BGH, Urteil vom 28.11.2000 - VI ZR 352/99
Fundstelle
openJur 2010, 7715
  • Rkr:
Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des 10. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 24. September 1999 wird zurückgewiesen.

Die Kosten der Revision fallen der Beklagten zur Last.

Von Rechts wegen.

Tatbestand

Die am 5. Mai 1971 geborene Klägerin erlitt am 29. März 1979 bei einem Verkehrsunfall, den ihre Mutter verursacht hatte, schwere Kopfverletzungen. Sie ist seitdem hirnorganisch völlig gestört und in erheblichem Umfang pflegebedürftig. Zur Zeit des Unfalls lebten beide in häuslicher Gemeinschaft; das ist auch jetzt noch der Fall.

Die Beklagte hat als Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherer für die unfallbedingten Schäden der Klägerin voll einzustehen. Die Parteien haben sich auf einen monatlichen Pflegeaufwandsbetrag von 2.257,50 DM geeinigt. Die Beklagte hat diesen Betrag bis Ende 1996 gezahlt. Seit dem 1. Januar 1997 hat sie ihre Zahlungen an die Klägerin um das monatliche Pflegegeld in Höhe von 800 DM, das die Pflegekasse an die Klägerin zahlt, gekürzt.

Mit der vorliegenden Klage begehrt die Klägerin für die Zeit vom 1. Januar 1997 bis zum 31. März 1998 den durch die Kürzungen entstandenen Differenzbetrag in Höhe von insgesamt 12.000 DM nebst Zinsen. Sie hat geltend gemacht, daß die Leistung der Pflegeversicherung an ihrer Aktivlegitimation nichts geändert habe; ihr komme das Angehörigenprivileg des § 116 Abs. 6 SGB X zugute, das einem Übergang ihrer Schadensersatzansprüche in Höhe der Pflegegeldzahlungen auf die Pflegekasse entgegenstehe.

Die Beklagte hat dem Klagevorbringen entgegengehalten, daß sich die Klägerin auf den mit der Beklagten vereinbarten Betrag von 2.257,50 DM das monatliche Pflegegeld von 800 DM anrechnen lassen müsse. Andernfalls würde sie mehr als den Ausgleich ihres Schadens erhalten und gegenüber anderen Geschädigten, die durch familienfremde Personen geschädigt worden seien, ungerechtfertigt bevorzugt.

Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihr Klageabweisungsbegehren weiter.

Gründe

I.

Nach Auffassung des Berufungsgerichts ist der Klägerin ihr gegen die Beklagte gerichteter Direktanspruch aus §§ 823, 843 BGB, § 3 Nr. 1 PflVG trotz der Pflegegeldzahlungen in voller Höhe erhalten geblieben. Ein Anspruchsübergang in Höhe des Pflegegeldes auf die Pflegekasse gemäß § 116 Abs. 1 SGB X scheitere an der Übergangssperre des Angehörigenprivilegs aus § 116 Abs. 6 SGB X. Dieses Privileg gelte auch für den gegen den Haftpflichtversicherer gerichteten Direktanspruch gemäß § 3 Nr. 1 PflVG. Die Rechtsnatur dieses Anspruchs lasse einen getrennten, vom Haftpflichtanspruch losgelösten Übergang dieses Anspruchs auf den Sozialversicherungsträger nicht zu; hier gelte der Grundsatz der Akzessorietät des Direktanspruchs. Durch die Pflegegeldzahlungen sei der zeitlich und sachlich kongruente Schadensersatzanspruch der Klägerin nicht erloschen; aus dem § 843 Abs. 4 BGB zugrundeliegenden Rechtsgedanken folge, daß auf den Schaden keine Leistungen anderer angerechnet werden dürften, die -wie die Pflegegeldzahlungen -ihrer Natur nach dem Schädiger nicht zugute kommen sollten.

II.

Der Senat ist mit dem Berufungsgericht der Auffassung, daß sich die Zahlung des monatlichen Pflegegeldes von 800 DM an die Klägerin auf deren gegen die Beklagte gerichteten Direktanspruch auf Zahlung des vereinbarten Pflegeaufwandsbetrages von monatlich 2.257,50 DM nicht ausgewirkt hat. Die Aktivlegitimation der Klägerin wird von diesen Zahlungen nicht berührt. Sie haben entgegen der Auffassung der Beklagten nicht gemäß § 116 Abs. 1 SGB X zu einem Übergang des gegen die Beklagte gerichteten Direktanspruchs auf die Pflegekasse in Höhe ihrer Leistungen geführt.

1.

