Betriebsratsvorsitzenden L2, seines Stellvertreters M2 und aus Rechtsgründen auch des Klägers bekannt, so dass der fünfköpfige Betriebsrat mit nur zwei Betriebsratsmitgliedern gemäß § 33 Abs. 2 BetrVG gar nicht beschlussfähig war. Wenn daraufhin die Personalabteilung vom erkrankten stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden M2 informiert wurde, hätte sie bei Einleitung des weiteren Beteiligungsverfahrens gemäß § 26 Abs. 2 Satz 2 BetrVG zwingend den in der konkreten Situation allein zur Entgegennahme von Erklärungen berufenen stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden M2 informieren müssen.

II. In jedem Fall scheitert die Wirksamkeit der beiden außerordentlichen Kündigungen aber daran, dass die Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG i.V.m. § 626 Abs. 1 BGB in der Person des Klägers nicht erfüllt sind, selbst wenn man zugunsten der Beklagten trotz nicht immer klarer schriftsätzlicher Ausführungen davon ausgeht, dass sie sich sowohl auf das Vortäuschen einer in Wirklichkeit nicht bestehenden Arbeitsunfähigkeit als auch auf ein genesungswidriges Verhalten berufen will.

Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG ist eine Kündigung des Klägers als Mitglied des im Betrieb bestehenden Betriebsrates nur möglich, wenn Tatsachen gegeben sind, die den Arbeitgeber zur Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist berechtigen. Dies bedingt wiederum, dass die Voraussetzungen des § 626 Abs. 1 BGB erfüllt sind. Danach müssen Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der (fiktiven) Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann.

1. In dem Zusammenhang entspricht es allgemeiner Meinung (z.B. BAG, 26.08.1993 - 2 AZR 154/93 - AP BGB § 626 Nr. 112; LAG Hamm, 13.12.2006 - 10 TaBV 72/06; Hess. LAG, 01.04.2009 - 6 Sa 1593/08; ErfK/Müller-Glöge, 13. Aufl., § 626 BGB Rn. 156; KR/Fischermeier, 10. Aufl., § 626 BGB Rn. 428), dass das Vortäuschen einer in Wirklichkeit nicht bestehenden Arbeitsunfähigkeit im Einzelfall geeignet ist, eine fristlose Kündigung zu rechtfertigen; denn der betroffene Arbeitnehmer begeht dadurch eine schwere Vertragsverletzung und zugleich auch einen vollendeten Betrug, soweit er den Arbeitgeber veranlasst haben sollte, unberechtigterweise Entgeltfortzahlung zu leisten.

Diese Voraussetzungen sind hier, auch wenn man den gesamten Vortrag der Beklagten, soweit er dem Betriebsrat mitgeteilt worden ist, verwertet und als richtig unterstellt, zu verneinen.

So hat die Beklagte weder gegenüber dem Betriebsrat noch im laufenden Prozess dargelegt, dass der Kläger während der ihm in den Jahren 2011 und 2012 attestierten Arbeitsunfähigkeitszeiten tatsächlich nicht arbeitsunfähig erkrankt war, konnte den Beweiswert also nicht erschüttern.

In der Regel ist der Beweis für eine Arbeitsunfähigkeit erbracht, wenn der Arbeitnehmer eine entsprechende ärztliche Bescheinigung vorlegt, wie es hier der Kläger gemacht hat. Es wäre nun an der Beklagten gewesen, nähere Umstände darzulegen und notfalls zu beweisen, die zu einer Erschütterung des Beweiswerts hätten führen können. Dem ist sie nicht gerecht geworden.

a) Was die Teilnahme des Klägers am W1er Schützenfest in der Zeit vom 01. bis zum 03.07.2011 angeht, lag der Beklagten bei Einleitung des Zustimmungserteilungsverfahrens am 20.06.2012 "nur" die Aussage der Zeugin L1 vor, sie habe den Kläger auf dem Schützenfest angetroffen. Es fehlten jegliche Informationen dazu, wann genau der Kläger in welchem Umfang an dem Schützenfest teilgenommen hat, welche Aktivitäten er dabei namentlich als Zugführer entfaltet hat, ob er marschiert ist und, wenn ja, in welchem Umfang über welche Wegstrecke. Alle diese Angaben hätten schon dem Betriebsrat gegenüber gemacht werden müssen, statt sich auch im Kündigungsschutzprozess über zwei Instanzen auf bloße Vermutungen zu stützen, zumal der Kläger im Berufungsbegründungsschriftsatz vom 02.04.2013 dezidiert eine kontinuierliche Teilnahme und ein Marschieren in Abrede gestellt hat. Hinzu kommt, dass ausweislich einer ärztlichen Bescheinigung des Facharztes für Allgemeinmedizin S1 vom 12.03.2013 dem Kläger namentlich der Besuch eines Schützenfestes erlaubt war, solange er nicht aktiv "über mehrere Stunden" marschiert ist. Selbst wenn der Kläger sich in dieser Situation anlässlich einer Ehrung stehend in Schützenuniform mit abbilden ließ, stellt dieses Verhalten die attestierte Arbeitsunfähigkeit wegen Kniegelenks- und Rückenschmerzen nicht ernsthaft in Frage.

