BGH, Beschluss vom 19.06.2007 - KRB 12/07
Fundstelle
openJur 2013, 38169
  • Rkr:
Tenor

1. Auf die Rechtsbeschwerden der Nebenbetroffenen und der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des 1. Kartellsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 27. März 2006 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen nach § 79 Abs. 5 OWiG aufgehoben, soweit es sich gegen die Nebenbetroffenen richtet.

2. Die weitergehenden Rechtsbeschwerden der Nebenbetroffenen werden nach § 79 Abs. 3 OWiG i.V. mit § 349 Abs. 2 StPO verworfen.

3. Die Rechtsbeschwerden der Betroffenen zu 1, 4, 6, 8, 9 und 10 gegen das vorgenannte Urteil werden nach § 79 Abs. 3 OWiG i.V. mit § 349 Abs. 2 StPO verworfen. Die Betroffenen tragen die Kosten ihrer Rechtsmittel.

4. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die verbliebenen Kosten der Rechtsmittel, an einen anderen Kartellsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf zurückverwiesen.

Gründe

Das Oberlandesgericht hat die Betroffenen zu 2 bis 10 wegen vorsätzlichen Zuwiderhandelns gegen das Verbot des § 1 GWB, den Betroffenen zu 1 wegen vorsätzlicher Verletzung seiner Aufsichtspflicht schuldig gesprochen. Gegen die Betroffenen hat es Geldbußen zwischen 250.000 Euro (Betroffener zu 1) und 6.000 Euro festgesetzt. Gegen die beiden Nebenbetroffenen, die Unternehmen, für welche die Betroffenen tätig wurden, hat das Oberlandesgericht im Fall der Nebenbetroffenen zu 1 eine aus den Einzelgeldbußen addierte Gesamtgeldbuße in Höhe von 5,65 Mio. Euro und gegen die Nebenbetroffene zu 2 eine solche in Höhe von 430.000 Euro verhängt. Das Urteil fechten die Betroffenen zu 1, 4, 6, 8, 9 und 10 sowie die beiden Nebenbetroffenen mit ihren Rechtsbeschwerden an. Die Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht greift mit ihren zu Ungunsten der beiden Nebenbetroffenen eingelegten Rechtsbeschwerden, die vom Generalbundesanwalt vertreten werden, lediglich den Rechtsfolgenausspruch an. Die Rechtsbeschwerden der Betroffenen sind aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet im Sinne des § 79 Abs. 3 OWiG i.V. mit § 349 Abs. 2 StPO. Während die Rechtsbeschwerden der Nebenbetroffenen zum Schuldspruch erfolglos bleiben, führen sie ebenso wie die Rechtsbeschwerden der Staatsanwaltschaft im Rechtsfolgenausspruch bei den Nebenbetroffenen zu einer Aufhebung der angefochtenen Entscheidung.

I.

Die Betroffenen waren in ein flächendeckendes Kartell im Papiergroßhandel eingebunden, das Mindestpreisabsprachen getroffen hat. Es umfasste mit Ausnahme der Länder Bayern und Baden-Württemberg das Gebiet der gesamten Bundesrepublik Deutschland. Der Betroffene zu 1 ist Geschäftsführer der Nebenbetroffenen zu 1. Die Betroffenen zu 2 bis 10 sind Repräsentanten der Nebenbetroffenen und waren für diese in den Regionalbezirken tätig. Von den Preisabsprachen betroffen war nur das sogenannte Lagergeschäft, beschränkt auf Liefermengen bis drei Tonnen. Nicht erfasst waren dagegen die Preisabsprachen im Hinblick auf das Streckengeschäft. Im Streckengeschäft werden von den Papiergroßhändlern in der Regel große Abnahmemengen veräußert, die direkt durch die Papierindustrie an die Abnehmer wie Druckereien ausgeliefert werden.

