BGH, Urteil vom 20.06.2000 - VI ZR 377/99
Fundstelle
openJur 2010, 7930
  • Rkr:
Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 5. Zivilsenats des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken vom 2. November 1999 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

Tatbestand

Die Klägerin, die wegen einer paranoid-halluzinatorischen Psychose bereits ab Ende Dezember 1992 für elf Wochen stationär in der Landesnervenklinik A. behandelt worden war, erschien am 22. November 1994 mit der Einweisungsdiagnose "Psychose" in Begleitung zweier Verwandter im Krankenhaus der Beklagten und wollte stationär aufgenommen werden. Die diensthabende Ärztin erhob die Anamnese. Diese befaßte sich auch mit einer Selbstmordgefahr für die Klägerin. Sie erklärte, früher Gedanken an Selbstmord gehabt zu haben, ihre Kinder stünden jedoch im Vordergrund. Einen Selbstmordversuch hatte die Klägerin noch nicht unternommen. Die Klägerin erhielt ein Bett in der offenen Station im dritten Stock. In den Zimmern dieser Station waren die Fenstergriffe entfernt, um ein Öffnen der Fenster durch die Patienten zu verhindern.

Die Klägerin wurde mit Medikamenten versorgt. In der Nacht gegen 1.00 Uhr erschien die Klägerin bei der Nachtschwester und bat diese -wie schon um 20.30 Uhr - um Tee. Sie bejahte deren Frage, ob sie ein Schlafmittel wolle. Die Nachtschwester holte zunächst das Teeglas aus dem Zimmer der Klägerin. Während dieser Zeit begab sich die Klägerin in den Aufenthaltsraum, der einen unverschlossenen Zugang zum Balkon hatte. Als die Schwester mit dem Teeglas in den Dienstraum zurückkehrte, um die Medikamente zu holen, sah sie durch die geöffnete Türe des Aufenthaltsraumes, daß die Klägerin die Balkontüre geöffnet hatte, sich kurz zu ihr umdrehte und über die Brüstung kletterte. Die Schwester konnte einen Sturz der Klägerin nicht mehr verhindern. Durch den Sturz aus 11 bis 12 Meter Höhe verletzte sich die Klägerin schwer.

Die Klägerin hat die Beklagte aus Organisationsverschulden im Wege der Teilklage auf ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld von mindestens 40.000 DM nebst 4% Zinsen seit 5. August 1995 in Anspruch genommen; der Aufenthaltsraum habe ohne großen Aufwand gesichert werden können, was nach ihrem Unfall geschehen sei.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht den Klageanspruch dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und die Sache zur Durchführung des Betragsverfahrens an das Landgericht zurückverwiesen. Mit ihrer zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihr Begehren auf Zurückweisung der Berufung weiter.

Gründe

I.

Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im wesentlichen ausgeführt, zwar habe die Aufnahmeanamnese keinen Anlaß für eine Unterbringung der Klägerin in einer geschlossenen Station geboten. Die Beklagte hafte aber, weil sie den Aufenthaltsraum nicht hinreichend gegen einen nicht vorhersehbaren Entschluß eines Patienten zum Selbstmord gesichert habe. Auch im Aufenthaltsraum der offenen Station in der Klinik der Beklagten seien nicht jegliche Sicherheitsvorkehrungen entbehrlich. Ein psychiatrisches Krankenhaus übernehme nicht nur, den Patienten möglichst zu heilen, sondern auch, alle Gefahren, die diesem durch seine Krankheit drohten, von ihm abzuwenden. Es bedürfe daher in den Grenzen des Erforderlichen und des für das Krankenhauspersonal und den Patienten Zumutbaren der Überwachung und Sicherung der Kranken. Diese Pflicht bestehe ohne Bezug auf einen konkreten Einzelfall. Bei dem Krankheitsbild der Klägerin könne ein Selbstmord weder ausgeschlossen noch als höchst unwahrscheinlich bewertet werden; es habe daher ein Sicherungsbedürfnis für die Klägerin bestanden, das eine "Grundsicherung" erfordert habe. Diese gebiete eine Vorsorge gegen die Gefahr eines Sprunges aus großer Höhe. Als Vorsorge hätte es ausgereicht, die Balkontüre nachts abzuschließen. Technische oder medizinische Standards über die Anforderungen an die Grundsicherung einer offenen Station gebe es zwar nicht. Daß die Fenster in den anderen Zimmern auf dieser Station nicht zu öffnen seien, zeige aber, daß eine Grundsicherung mit dem therapeutischen Konzept der Beklagten zu vereinbaren sei. Tatsachen, die einer nächtlichen Sicherung auch des Aufenthaltsraumes entgegenstünden, habe die Beklagte nicht vorgetragen.