Allerdings besteht -wie die Revision zutreffend geltend macht -zwischen den Schadensersatzleistungen der Beklagten zum Ausgleich der unfallbedingten vermehrten Bedürfnisse der Klägerin gemäß § 843 Abs. 1 BGB, § 3 Nr. 1 PflVG und den Pflegegeldzahlungen der Pflegekasse eine sachliche und zeitliche Kongruenz, wie sie § 116 Abs. 1 SGB X für einen Anspruchsübergang voraussetzt. Ein Übergang des Schadensersatzanspruchs der Klägerin in Höhe der Zahlungen des Pflegegeldes auf die Pflegekasse scheitert jedoch an dem Angehörigenprivileg des § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X. Danach ist bei nicht vorsätzlichen Schädigungen durch Familienangehörige, die im Zeitpunkt des Schadensereignisses mit dem Geschädigten oder seinen Hinterbliebenen in häuslicher Gemeinschaft leben, ein Anspruchsübergang nach § 116 Abs. 1 SGB X ausgeschlossen. Die Anwendungsvoraussetzungen dieser Vorschrift liegen hier vor. Die daraus folgende Sperre des Anspruchsübergangs gilt nicht nur für den gegen die Mutter der Klägerin gerichteten Schadensersatzanspruch, sondern auch für den hier in Rede stehenden Direktanspruch aus § 843 Abs. 1 BGB, § 3 Nr. 1 PflVG gegen die Beklagte als Haftpflichtversicherer. Das folgt aus der Rechtsnatur des gegen den Haftpflichtversicherer gerichteten Direktanspruchs des Geschädigten aus § 3 Nr. 1 PflVG. Er dient der Sicherung der Forderung des Geschädigten und ist deshalb in seinem Bestand und seinen Wirkungen grundsätzlich von dem Haftpflichtanspruch abhängig; er ist ein akzessorisches Recht (vgl. Senatsurteil vom 9. Juli 1996 -VI ZR 5/95 -BGHZ 133, 192, 195 m.w.N.).

2.

Allerdings hat der Senat im vorgenannten Urteil (S. 196) für den Fall des Anspruchsübergangs auf einen Sozialhilfeträger im Wege einer interessengerechten Auslegung des § 116 Abs. 6 SGB X den gegen den Haftpflichtversicherer gerichteten Direktanspruch in Auflockerung des Grundsatzes der Akzessorietät aus der Übergangssperre ausgegrenzt. In diesem besonderen Fall tritt der mit dem Direktanspruch verbundene Akzessorietätsgedanke gegenüber dem Subsidiaritätsgrundsatz des Sozialhilferechts zurück. Dies ist erforderlich, um einen sonst auftretenden Normenkonflikt zwischen der Übergangssperre des § 116 Abs. 6 SGB X und dem in § 2 BSHG verankerten Grundsatz der Subsidiarität der Sozialhilfe zu vermeiden.

Diese auf die Sozialhilfe und deren Nachrang zugeschnittenen Erwägungen des Senats lassen sich indes auf den Streitfall, in dem es um einen Anspruchsübergang auf den Sozialversicherungsträger geht, für den der Subsidiaritätsgrundsatz nicht gilt, nicht übertragen. Allerdings hat der Senat im vorgenannten Urteil die Frage aufgeworfen, ob für den Anspruchsübergang auf einen Sozialversicherungsträger an dem Akzessorietätsgrundsatz, der bisher die Senatsrechtsprechung bestimmt hat (vgl. Senatsurteil vom 5. Dezember 1978 -VI ZR 233/77 -VersR 1979, 256, 257 f.), noch festgehalten werden kann. Der Senat knüpfte damit an Erwägungen im Schrifttum an, die für eine "teleologische Reduktion" des Angehörigenprivilegs auf die Fälle eintreten, in denen kein Haftpflichtversicherungsschutz besteht (vgl. etwa Schirmer, DAR 1988, 289, 290). Der Hinweis des Senats im Urteil vom 9. Juli 1996 führte zu Äußerungen im Schrifttum, nach denen für die Auslegung des § 116 Abs. 6 SGB X in den Fällen der Eintrittspflicht eines Haftpflichtversicherers eine partielle Abkehr vom Grundsatz der Akzessorietät des Direktanspruchs teils abgelehnt (vgl. etwa Plagemann, NZV 1998, 94; Rischar, VersR 1998, 27; Schiemann, LM BGB § 852 Nr. 137), teils für vertretbar erachtet wird (vgl. etwa Greger, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 3. Aufl., Anh. II Rdn. 154).