Abgesprochen wurde der Mindestverkaufspreis für Bilderdruckpapier zu 100 bis 200 Gramm. Höhere oder niedrigere Mengen sollten mit entsprechenden in der Papierindustrie üblichen Zu- und Abschlägen versehen werden. Die Mindestverkaufspreise galten nicht für freie Kunden, die sich meist als Großabnehmer im Streckengeschäft eindeckten und allenfalls Nachfragespitzen über das Lagergeschäft abwickelten. Eine Sonderstellung nahmen schließlich noch die geregelten Kunden ein. Darunter ist eine zahlenmäßig sehr kleine Kundengruppe zu verstehen, die sich gegenüber den "normalen" Kunden durch eine größere Abnahmemenge, besondere persönliche Beziehungen oder besonders gute Zahlungsmoral abhoben. Ihnen wurde ein niedrigerer Mindestverkaufspreis, der zwischen den Kartellmitgliedern kundenabhängig abgesprochen wurde, eingeräumt.

Die Preisabsprachen wurden in den einzelnen Kartellkreisen in unterschiedlichem Maße eingehalten, wobei das Oberlandesgericht keine überregionale Koordination der festgelegten Preise festgestellt hat.

Nicht einheitlich war auch die Praxis hinsichtlich des Offsetpapiers. Während dieses - ebenso wie Preprint, eine höherwertige Offsetpapiersorte - in einigen Regionalkartellen von der Preisabsprache umfasst war, wurde es in anderen von der Preisabsprache ausgenommen. Hinsichtlich des Selbstdurchschreibepapiers (SD-Papier) kam es zwar zu keinen Mindestpreisabsprachen. In allen Regionalkartellen bestand aber insoweit ein "Nichtangriffspakt", was bedeutete, dass die Kartellteilnehmer ihren eigenen Marktanteil hinsichtlich des SD-Papiers nicht mit Mitteln des Preiswettbewerbs zu Lasten eines kartellgebundenen Konkurrenten vergrößern wollten.

Das Oberlandesgericht hat für sämtliche Regionalkartelle kartellbedingte Mehrerlöse festgestellt. Kartellfreie Vergleichsmärkte hat das Oberlandesgericht mit der Begründung nicht festgestellt, dass auch hinsichtlich der Märkte Bayern und Baden-Württemberg der Verdacht von Regionalkartellen bestehe, auch wenn sie nicht vom Bundeskartellamt in die Bußgeldbescheide einbezogen worden seien.

Das Oberlandesgericht hat den Marktpreis, der sich ohne kartellbedingte Beeinflussung ergeben hätte, auf der Grundlage der Preisunterbietungen geschätzt, die es innerhalb eines jeden Regionalkartells in mehr oder minder starker Ausprägung gegeben hat. Die Preisunterbietungen zeigen nach Auffassung des Oberlandesgerichts den Rahmen auf, innerhalb dessen sich der Wettbewerbspreis mit hoher Wahrscheinlichkeit gebildet hätte. Innerhalb des Preiskorridors der durch Zeugenvernehmungen festgestellten Unterbietungen hat das Oberlandesgericht einen "gewichteten Mittelwert" als den Betrag festgelegt, der den Marktpreis darstellen soll, der ohne kartellrechtswidrige Beeinflussung durchschnittlich entstanden wäre. Es hat weiter die Quote des im Lagergeschäft veräußerten Bilderdruckpapiers bzw. Offsetdruckpapiers festgestellt, bei der die Mindestpreisvereinbarung eingehalten worden ist. Diese Quote hat das Oberlandesgericht in Bezug zu der Gesamtmenge gesetzt und so die Teilmenge ermittelt, die unter die Preisvereinbarung fällt. Diese Menge hat es dann mit einem vorher ermittelten Marktpreis multipliziert. Von dem sich so ergebenden Wert hat es einen Sicherheitsabschlag in Höhe von 5% vorgenommen und damit den kartellbedingten Mehrerlös festgestellt. Das Oberlandesgericht hat auch die Mengen einbezogen, bei denen der Verkaufspreis oberhalb des Mindestverkaufspreises lag, weil diese ebenfalls absprachebeeinflusst seien.