Das Berufungsgericht hat die Revision zugelassen, weil die Notwendigkeit der Grundsicherung in einer offenen Krankenhausstation von grundsätzlicher Bedeutung sei.

II.

Diese Erwägungen des Berufungsgerichts halten rechtlicher Überprüfung auf der Grundlage der bisher getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht stand.

1. Das Berufungsgericht geht allerdings im Ansatzpunkt ohne Rechtsfehler davon aus, daß der Träger eines psychiatrischen Krankenhauses nicht nur zur Behandlung der aufgenommenen Patienten verpflichtet ist. Ihm obliegt deliktsrechtlich auch eine Verkehrssicherungspflicht zum Schutz des Patienten vor einer Schädigung, die diesem wegen der Krankheit durch ihn selbst und durch die Einrichtung und bauliche Gestaltung des Krankenhauses droht. Diese Pflicht ist allerdings -wie das Oberlandesgericht richtig erkannt hat -beschränkt auf das Erforderliche und das für das Krankenhauspersonal und die Patienten Zumutbare. Das Sicherheitsgebot ist abzuwägen gegen Gesichtspunkte der Therapiegefährdung durch allzu strikte Verwahrung (vgl. Senatsurteil vom 8. Oktober 1985 -VI ZR 114/84 -BGHZ 96, 98, 102; BGH, Urteil vom 23. September 1993 -III ZR 107/92 - VersR 1994, 50).

Das Berufungsgericht überspannt aber die Anforderungen an die der Beklagten als Krankenhausträgerin zum Schutze ihrer Patienten obliegende Sorgfalt, wenn es ohne konkrete Anhaltspunkte einer Selbstgefährdung als Sicherung gegen einen -unvorhersehbaren -Selbstmordversuch verlangt, im Krankenhaus der Beklagten habe jedenfalls nachts auch die Balkontüre im Aufenthaltsraum der offenen Station im dritten Stockwerk so gesichert sein müssen, daß Vorsorge gegen die Gefahr eines Sprunges vom Balkon getroffen gewesen sei.

a) Für die Mindestanforderungen an die Sicherung der Patienten auf einer offenen Station in psychiatrischen Kliniken gibt es weder medizinische noch technische Standards, wie das Berufungsgericht auf der Grundlage der Ausführungen des im ersten Rechtszug beauftragten Sachverständigen ohne Rechtsfehler festgestellt hat.

b) Aus Rechtsgründen kann -im Gegensatz zur Auffassung des Berufungsgerichts -in einer offenen Station ohne besondere Umstände nicht verlangt werden, alle Türen und Fenster verschlossen zu halten.

Das Berufungsgericht begründet seine gegenteilige Ansicht mit einem Sicherungsbedürfnis der Klägerin "dem Grunde nach". Diese Auffassung findet weder in der obergerichtlichen Rechtsprechung noch in den bisher festgestellten tatsächlichen Umständen eine ausreichende Stütze.

aa) Der vom Berufungsgericht zitierten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist eine Pflicht zur Überwachung und Sicherung des psychisch kranken Patienten ohne Bezug auf den konkreten Einzelfall und damit auch zur Abwehr einer unvorhersehbaren Gefahr, die bei psychischen Krankheiten nach Ansicht des Berufungsgerichts stets gegeben sei, nicht zu entnehmen.

Das Urteil des erkennenden Senats vom 8. Oktober 1985 (VI ZR 114/84 -BGHZ 96, 98 ff.) befaßt sich mit der Frage, ob der Krankenhausträger einem Patienten eine auf einen Selbstmordversuch gestützte Mitverursachung der Schädigung entgegenhalten kann. Zu Mindestanforderungen an die Sicherung der Patienten in einer offenen Station hat der Senat in diesem Rahmen nicht Stellung genommen.

In der Entscheidung vom 9. April 1987 ging es um die Ausgestaltung der Fenster eines Beruhigungsraumes (III ZR 171/86 - VersR 1987, 985), während vorliegend die Sicherung eines Aufenthaltsraumes mit Balkonzugang zur Nachtzeit in einer offenen Station in Frage steht. Diese Fallgestaltungen sind nicht vergleichbar. In einen Beruhigungsraum werden vorwiegend "unruhige" Patienten gebracht, bei denen mit unvorhergesehenen Handlungen auch im Sinne der Selbstgefährdung zu rechnen ist; demgegenüber bestand bei der Klägerin keine Veranlassung, mit einem Selbstmordversuch zu rechnen, wie das Berufungsgericht sachverständig beraten in anderem Zusammenhang festgestellt hat.

