Bayerischer VGH, Beschluss vom 10.10.2013 - 10 ZB 11.607
Fundstelle
openJur 2013, 41232
  • Rkr:

Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts;ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils;hinreichend schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung; Gefahrenprognose; Verhältnismäßigkeit; Ermessensausübung; Umdeutung der Verlustfeststellung; grundsätzliche Bedeutung; besondere rechtliche und tatsächliche Schwierigkeiten

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

II. Der Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Der zulässige Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Zulassungsgründe liegen nicht vor. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), mit dem das Verwaltungsgericht den Bescheid des Beklagten aufgehoben hat, der feststellt, dass der Kläger sein Recht auf Freizügigkeit verloren hat, bestehen nicht (I.). Die Rechtssache hat auch weder grundsätzliche Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO; II.), noch weist sie besondere rechtliche oder tatsächliche Schwierigkeiten auf (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO; III.).

I. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils, die die Zulassung der Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO rechtfertigen könnten, lägen nur vor, wenn der Beklagten einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt hätte (vgl. BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11). Dies ist jedoch nicht der Fall.

1. Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU kann der Verlust des Rechts eines Unionsbürgers auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU aus Gründen der öffentlichen Ordnung festgestellt werden. Gemäß § 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU genügt die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung für sich allein nicht, um die Verlustfeststellung zu begründen. Es dürfen nach § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU nur im Bundeszentralregister nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Es muss gemäß § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gemeinschaft berührt. Bei der Entscheidung über die Verlustfeststellung sind nach § 6 Abs. 3 FreizügG/EU darüber hinaus insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen. Maßgeblicher Zeitpunkt der Sach- und Rechtslage ist dabei der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder der Entscheidung des Tatsachengerichts (vgl. BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30.02 – juris Rn. 28).

Das Verwaltungsgericht ist auf dieser Grundlage zu dem Ergebnis gelangt, dass die vom Kläger im Zustand der Schuldunfähigkeit begangenen und bei Fortbestehen seiner paranoiden Schizophrenie zu befürchtenden Straftaten nicht so schwer wiegen, dass unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eine Verlustfeststellung gerechtfertigt ist. Darüber hinaus hält es die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Freizügigkeit für ermessensfehlerhaft, weil der Beklagte bei seiner Ermessensentscheidung nur die Dauer des gewöhnlichen Aufenthalts des Klägers im Bundesgebiet seit 2005, entgegen den Vorgaben des § 6 Abs. 3 FreizügG/EU aber hinsichtlich seiner sozialen und wirtschaftlichen Integration nicht berücksichtigt habe, dass der Kläger bereits seit 1992 als Grenzgänger bei einer deutschen Firma im Bundesgebiet gearbeitet habe. Auch habe der Beklagte die Umstände der vom Kläger begangenen Straftaten nicht hinreichend einzelfallbezogen gewürdigt. Im Übrigen sei der angegriffene Bescheid jedenfalls deshalb aufzuheben, weil die Voraussetzungen für eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 bis 3 FreizügG/EU nicht mehr vorlägen. Den vorliegenden fachärztlichen Stellungnahmen lasse sich eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung nicht mehr entnehmen, die so erheblich sei, dass sie unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes die Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts rechtfertigen könne.

Diese das angefochtene Urteil tragenden Erwägungen hat der Beklagte aber nicht mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt.

a) Soweit der Beklagte einwendet, es handele sich bei den vom Kläger begangenen Straftaten um mittelschwere Kriminalität, so dass eine hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung vorliege, die ein Grundinteresse der Gemeinschaft berühre, kann dies ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils nicht begründen. Denn das Verwaltungsgericht hat seine Entscheidung nicht darauf gestützt, dass die vom Kläger begangenen Taten keine hinreichend schwere Gefährdung im Sinne von § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU darstellten und deshalb bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Verlustfeststellung nicht gegeben seien. Es ist vielmehr im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu dem Ergebnis gelangt, dass eine solche Verlustfeststellung unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls unverhältnismäßig wäre. Im Übrigen hat es dabei seiner Prüfung zugrunde gelegt, dass es sich allenfalls um mittelschwere Kriminalität und damit jedenfalls nicht um schwere Kriminalität handeln könne. Dass die im Strafverfahren als erwiesen angesehenen Straftaten der Nötigung, der Bedrohung und der Körperverletzung dem Bereich der Schwerkriminalität zuzuordnen wären, macht auch der Beklagte nicht geltend.