II.

Während die Angriffe der Nebenbetroffenen gegen die Schuldsprüche ohne Erfolg bleiben, führt die von ihnen wie auch die von der Staatsanwaltschaft erhobene Sachrüge zur Aufhebung des Urteils im gesamten Rechtsfolgenausspruch im Hinblick auf die beiden Nebenbetroffenen.

1. Das Oberlandesgericht hat den Mehrerlös nicht rechtsfehlerfrei bestimmt.

a) Unter Mehrerlös ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der Differenzbetrag zwischen den tatsächlichen Einnahmen, die aufgrund des Wettbewerbsverstoßes erzielt werden, und den Einnahmen zu verstehen, die das durch die Kartellabsprachen bevorzugte Unternehmen ohne den Wettbewerbsverstoß erzielt hätte (BGH, Beschl. v. 25.4.2005 - KRB 22/04, WuW/E DE-R 1487, 1488 - steuerfreier Mehrerlös; Beschl. v. 24.4.1991 - KRB 5/90, WuW/E 2718, 2719 - Bußgeldbemessung).

Der Mehrerlös kann nach § 81 Abs. 2 Satz 2 GWB 1999 geschätzt werden. Eine Schätzung setzt aber voraus, dass tatsächlich ein Mehrerlös entstanden ist (BGH, Beschl. v. 28.6.2005 - KRB 2/05, WuW/E DE-R 1567, 1569 - Berliner Transportbeton I). Dies hat das Oberlandesgericht für sämtliche Regionalkartelle ohne Rechtsverstoß bejaht. Es hat dies jeweils dem Umstand entnommen, dass in allen Regionalkartellen die Preisabsprachen über einen erheblichen Zeitraum praktiziert worden seien. Da keine Anhaltspunkte dafür beständen, dass die Preiskartelle gänzlich wirkungslos gewesen seien, bestehe im vorliegenden Fall Gewissheit über die Entstehung eines Mehrerlöses. Diese Beweiswürdigung, die dem vom Bundesgerichtshof aufgestellten beweisrechtlichen Grundsätzen (BGH WuW/E DE-R 1567, 1569 ff. - Berliner Transportbeton I) Rechnung trägt, lässt keinen Rechtsfehler erkennen.

b) Die nach § 81 Abs. 2 Satz 2 GWB 1999 eröffnete Schätzungsbefugnis räumt dem Tatrichter einen erheblichen Ermessensspielraum ein. Er hat selbst zu entscheiden, welche Schätzungsmethode dem vorgegebenen Ziel, der Wirklichkeit durch Wahrscheinlichkeitsüberlegungen möglichst nahe zu kommen, am besten gerecht wird. Die Schätzung muss den strafprozessualen Vorgaben - wie etwa dem Zweifelssatz - genügen. Sie muss schlüssig sein, und ihre Ergebnisse müssen darüber hinaus wirtschaftlich vernünftig und möglich sein (BGH, Beschl. v. 4.2.1992 - 5 StR 655/91, BGHR AO § 370 Abs. 1 Nr. 2 Steuerschätzung 5). Dem wird das Urteil des Beschwerdegerichts nicht gerecht.

aa) Allerdings ist entgegen der Auffassung des Bundeskartellamts nicht zu beanstanden, dass das Oberlandesgericht für die Preisbestimmung die auf anderen Märkten und mit bestimmten Marktteilnehmern erzielten Preise seiner Berechnung nicht zugrunde gelegt hat. Im Ansatz zutreffend führt das Bundeskartellamt aus, dass die Ermittlung des Mehrerlöses grundsätzlich im Vergleich zu funktionierenden Märkten erfolgen sollte. Dieser aus § 19 Abs. 4 Nr. 2 GWB entnommene Rechtsgedanke beruht auf der Erkenntnis, dass sich der unter realen Marktbedingungen gebildete Preis für die Mehrerlösberechnung jedenfalls dann als die optimale Berechnungsgrundlage darstellt, wenn die Märkte ihrer Struktur nach vergleichbar sind. Von dieser Berechnungsmethode ist im Übrigen auch der Bundesgerichtshof in zwei früheren Entscheidungen ausgegangen (BGH WuW/E DE-R 1487, 1488 - steuerfreier Mehrerlös; BGH WuW/E DE-R 1567, 1571 - Berliner Transportbeton I).