b) Was das Geschehen am Vormittag des 19.06.2012 angeht, geben die von der Beklagten festgestellten Tatsachen ebenfalls keinen Anlass, um die vom 11. bis 22.06.2012 attestierte Arbeitsunfähigkeit in Frage zu stellen. Nach den Angaben der arbeitgeberseits genannten Zeugen A2 und B1 haben diese über einen Zeitraum von ca. 10 Minuten beobachtet, dass am Haus des Klägers eine Betonmischmaschine lief und dieser in gebückter Haltung Arbeiten verrichtete. Wenn der Kläger nun unter Einreichung mehrerer Beweisfotos dazu nachvollziehbar erklärt hat, er habe nach Errichtung des Gabionenzaunes nur zwei restliche Rasenkantensteine gesetzt, konnte diese Tätigkeit den Beweiswert der erteilten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht erschüttern. Denn wenn ein Arbeitnehmer, der für die Beklagte als Betonbauer auch im Sommer durchgehend in einer Produktionshalle arbeiten musste, über eine kurze Zeit die geschilderten Arbeiten im Freien verrichtet, stellt diese Aktivität das attestierte Erschöpfungssyndrom mit Konzentrationsstörungen und eingeschränkter psychischer Belastbarkeit nicht ernsthaft in Frage.

2. Allerdings kann in schwerwiegenden Fällen eine außerordentliche Kündigung auch dann gerechtfertigt sein, wenn der Arbeitnehmer bei bescheinigter Arbeitsunfähigkeit den Heilungserfolg durch ein grob genesungswidriges Verhalten gefährdet (BAG, 26.08.1993 - 2 AZR 154/93 - AP BGB § 626 Nr. 112; 02.03.2006 - 2 AZR 53/05 - AP BGB § 626 Krankheit Nr. 14; LAG Hamm, 13.12.2006 - 10 TaBV 72/06; LAG Köln, 09.10.1998 - 11 Sa 400/98 - NZA-RR 1999, 188; KR/Fischermeier, a.a.O., § 626 BGB Rn. 429). Davon ist z.B. auszugehen, wenn ein arbeitsunfähig erkrankter Arbeitnehmer während dieser Zeit schichtweise einer Vollbeschäftigung nachgeht (vgl. BAG, 26.08.1993 - 2 AZR 154/93 - AP BGB § 626 Nr. 112).

Vergleichbare Voraussetzungen sind hier ersichtlich nicht gegeben. Unter Verweis auf die vorangegangenen Ausführungen unter II. 1. der Entscheidungsgründe kann schon nicht davon ausgegangen werden, dass die Teilnahme am Schützenfest im Jahre 2011 und die Arbeiten am 19.06.20912 dem jeweiligen weiteren Heilungsprozess nicht förderlich gewesen sind. Davon abgesehen reichen die Geschehnisse angesichts ihrer geringen Quantität und Qualität nicht aus, um ohne vorangegangene Abmahnung die einschneidenste arbeitsrechtliche Sanktion der fristlosen Kündigung eines über 21 Jahre bestehenden Arbeitsverhältnisses zu rechtfertigen.

III. Der Anspruch des Klägers gegenüber der Beklagten auf Fortbeschäftigung zu unveränderten Arbeitsbedingungen ergibt sich aus den §§ 611, 613, 242 BGB i.V.m. Artikel 1, 2 Abs. 1 GG.

Nach der zutreffenden Rechtsprechung des Großen Senats des BAG (AP BGB § 611 Beschäftigungspflicht Nr. 14) kann der gekündigte Arbeitnehmer die arbeitsvertragsgemäße Beschäftigung über den Zeitpunkt des Zugangs der streitbefangenen Kündigung hinaus verlangen, wenn diese unwirksam ist und überwiegende schutzwerte Interessen des Arbeitgebers nicht entgegenstehen.

In Fällen wie hier überwiegt in aller Regel das Beschäftigungsinteresse des Arbeitnehmers. In einer solchen Situation ist es die Aufgabe des Arbeitgebers, zusätzliche Umstände darzulegen, aus denen sich im Einzelfall ein fortdauerndes vorrangiges Interesse ergibt, den Arbeitnehmer trotzdem nicht zu beschäftigen (BAG, a.a.O.).

Solche besonderen Umstände sind vorliegend von der Beklagten nicht dargelegt worden.

IV. Die Anschlussberufung der Beklagten mit dem widerklagend geltend gemachten Anspruch, den Kläger zur Rückgewähr der für den Zeitraum ab 27.06.2011 gewährten Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall in Höhe von 1.094,34 € brutto zu verurteilen, war zurückzuweisen. Denn wie unter II. 1. a) der Entscheidungsgründe bereits ausgeführt, war der Kläger entsprechend der erteilten ärztlichen Bescheinigung im Zeitraum bis 08.07.2011 tatsächlich arbeitsunfähig und hat deshalb von der Beklagten zu Recht gemäß § 611 Abs. 1 BGB i.V.m. § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG Entgeltfortzahlung erhalten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht gegeben.

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