bb) Auch in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte wird - soweit ersichtlich -darauf abgestellt, ob vor dem Unfall ("ex ante") eine Selbstmordgefahr akut oder (nur) latent erkennbar vorhanden ist, und nur bei Akutfällen eine verstärkte Sicherungspflicht erwogen (vgl. OLG Frankfurt VersR 1993, 1271 und VersR 1979, 451 mit NA-Beschluß des Senats vom 6. Dezember 1977 -VI ZR 170/75 -; OLG Braunschweig OLGR 1994, 67; OLG Hamm VersR 1990, 1240 mit NA-Beschluß des Senats vom 29. Mai 1990 -VI ZR 318/89 und VersR 1986, 171 mit NA-Beschluß des Senats vom 5. März 1985 -VI ZR 166/84 -; OLG Düsseldorf VersR 1984, 193 mit NA-Beschluß des Senats vom 4. Oktober 1983 -VI ZR 310/82 -; OLG Oldenburg VersR 1997, 117; OLG Koblenz MedR 2000, 136 mit NA-Beschluß des Senats vom 21. März 2000 -VI ZR 314/99 -). Nur vereinzelt werden "Minimalanforderungen" an den baulichen Sicherheitsstandard einer offenen Station gestellt, zu denen es gehören soll, daß die Stationstüren verschließbar sind und die Fenster nicht so geöffnet werden können, daß ein Patient hinaussteigen oder hinausspringen kann (OLG Koblenz OLGZ 1991, 326, 328; für einen -nicht vergleichbaren -Wachsaal BayObLG VersR 1980, 872). Dem ist nicht zu entnehmen, daß die Balkontüre in dem Aufenthaltsraum einer offenen Station im dritten Stock eines Gebäudes zumindest nachts abgeschlossen sein muß. Die auch bei Patienten einer offenen Station möglicherweise (latent) vorhandene Selbstmordgefahr verlangt es nicht, jede Gelegenheit zu einer Selbstschädigung auszuschließen. Allerdings darf auch eine psychiatrische Klinik nicht Gefahrenquellen für die Patienten schaffen oder verstärken, ohne die notwendigen Vorkehrungen zum Schutz der Patienten zu treffen, wie dies auch sonst Inhalt der Verkehrssicherungspflicht ist. Die Schutzmaßnahmen müssen aber therapeutisch vertretbar sein und dürfen die Therapie des Patienten nur dann beeinträchtigen, wenn dies zum Wohl des Patienten erforderlich ist. Dementsprechend ist das Berufungsgericht selbst davon ausgegangen, daß Aufenthaltsraum und Balkon hier Teil von Maßnahmen sind, welche die nach moderner Ansicht aus therapeutischen Gründen erwünschte vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen psychisch kranken Patienten und Arzt sowie Krankenhauspersonal fördern sollen. Das läßt das Berufungsgericht außer acht, wenn es eine Sicherung schon deshalb verlangt, weil die Notwendigkeit eines Zutritts zum Balkon zur Nachtzeit aus einem therapeutischen Konzept nicht abzuleiten sei. Daß die Gefahren für die Patienten nachts - etwa weil der Aufenthaltsraum nur von Einzelpersonen aufgesucht wird - wesentlich erhöht wären und hierdurch eine andere Beurteilung erforderlich würde, hat das Berufungsgericht nicht festgestellt. Die Klägerin hatte das freilich unter Beweis gestellt; dem wird das Berufungsgericht nach Zurückverweisung nachzugehen haben. Stellt sich dabei heraus, daß es aus medizinischer Sicht hinnehmbar war, die Balkontüre geöffnet zu lassen, wird das Berufungsgericht weiter zu prüfen haben, ob im Hinblick auf das in der Person der Klägerin bestehende Gefährdungspotential besondere Maßnahmen zu treffen waren. Die Rechtsfrage, welche Sorgfaltsanforderungen insoweit an den Klinikträger zu stellen sind, hat das Gericht dann unter Berücksichtigung des aus ärztlicher Sicht für eine Behandlung des Patienten Gebotenen -in der Regel nach sachverständiger Beratung - zu entscheiden.

2. Das angefochtene Urteil hat auch nicht aus einem anderen Grund Bestand (§ 563 ZPO). Die Aufnahme der Klägerin in die offene Station war nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht fehlerhaft.

Das Berufungsgericht hat bisher - von seinem Standpunkt aus folgerichtig -offen gelassen, wie das Verhalten der Nachtschwester haftungsrechtlich zu bewerten ist. Erforderlichenfalls wird es das nachzuholen haben.