Das Oberlandesgericht hat eine solche Vergleichbarkeit hier allerdings rechtsfehlerfrei abgelehnt. Hinsichtlich der Länder Bayern und Baden-Württemberg ergibt sich dies daraus, dass sich das Oberlandesgericht nicht hat davon überzeugen können, dass diese Märkte kartellfrei waren. Es hat sich insoweit auf die Angaben des Zeugen S. gestützt, der von entsprechenden Absprachen auch dort berichtet hat. Selbst wenn - was für einen funktionierenden Markt spricht - dort ein insgesamt niedrigeres Preisniveau geherrscht haben sollte, brauchte das Oberlandesgericht das dortige Preisniveau nicht als Marktpreis zugrunde zu legen, wenn aus seiner Sicht erhebliche Anhaltspunkte für Preisabsprachen auch in diesen Märkten vorhanden waren.

Die Nichtberücksichtigung der freien und geregelten Kunden begegnet aus Rechtsgründen gleichfalls keinen Bedenken. Beide Gruppen weisen Besonderheiten auf, die gegen eine Verallgemeinerungsfähigkeit der dort erzielten Preise im Sinne eines für die Mehrerlösbestimmung geeigneten hypothetischen Marktpreises sprechen. Während die freien Kunden große Mengen hauptsächlich im Streckengeschäft abnehmen und nur Nachfragespitzen im Lagergeschäft decken, zeichnen sich die geregelten Kunden durch Spezifika wie besondere Bonität oder Zahlungsmoral oder persönliche Beziehungen aus. Beide weisen damit bedeutsame Unterschiede zu den von der Preisvereinbarung erfassten Kunden auf. Ihre Zahl ist überdies nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts gering. Wenn sich das Oberlandesgericht aufgrund dieser Umstände gehindert gesehen hat, die zwischen diesen Kundengruppen erzielten Preise als Vergleichsmaßstab zugrunde zu legen, ist dies vom Rechtsbeschwerdegericht hinzunehmen. Aus dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 261 StPO) ergibt sich nämlich, dass die Schlüsse des Tatrichters nur möglich, aber keineswegs zwingend zu sein brauchen. Auf eine größere oder überwiegende Wahrscheinlichkeit kommt es dabei nicht an (BGHSt 26, 56, 62 f.; 29, 18, 20). Dieses vom Oberlandesgericht eingehend begründete Ergebnis ist deshalb vom Rechtsbeschwerdegericht nicht zu beanstanden.

bb) Dagegen begegnet der vom Oberlandesgericht gewählte Begründungsansatz - entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts - durchgreifenden Bedenken, weil er wirtschaftlich zu nicht nachvollziehbaren Ergebnissen führt. Das Oberlandesgericht hat die jeweils festgestellten Unterschreitungen des abgesprochenen Kartellpreises als Maßstab für die Bestimmung eines hypothetischen Marktpreises angenommen, wobei es im Hinblick auf die jeweiligen Preisunterschreitungen einen durchschnittlichen Unterbietungspreis gebildet hat. Diesen durchschnittlichen Unterbietungspreis als Marktpreis zugrunde zu legen, ist schon deshalb unzulässig, weil sich auf einem durch eine Preisabsprache kartellierten Markt kein Marktpreis entwickeln kann. Durch die Preisabsprache sind die Marktmechanismen außer Kraft gesetzt worden. Selbst wenn es zu Unterbietungen des abgesprochenen Preises kommt, ist dies kein Ausdruck eines marktkonformen Wechselspiels zwischen Angebot und Nachfrage; vielmehr orientieren sich auch die davon abweichenden Preise letztlich an dem ausgehandelten Kartellpreis. Die die Preisbildung bestimmende Überlegung wird immer nur sein, ob und inwieweit der Konkurrent die abgesprochene Preisbindung seinerseits unterbieten wird. Dabei kann aber eine Preisunterbietung im Einzelfall in ihrer Größenordnung umgekehrt auch darauf zurückzuführen sein, dass sie aus einem hohen Kartellpreis quasi subventioniert wird, um Kunden langfristig an sich zu binden.