Die Einordnung der Straftaten des Klägers als allenfalls mittelschwere Kriminalität ist auch nicht durch eine schlüssige Gegenargumentation in Frage gestellt, soweit der Beklagte geltend macht, das Verwaltungsgericht habe das Ausmaß der schweren Gefährdung völlig außer Acht gelassen, der die vom Kläger verfolgte Frau und unbeteiligte Dritte durch dessen Überholmanöver auf einer unübersichtlichen und kurvenreichen Strecke ausgesetzt gewesen seien. Denn dass eine solche Gefährdung stattgefunden hätte, entspricht nicht den Feststellungen im Strafverfahren, die sich darauf beschränken, dass der Kläger die betreffende Frau dreimal überholt habe und jeweils nach Abschluss des Überholvorgangs von etwa 80 km/h auf etwa 40 km/h herunterbremste, um sie ebenfalls zum Abbremsen zu zwingen. Dementsprechend wertete das Strafgericht das Verhalten des Klägers auch nicht als Gefährdung des Straßenverkehrs, sondern als Nötigung.

b) Soweit der Beklagte sich dagegen wendet, dass das Verwaltungsgericht eine vom Verhalten des Klägers ausgehende Gefährdung verneint, die erheblich genug ist, um eine Verlustfeststellung im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit rechtfertigen zu können, begründet sein Vorbringen ebenfalls keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils.

aa) Dies gilt zunächst, soweit der Beklagte meint, ebenso wie im Falle der Unterbringung eines Ausländers in einer psychiatrischen Anstalt nach § 63 StGB schwerwiegende Gründe für die Annahme sprächen, dass ein Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit im Sinne von § 25 Abs. 3 Satz 2 Buchstabe d AufenthG darstelle (vgl. BayVGH, B.v. vom 10.12.2007 – 24 C 07.1389 – juris Rn. 11), sei aufgrund der Unterbringung des Klägers nach § 63 StGB von einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung auszugehen. Denn auf die Unterbringung des Klägers in einem psychiatrischen Krankenhaus als solche kann eine hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung schon deshalb nicht mehr gestützt werden, weil sie inzwischen aufgrund eines Beschlusses des Landgerichts Bayreuth vom 28. August 2012 seit 20. September 2012 zur Bewährung ausgesetzt worden ist.

bb) Auch das Vorbringen des Beklagten zur Rechtsfehlerhaftigkeit der Auffassung des Verwaltungsgerichts, die Verlustfeststellung sei rechtswidrig, weil zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung die Voraussetzungen des § 6 FreizügG/EU mangels Wiederholungsgefahr nicht mehr erfüllt seien, begründet keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils.

aaa) Soweit der Beklagte die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts für unzutreffend hält, weil sich aus den vorliegenden psychiatrischen Gutachten, insbesondere dem vom Beklagten im Zulassungsverfahren vorgelegten aktuellsten Gutachten vom 25. Februar 2011 lediglich eine Verringerung der Wiederholungsgefahr, nicht aber deren Wegfall ergebe, stellt dies keine für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts erheblichen Tatsachenfeststellungen mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage. Denn das Verwaltungsgericht stellt tragend darauf ab, dass der Grad der Wahrscheinlichkeit einer Wiederholungstat nach den letzten ihm vorliegenden psychiatrischen Gutachten nicht mehr als hoch einzuschätzen sei, ein völliger Ausschluss der Wiederholungsgefahr nicht erforderlich sei und eine Gefahr, die so erheblich sei, dass sie unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Freizügigkeit des Klägers rechtfertigen könne, nicht mehr bestehe. Danach geht auch das Verwaltungsgericht in den seine Entscheidung tragenden Erwägungen nicht davon aus, dass die Wiederholungsgefahr gänzlich entfallen sei, sondern nimmt wie der Beklagte an, dass sich die Gefahr weiterer Straftaten des Klägers lediglich verringert habe. Angesichts der verminderten Wiederholungsgefahr hält es aber die Verlustfeststellung für unverhältnismäßig.