Nach nochmaliger Überprüfung verbleibt der Senat bei seiner Auffassung, daß der Übergang des Direktanspruchs des Geschädigten auf den Sozialversicherungsträger an der Übergangsschranke des § 116 Abs. 6 SGB X scheitert. Zur Begründung verweist er einmal auf die Erwägungen im genannten Senatsurteil vom 5. Dezember 1978. Zum anderen und vor allem sieht sich der Senat angesichts der klaren Normaussage des § 116 Abs. 6 SGB X sowie der Ausgestaltung des Direktanspruchs als akzessorisches Recht nicht legitimiert, für die hier in Rede stehende besondere Fallgestaltung den Vorschlägen zu einer "teleologischen Reduktion" zu folgen, die im Ergebnis auf eine Durchbrechung des Akzessorietätsgrundsatzes hinausläuft. Eine Änderung dieser Rechtslage wäre Sache des Gesetzgebers (vgl. auch LG Trier, NJW-RR 1999, 392 ff.; Schiemann, aaO.). Dem läßt sich nicht entgegenhalten, daß der Senat für den Übergang des Direktanspruchs auf den Sozialhilfeträger die Übergangssperre aus § 116 Abs. 6 SGB X nicht hat eingreifen lassen. Diese Entscheidung erschien, wie ausgeführt, geboten, um einen sonst auftretenden Normenkonflikt zwischen dem in § 2 BSHG verankerten Grundsatz der Subsidiarität der Sozialhilfe und dem Angehörigenprivileg des § 116 Abs. 6 SGB X zu verhindern.

3. Hieraus folgt, daß im vorliegenden Fall auch der Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer in vollem Umfang bei der geschädigten Klägerin verblieben ist. Entgegen der Auffassung der Revision muß sie sich die Anrechnung der Leistungen der Pflegekasse auf ihren Schadensersatzanspruch auch nicht nach den Grundsätzen der Vorteilsausgleichung gefallen lassen.

Allerdings bewirken diese Folgerungen aus der in § 116 Abs. 6 SGB X getroffenen gesetzgeberischen Entscheidung insoweit eine tatsächliche Besserstellung der Geschädigten. Im Regelfall führt die Zahlung von Pflegegeld, die eine Reduzierung der durch den Schadensfall verursachten vermehrten Bedürfnisse zur Folge hat, gemäß § 116 Abs. 1 SGB X in Höhe der Pflegegeldzahlungen zu einem Übergang des Schadensersatzanspruchs des Geschädigten gegen den Schädiger bzw. den Haftpflichtversicherer auf die Pflegekasse. Dies bedeutet, daß gewöhnlich dem Geschädigten, dem gegen den Schädiger bzw. dessen Haftpflichtversicherer ein Anspruch auf Ausgleich der vermehrten Bedürfnisse zusteht, durch die Pflegegeldzahlungen im wirtschaftlichen Ergebnis ein Vorteil nicht verbleibt, so daß sich die Frage einer Vorteilsausgleichung nicht stellt. Einen Vorteil hat der Geschädigte jedoch in den Fällen, in denen -wie hier - die Schädigung durch einen Familienangehörigen des Geschädigten herbeigeführt worden ist, der im Zeitpunkt des Schadensereignisses mit dem Geschädigten in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat. Für diesen Fall bestimmt § 116 Abs. 6 SGB X, daß ein Anspruchsübergang nicht stattfindet mit der Folge, daß der Geschädigte selbst weiter Anspruchsinhaber ist.

Dennoch hat eine Vorteilsausgleichung hier nicht stattzufinden, weil ihr der Rechtsgedanke aus § 843 Abs. 4 BGB entgegensteht. Leistungen eines Sozialversicherungsträgers, die gerade im Hinblick auf eine besondere Situation des Geschädigten erbracht werden, in die er durch das schädigende Ereignis geraten ist, sollen nach ihrem Sinn und Zweck nicht dem Schädiger, sondern dem Geschädigten zugute kommen, und zwar unabhängig davon, ob diesen Leistungen eigene Beiträge des Geschädigten zugrunde liegen oder nicht.

4. Allerdings führt diese Rechtsauffassung zu dem Ergebnis, daß als Folge des Angehörigenprivilegs dem geschädigten Angehörigen das Pflegegeld anrechnungsfrei verbleibt, während das nicht verwandte Unfallopfer in Höhe der Pflegegeldleistungen infolge des Anspruchsübergangs gemäß § 116 Abs. 1 SGB X seinen Schadensersatzanspruch verliert. Diese Ungleichbehandlung bedeutet jedoch entgegen der Auffassung der Revision nicht einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Sie ist als eine Konsequenz des Angehörigenprivilegs, das sich seinerseits als spezielle Ausprägung der in Art. 6 Abs. 1 GG getroffenen objektiven Wertentscheidung darstellt, gerechtfertigt. Im übrigen kommt die hier zur Erörterung stehende Fallkonstellation so selten zum Tragen, daß sie der Gesetzgeber nicht zum Anlaß für eine punktuelle Durchbrechung des Angehörigenprivilegs nehmen mußte.