Die Schwäche dieses Preisunterbietungsansatzes liegt darin, dass der abgesprochene Preis kein Marktpreis ist, sondern einen von den Beteiligten festgelegten - im Regelfall sehr auskömmlichen - Preis darstellt. Ebenso wenig lässt sich nachvollziehen, nach welchen Maßstäben das Oberlandesgericht den hypothetischen Marktpreis als "gewichteten Durchschnittspreis" ermittelt hat. Eine Mittelung der Abweichung hätte nur dann eine Aussagekraft, wenn die Streuung der Preisabweichungen einem typischen Marktgeschehen entspräche. Da jedoch keine Vergleichsmärkte bestehen, kann auch einer solchen Durchschnittsbetrachtung keine Aussagekraft im Hinblick auf einen fiktiven Marktpreis beigemessen werden. Die Abweichungen von den abgesprochenen Preisen sind - unabhängig, ob es sich um Einzel- oder Durchschnittsabweichungen handelt -, nicht Ausdruck eines markttypischen Geschehens, sondern allenfalls des Grades an Kartelldisziplin, die auf dem Markt herrscht.

Die wirtschaftliche Fragwürdigkeit dieses Berechnungsansatzes zeigt auch folgende, von der Staatsanwaltschaft vorgetragene Überlegung. Der kartellbedingte Mehrerlös wäre desto geringer, je höher die Kartelldisziplin ausgeprägt wäre. Bei hoher Kartelldisziplin weichen die Kartellmitglieder allenfalls geringfügig von den abgesprochenen Mindestverkaufspreisen ab. Die Folge wäre, dass nach dem Berechnungsansatz des Oberlandesgerichts der Mehrerlös auch sehr niedrig zu berechnen wäre. Tatsächlich dürfte das Gegenteil aber richtig sein. Wenn der ausgehandelte Mindestverkaufspreis auskömmlich ist, was nach der Lebenserfahrung naheliegt (vgl. BGH WuW/E DE-R 1567, 1569 - Berliner Transportbeton I), dann spricht zugleich eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass es besonders gewinnbringend ist, das Kartell durchzuhalten. Die kartellbedingten Mehrerlöse sind deshalb in diesen Fällen nicht besonders niedrig, sondern tatsächlich eher besonders hoch.

cc) Bei der Ermittlung eines fiktiven Marktpreises ist die Vergleichsmarktbetrachtung grundsätzlich die überlegene Schätzungsmethode. Der Tatrichter wird deshalb nach geeigneten Vergleichsmärkten suchen müssen. Solche können auch im benachbarten Ausland liegen. Erst wenn sich keine kartellfreien Vergleichsmärkte feststellen lassen, muss der hypothetische Marktpreis, der Bezugspunkt für die Berechnung des Mehrerlöses ist, im Wege einer gesamtwirtschaftlichen Analyse bestimmt werden. Hierbei wird der Tatrichter - worauf die Nebenbetroffenen zutreffend hingewiesen haben - regelmäßig sachverständiger Hilfe bedürfen. Speziell für einen Markt wie den hier betroffenen bietet sich eine solche Form der Berechnung an. Bei den Kartellbeteiligten handelt es sich um Großhändler. Die vom Hersteller berechneten Preise lassen sich ebenso feststellen wie die jeweiligen Kostenstrukturen der Nebenbetroffenen. Anhand einer empirisch zu ermittelnden allgemeinen Umsatzrendite, die in vergleichbaren Branchen mit ähnlichen Marktbedingungen durchschnittlich erzielt wird, kann auf einen durchschnittlichen zu erwartenden Marktpreis zurückgeschlossen werden. Dieser so eher abstrakt gewonnene Marktpreis kann dann noch dadurch weiter realitätsbezogen bestimmt werden, dass markttypische Elemente für den Papiergroßhandel einbezogen werden. Solche können neben besonderen konjunkturellen Einflüssen auch Besonderheiten in der Wettbewerberdichte oder in der Struktur der Nachfrager sein.