bbb) Dies ist auch nach der nunmehr maßgeblichen Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs rechtlich nicht zu beanstanden.

Abgesehen davon, dass derzeit schon nicht ersichtlich ist, dass ein persönliches Verhalten des Klägers vorläge, das eine gegenwärtige, tatsächliche und schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellen könnte, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, wie dies nach § 6 Abs. 2 Satz 2 und 3 FreizügG/EU für die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Freizügigkeit nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU erforderlich ist, ist die Verlustfeststellung jedenfalls unverhältnismäßig.

Die Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger erneut Straftaten begehen wird, ist derzeit so gering, dass von einer schwerwiegenden Gefährdung der öffentlichen Ordnung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, ebenso wenig ausgegangen werden kann wie von der Verhältnismäßigkeit einer Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts des Klägers. Zwar ergibt sich dies, worauf der Beklagte zu Recht hinweist, nicht allein daraus, dass die Unterbringung des Klägers zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Denn die Verwaltungsgerichte sind an die Feststellungen der Strafgerichte in Bewährungsentscheidungen nicht gebunden, sondern haben eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18 ff.). Die Entscheidungen der Strafgerichte sind für diese Prognose aber von entscheidendem Gewicht und stellen ein wesentliches Indiz dar (vgl. BVerwG, a.a.O. Rn. 18), das von den Verwaltungsgerichten zu berücksichtigen ist.

Wie sich aus dem Beschluss des zuständigen Landgerichts vom 28. August 2012, durch den die Unterbringung des Klägers zur Bewährung ausgesetzt worden ist, und der ihm zugrunde liegenden Stellungnahme des Bezirkskrankenhauses ergibt, ist der psychische Zustand des Klägers stabil. Der Kläger lebt seit seiner Entlassung aus der Unterbringung in einer forensisch-psychiatrischen Wohngemeinschaft und hat eine Arbeitsmöglichkeit in einer Werkstätte für behinderte Menschen. Für die Dauer der fünfjährigen Bewährungszeit ist Führungsaufsicht angeordnet. Der Kläger ist einem Bewährungshelfer unterstellt. Außerdem ist er nach den Bewährungsauflagen verpflichtet, in der genannten Wohngemeinschaft zu wohnen, muss sich an die Anweisungen der ihn betreuenden Mitarbeiter halten und darf keinen Anlass zur vorzeitigen Beendigung des Mietverhältnisses geben. Er muss sich weiter ambulant im Bezirkskrankenhaus behandeln lassen und hat sich an die Terminvorgaben der dortigen Mitarbeiter zu halten. Der Genuss von Alkohol, Drogen und nicht ärztlich verordneten Medikamenten ist ihm verboten. Zur Kontrolle hat er sich regelmäßigen Atemalkoholkontrollen, Urinproben und Blutentnahmen zu unterziehen. Jeglicher Besuch von Spielotheken ist ihm verboten. Der Kläger hat sich mit all diesen Vorgaben, die sicherstellen, dass sein psychischer Zustand stabil bleibt und eine Verschlechterung gegebenenfalls rechtzeitig erkannt werden und behandelt werden kann, einverstanden erklärt. Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger sich an die von ihm akzeptierten Auflagen nicht halten wird. Das vom Beklagten vorgelegte psychiatrische Gutachten vom 25. Februar 2011 bescheinigt dem Kläger vielmehr eine gute Absprachefähigkeit sowie die Bereitschaft, kontinuierlich ärztliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Außerdem bestätigt das Gutachten, dass der Kläger mit den ihm gewährten probeweisen Vollzugslockerungen verantwortlich umgegangen ist und Hilfs- und Unterstützungsangebote in Belastungssituationen adäquat nutzt. Betont wird auch, dass der Kläger für die Zeit nach seiner Entlassung aus der Unterbringung im Bezirkskrankenhaus eine tragfähige Zukunftsperspektive entworfen hat, die den krankheitsbedingten Einschränkungen und Erfordernissen gerecht wird, und dass die Fortführung einer beruflichen Tätigkeit, die auf diese Einschränkungen abgestimmt ist, im Hinblick darauf, dass die Ausübung eines Berufs für den Kläger eine wichtige Quelle seines Selbstwertgefühls bildet, einen wichtigen protektiven Faktor für die Verhinderung neuer Straftaten darstellen kann.