Dieses Ergebnis kann dann weiter optimiert und gegebenenfalls angeglichen werden, indem die so ermittelten Preise mit den intakten Teilmärkten in Beziehung gesetzt werden. In diesem Sinne können - zumindest in Form einer Kontrollüberlegung - die mit den geregelten oder freien Kunden erzielten Durchschnittspreise in die Schätzung einbezogen werden. Dabei müssen freilich die spezifischen Merkmale dieser Kundengruppen berücksichtigt werden. Auch wenn die Märkte nicht kartellfrei gewesen sein sollten, können signifikant unterschiedliche Preisstrukturen in Bayern und Baden-Württemberg bei der Bestimmung des Marktpreises Beachtung finden. Schließlich können, sofern hierüber mittlerweile entsprechende Informationen vorliegen sollten, die Preisbewegungen auf den verfahrensgegenständlichen - nach Aufdeckung durch das Bundeskartellamt kartellfreien - Märkten trotz des mittlerweile eingetretenen Zeitablaufs Aussagekraft haben. Sie sind gegebenenfalls in Beziehung zu setzen zu einem im Wege der gesamtwirtschaftlichen Analyse abstrakt ermittelten Marktpreis.

dd) Näherer Aufklärung bedarf in diesem Zusammenhang auch die Frage, ob hinsichtlich des SD-Papiers ein Mehrerlös entstanden sein kann. Das Oberlandesgericht hat einen solchen Mehrerlös nicht festzustellen vermocht, weil diese Papiersorte im Wesentlichen exklusiv vertreten werde, ein Wechsel des Händlers mit einem Wechsel der Papiersorte verbunden sei und deshalb Restmengen nicht mehr aufgebraucht werden könnten. Zudem seien auch die Mengen so gering, dass dieser Gesichtspunkt eine Wechselbereitschaft zusätzlich mindere. Diese Erwägungen sind nicht ohne weiteres geeignet, für den Bereich des SD-Papiers die Wahrscheinlichkeitsaussage zu entkräften, dass eine Kartellabsprache deshalb getroffen und aufrecht erhalten wird, weil sie höhere als am Markt sonst erzielbare Preise erbringt (BGH WuW/E DE-R 1567, 1569 - Berliner Transportbeton I). Unter diesem Gesichtspunkt hätte deshalb der "Nichtangriffspakt" hinsichtlich des SD-Papiers überprüft werden müssen. Ob eine Wechselbereitschaft der Abnehmer bestanden hätte, wenn insoweit ein Preiswettbewerb geherrscht hätte, hängt entscheidend davon ab, in welchem Umfang der Preis für das SD-Papier hätte gesenkt werden können. Auch bei geringen Mengen würde der Abnehmer nämlich dann den Lieferanten wechseln, wenn das ihm angebotene Papier deutlich billiger ist, selbst wenn er gewisse Restmengen nicht mehr verwerten kann. Mit sachverständiger Hilfe könnte deshalb auch der Frage nachgegangen werden, ob es angesichts der vertriebenen Mengen und des spezifischen Nachfrageverhaltens der Abnehmer vor dem Hintergrund des tatsächlichen Preisniveaus einen nennenswerten Spielraum für einen Preiswettbewerb gab. Lassen sich solche Spielräume für einen Preiswettbewerb feststellen, bilden diese Preisdifferenzen die Grundlage für die Bestimmung des kartellbedingten Mehrerlöses.

ee) Der Tatrichter wird bei der nochmals umfassend neu vorzunehmenden Bestimmung des Mehrerlöses zu beachten haben, dass der auch im Ordnungswidrigkeitenrecht anzuwendende Zweifelssatz nicht auf jede Bemessungsgrundlage jeweils gesondert anzuwenden ist. Der Grundsatz "in dubio pro reo" ist keine Beweis-, sondern eine Entscheidungsregel, die das Gericht erst dann zu befolgen hat, wenn es nach abgeschlossener Beweiswürdigung nicht die volle Überzeugung vom Vorliegen einer für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch unmittelbar entscheidungserheblichen Tatsache zu gewinnen vermag (BGH, Urt. v. 27.6.2001 - 3 StR 136/01, NStZ 2001, 609; Urt. v. 29.3.1983 - 1 StR 50/83, NJW 1983, 1865). Auf einzelne Elemente der Beweiswürdigung ist der Zweifelssatz prinzipiell nicht anzuwenden (BVerfG MDR 1975, 468, 469). Dies gilt auch für Indiztatsachen, aus denen lediglich ein Schluss auf eine unmittelbar entscheidungsrelevante Tatsache gezogen werden kann (vgl. BGHSt 25, 285, 286 f.; 35, 308, 313; 36, 286, 289 ff.). Hierzu zählen die Anknüpfungstatsachen für eine Schätzung, die mit der ihnen zukommenden Ungewissheit in die Gesamtwürdigung einzustellen sind.

Der Tatrichter hat deshalb die Schätzungsgrundlagen aufgrund einer Wahrscheinlichkeitsbetrachtung zu ermitteln und dabei den nach seiner freien Überzeugung der wirtschaftlichen Situation am nächsten kommenden Ansatz zu wählen. Dabei ist er aufgrund des Zweifelssatzes nicht gehalten, hinsichtlich jeder Schätzungsgrundlage jeweils die für den Betroffenen günstigste Variante zu unterstellen (vgl. BGH, Urt. v. 26.10.1998 - 5 StR 446/97, BGHR AO § 370 Abs. 1 Steuerschätzung 1; Urt. v. 25.2.1987 - 3 StR 552/86, BGHR AO § 370 Abs. 1 Nr. 2 Steuerschätzung 2; Raum in Wabnitz/Janovsky, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 3. Aufl., S. 236). Verbliebene Berechnungsunsicherheiten muss der Tatrichter jedoch in einem Sicherheitsabschlag zum Ausdruck bringen. Dieser hat freilich umso höher auszufallen, je mehr - was der Tatrichter zu bewerten hat - die einzelnen Berechnungsgrundlagen in ihrer Gesamtschau mit Unsicherheiten behaftet sind. Durch diesen Sicherheitsabschlag wird der Zweifelssatz gewahrt (vgl. BGH WuW/E DE-R 1487, 1488 f. - steuerfreier Mehrerlös).

2. Die zutreffende Bestimmung des Mehrerlöses ist Voraussetzung für die Wahl des Bußgeldrahmens. Durch die 7. GWB-Novelle hat der Gesetzgeber die Bußgeldrahmen geändert. Nach dem nunmehr geltenden Bußgeldrahmen des § 81 Abs. 4 GWB 2005 kann die Geldbuße über die allgemeine Grenze von 1 Mio. Euro nach Satz 1 hinaus nach Satz 2 auf 10 vom Hundert des Gesamtumsatzes des jeweiligen Unternehmens festgesetzt werden. Da nach § 4 Abs. 3 OWiG das mildeste Gesetz anzuwenden ist, sind jeweils die möglichen Bußgeldhöchstbeträge miteinander zu vergleichen (vgl. Lemke/Mosbacher, OWiG, 2. Aufl., § 4 Rdn. 20). Nach Tatzeitrecht bildet der dreifache Mehrerlös die Bußgeldobergrenze. Ist dieser Betrag niedriger als 10% des Gesamtumsatzes des vorausgegangenen Geschäftsjahres, verbleibt es bei dem auch vom Oberlandesgericht angewendeten Tatzeitrecht des § 81 Abs. 2 GWB 1999.