Berücksichtigt man dies, so ist aber angesichts der Beschäftigung des Klägers in den Werkstätten für behinderte Menschen und der umfangreichen Bewährungsauflagen nicht ersichtlich, dass vom persönlichen Verhalten des Klägers gegenwärtig tatsächlich eine schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung ausginge, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, wie dies nach § 6 Abs. 2 Satz 2 und 3 FreizügG/EU für die Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU Voraussetzung wäre. Jedenfalls ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass vom Kläger eine derartige Gefährdung ausgeht, aber so gering, dass die mit der Verlustfeststellung verbundene Beeinträchtigung seiner Freizügigkeit als Unionsbürger nach Art. 21 Abs. 1 AEUV sich als unverhältnismäßig erweist.

c) Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils bestehen darüber hinaus auch nicht, soweit das Verwaltungsgericht die Feststellung des Verlust des Freizügigkeitsrechts des Klägers als ermessensfehlerhaft angesehen hat, weil der Beklagte bei seiner Ermessensentscheidung nur die Dauer des gewöhnlichen Aufenthalts des Klägers im Bundesgebiet seit 2005, darüber hinaus aber nicht berücksichtigt habe, dass der Kläger bereits seit 1992 als Grenzgänger bei einer deutschen Firma im Bundesgebiet gearbeitet habe.

Der Beklagte bringt dagegen lediglich vor, er habe zu Recht nach § 6 Abs. 3 FreizügG/EU als Dauer des Aufenthalts nur die Zeit ab 1. Februar 2005 berücksichtigt, weil die Regelung sich auf den gewöhnlichen Aufenthalt beziehe und der Kläger bis 31. Januar 2005 seinen Wohnsitz und damit seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht in der Bundesrepublik, sondern in Tschechien gehabt habe. Dies begründet aber keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils. Denn das Verwaltungsgericht hält die Berücksichtigung des Umstands, dass der Kläger bereits seit 1992 als Grenzgänger in Deutschland gearbeitet hat, im Rahmen der Ermessensausübung nicht deshalb für erforderlich, weil damit bereits 1992 ein gewöhnlicher Aufenthalt des Klägers in Deutschland begründet gewesen wäre. Vielmehr ist dieser Umstand nach Auffassung des Verwaltungsgerichts nach § 6 Abs. 3 FreizügG/EU im Hinblick auf die soziale und wirtschaftliche Integration des Klägers bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen. Mit dieser die Entscheidung tragenden Argumentation des Verwaltungsgerichts setzt sich der Beklagte aber nicht auseinander und stellt sie deshalb auch nicht mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage.

2. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils bestehen schließlich auch nicht, soweit das Verwaltungsgericht die Möglichkeit der Umdeutung der auf § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU gestützten Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts des Klägers in eine Verlustfeststellung wegen eines Wegfalls des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nach § 5 Abs. 5 FreizügG/EU (jetzt § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU) verneint hat.