Wendet der neue Tatrichter wiederum den Bußgeldrahmen nach der alten Gesetzesfassung an, wird er zu bedenken haben, dass grundsätzlich der Mehrerlös auch tatsächlich abzuschöpfen ist. Eine Ausnahme kann allenfalls dann gelten, wenn eine Abschöpfung durch die Geschädigten bereits erfolgt oder unmittelbar eingeleitet ist. Ohne eingehende Begründung hierzu hätte das Oberlandesgericht jedenfalls kein bloßes "Ahndungsbußgeld" verhängen dürfen (vgl. BGH WuW/E DE-R 1487, 1489 f. - steuerfreier Mehrerlös).

Gleiches gilt im Übrigen, falls der neue Tatrichter das Bußgeld aus dem Rahmen der Neufassung des § 81 Abs. 4 GWB 2005 entnehmen sollte. Auch hier muss darüber befunden werden, ob der Vorteil (vgl. hierzu Raum in Langen/Bunte, Kartellrecht, 10. Aufl., § 81 GWB Rdn. 140 ff.) abzuschöpfen ist. Dies ist im Rahmen der Bußgeldbestimmung durch den Tatrichter zu begründen (Raum in Langen/Bunte aaO; Achenbach in Frankfurter Kommentar zum GWB, Lfg. 61, § 81 GWB 2005 Rdn. 314 ff.).

3. Die aufgezeigten Mängel in der Bestimmung des Mehrerlöses führen sowohl auf die Rechtsbeschwerden der Staatsanwaltschaft als auch der Nebenbetroffenen zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung im Rechtsfolgenausspruch hinsichtlich der beiden Nebenbetroffenen. Es lässt sich nämlich nicht feststellen, ob sich der unzutreffende Berechnungsansatz zum Vor- oder Nachteil der Nebenbetroffenen ausgewirkt hat. Da die Rechtsbeschwerden jeweils mit der Sachrüge Erfolg haben, kommt es auf die Verfahrensbeanstandungen, soweit sie sich lediglich auf die Höhe der Geldbußen auswirken, nicht mehr an. Die Rechtsbeschwerdeangriffe der Nebenbetroffenen sind im Übrigen aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet im Sinne des § 79 Abs. 3 OWiG i.V. mit § 349 Abs. 2 StPO.

III.

Die Rechtsbeschwerden der Betroffenen zu 1, 4, 6, 8, 9 und 10 sind gleichfalls unbegründet im Sinne des § 79 Abs. 3 OWiG i.V. mit § 349 Abs. 2 StPO. Ergänzend bemerkt der Senat hierzu lediglich Folgendes:

Zwar hat das Oberlandesgericht bei der Bemessung der Bußgelder auf den entstandenen beträchtlichen Schaden der Kunden verwiesen und insoweit auf seine Schätzung des Mehrerlöses Bezug genommen. Der Senat schließt jedoch nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe aus, dass damit bestimmend auf die rechnerische Höhe des jeweils entstandenen Mehrerlöses abgestellt werden sollte. Vielmehr wollte das Oberlandesgericht lediglich den erheblichen Unrechtsgehalt würdigen, der in einem solchen Verhalten zu sehen ist, das sich zu Lasten der nachgelagerten Wirtschaftsstufen auswirkt. Der Rechtsfehler bei der Schätzung der Mehrerlöse wirkt sich deshalb nicht auf die Zumessung der Bußgelder gegen die Betroffenen aus.

Hirsch Bornkamm Raum Meier-Beck Strohn Vorinstanz:

OLG Düsseldorf, Entscheidung vom 27.03.2006 - VI-Kart 3/05 (OWi) -