Der Beklagte macht insoweit geltend, eine Umdeutung nach Art. 47 Abs. 1 BayVwVfG komme deshalb in Betracht, weil die Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 5 FreizügG/EU in der weiter reichenden Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU enthalten und damit auf das gleiche Ziel gerichtet sei. Er wendet sich damit allein gegen die Argumentation des Verwaltungsgerichts, die Zielrichtung der jeweiligen Maßnahmen sei völlig unterschiedlich. Das Verwaltungsgericht hat das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Umdeutung aber auch mit der weiteren Begründung verneint, die Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 5 FreizügG/EU habe in einem gesonderten Verfahren zu erfolgen und erfordere eine auf den ihr zugrunde liegenden Anlass des Wegfalls des Freizügigkeitsrechts bezogene Ermessensausübung. Auf diese die angefochtene Entscheidung tragende Argumentation des Verwaltungsgerichts ist der Beklagte aber nicht eingegangen. Er hat sie deshalb auch nicht mit schlüssigen Gegenargumenten in Zweifel gezogen.

II. Die Berufung ist darüber hinaus nicht nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen. Denn unabhängig davon, ob die vom Beklagten als klärungsbedürftig aufgeworfenen Rechtsfragen, ob im Fall der Unterbringung gemäß § 63 StGB eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung im Sinne von § 6 Abs. 2 FreizügG/EU angenommen werden könne, ob bei der Beurteilung der konkreten Gefährdung der öffentlichen Sicherheit darauf abzustellen sei, ob die vom Kläger begangenen Straftaten auch ohne die tatauslösende Wirkung der Krankheit eine Verlustfeststellung gerechtfertigt hätten, und ob zur Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 2 FreizügG/EU die Begehung schwererer Delikte zu erwarten sein müsse, grundsätzliche Bedeutung haben, kann darauf eine Zulassung der Berufung nicht gestützt werden.

Die genannten Fragen betreffen sämtlich die Voraussetzungen, unter denen die für die Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU erforderliche Gefährdung der öffentlichen Ordnung angenommen werden kann. Das Verwaltungsgericht hat sein Urteil aber nicht allein darauf gestützt, dass eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung, die auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eine Verlustfeststellung rechtfertigen könne, nicht vorliege. Es hat vielmehr, wie ausgeführt, seine Entscheidung tragend auch damit begründet, dass die Verlustfeststellung ermessensfehlerhaft sei, weil entgegen § 6 Abs. 3 FreizügG/EU bei der Ermessensausübung nicht berücksichtigt worden sei, dass der Kläger bereits seit 1992 als Grenzgänger im Bundesgebiet gearbeitet habe. Ist jedoch die angefochtene Entscheidung auf mehrere selbständig tragende Gründe gestützt, so kommt eine Zulassung der Berufung nur dann in Betracht, wenn Zulassungsgründe wegen eines jeden die Entscheidung tragenden Grundes dargelegt werden und vorliegen (vgl. zuletzt BayVGH, B.v. 9.10.2013 – 10 ZB 13.1725). Dies ist hier aber deshalb nicht der Fall, weil hinsichtlich der Annahme des Verwaltungsgerichts, die Verlustfeststellung sei ermessensfehlerhaft, lediglich der Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO geltend gemacht worden ist, solche Zweifel jedoch, wie dargelegt, nicht bestehen.

III. Aus diesem Grund kommt auch eine Zulassung der Berufung wegen besonderer rechtlicher und tatsächlicher Schwierigkeiten nach § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nicht in Betracht. Denn die vom Beklagten geltend gemachten tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten betreffen ebenfalls ausschließlich die Frage einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch den Kläger. Denn sie werden mit den zahlreichen Einzeltatsachen, die in diesem Zusammenhang zu bewerten und im Rahmen einer Gesamtschau zu berücksichtigen sind, und der Ungeklärtheit der Fragen begründet, im Hinblick auf die der Beklagte von der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache ausgeht.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).