LG Gießen, Beschluss vom 09.09.2013 - 7 Qs 138/13
Fundstelle
openJur 2013, 35366
  • Rkr:

Bei der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens kann der hinreichende Tatverdacht mit der Begründung verneint werden, nach Aktenlage werde das Gericht bei den gegebenen Beweismöglichkeiten am Ende wahrscheinlich nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" freisprechen.

Ist der Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen dem Fahren des Angeschuldigten mit überhöhter Geschwindigkeit und dem Tod eines Unfallopfers nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit gegeben, ist die Eröffnung des Hauptverfahrens abzulehnen.

Tenor

Die sofortige Beschwerde wird als unbegründet verworfen.

Die Staatskasse hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeschuldigten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

I.

In der Anklage der Staatsanwaltschaft wird dem Angeschuldigten vorgeworfen, durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht zu haben. Der Angeschuldigte sei am ... auf der BAB ... mit einer der Verkehrssituation nicht angepassten Geschwindigkeit gefahren und deshalb mit dem quer über die Fahrbahn laufenden Geschädigten ... zusammengestoßen. Dieser verstarb noch an der Unfallstelle.

Das Amtsgericht hat die Eröffnung des Hauptverfahrens mit Beschluss vom 20.08.2013 aus tatsächlichen Gründen abgelehnt, da der Pflichtwidrigkeitszusammenhang nach Aktenlage nicht nachzuweisen sei. Wegen der Einzelheiten wird auf den Beschluss des Amtsgerichts ... vom 21.08.2013 verwiesen.

Gegen den ablehnenden Beschluss richtet sich die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft.

II.

Das Rechtsmittel ist zulässig, insbesondere fristgemäßeingelegt, bleibt aber ohne Erfolg.

Es besteht aus tatsächlichen Gründen nicht der hinreichende Verdacht (§ 203 StPO), dass der Angeschuldigte die ihm zur Last gelegte Tat begangen hat.

Hinreichender Tatverdacht besteht, wenn bei vorläufiger Tatbewertung die Verurteilung des Angeschuldigten mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Es muss die Wahrscheinlichkeit bestehen, dass eine Straftat von dem Angeschuldigten begangen wurde und dass der Nachweis des Tatverdachts mit den prozessual zulässigen Mitteln gelingen werde (vgl. Schneider in: Karlsruher Kommentar, StPO, 6. Aufl., § 203 Rdnr. 3 - 5).

Nach dem gesamten Akteninhalt ist bei vorläufiger Tatbewertung die Verurteilung des Angeschuldigten nicht wahrscheinlich.

Zwar ist der Angeschuldigte hinreichend verdächtig, zum Unfallzeitpunkt entgegen § 3 Abs. 1 S. 4 StVO mit zu hoher Geschwindigkeit auf der Autobahn gefahren zu sein. Auch wenn seine genaue Geschwindigkeit nicht feststeht, ist nach den Zeugenangaben davon auszugehen, dass der Angeschuldigte zwischen 80 und 100 km/h schnell war. Denn der Zeuge ... schätzte die Geschwindigkeit des vor ihm fahrenden Angeschuldigten auf ungefähr 80 bis 100 km/h. Der Zeuge ... gab an, das Fahrzeug des Angeschuldigten sei langsamer gefahren als der Zeuge ..., dessen Geschwindigkeit er mit eingeräumter großer Unsicherheit auf ungefähr 120 km/h einschätzte.

Nach den Ausführungen des Sachverständigen ... ist die der Reichweite seines Abblendlichtes angepasste Geschwindigkeit des Angeschuldigten auf 65 bis 70 km/h einzuschätzen. Dunkel gekleidete Fußgänger seien im Abblendlicht aber erst ab einer Entfernung von ungefähr 30 Metern erkennbar, was einem Anhalteweg bei einer Geschwindigkeit von 40 bis 45 km/h entspräche.

Dass der Angeschuldigte gemäß § 18 Abs. 6 StVO seine Geschwindigkeit nicht der Reichweite seines Abblendlichtes anzupassen brauchte, ist angesichts der Zeugenaussagen zweifelhaft,kann aber dahinstehen. Auch bei Annahme einer den Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit ist nämlich nicht hinreichend wahrscheinlich, dass das Verhalten des Angeschuldigten in seiner Pflichtwidrigkeit für den tatbestandlichen Erfolg, d.h.den Tod des Geschädigten, im strafrechtlichen Sinne ursächlich wurde. Der erforderliche Pflichtwidrigkeitszusammenhang ist nicht gegeben, wenn derselbe Erfolg auch bei pflichtgemäßem Verhalten nicht vermeidbar war (Fischer, StGB, 60. Aufl., § 15 Rdnr. 16c m.w.N.). Wäre der Erfolg bei pflichtgemäßem Verhalten gleichfalls eingetreten, so beruht er demnach nicht auf der Pflichtwidrigkeit.Ein Zweifel, ob bei pflichtgemäßem Verhalten der Erfolg vermieden worden wäre, ist nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“zugunsten des Täters zu berücksichtigen. Zweifel sind dann beachtlich, wenn sie die für den Schuldspruch erforderliche Überzeugung von der an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit des Gegenteils vernünftiger Weise ausschließen (vgl. BGHSt 11, 1). Zwar ist für den Grundsatz „in dubio pro reo“ bei einer Wahrscheinlichkeitsfeststellung wie der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens grundsätzlich kein Raum, jedoch kann der hinreichende Tatverdacht mit der Begründung verneint werden,nach Aktenlage werde das Gericht bei den gegebenen Beweismöglichkeiten am Ende wahrscheinlich nach diesem Grundsatz freisprechen (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 203 Rdnr. 2 und § 261 Rdnr. 28 m.w.N.).

Im vorliegenden Fall gibt es Umstände, die der Überzeugung, bei angepasster Geschwindigkeit hätte der Angeschuldigte den Zusammenstoß und folgend den Tod des Geschädigten vermeiden können,vernünftiger Weise entgegenstehen und die auch in einer Hauptverhandlung am Ende zu einem Freispruch führen werden.Aufgrund verschiedener, in der Ermittlungsakte enthaltener Anzeichen wird sich nicht ausschließen lassen, dass sich der Geschädigte so kurz vor dem Zusammenstoß von dem Seitenstreifen auf den vom Angeschuldigten benutzten rechten Fahrstreifen bewegte,dass ihn dieser erst zu einem Zeitpunkt erkennen konnte, zu dem der tödliche Unfall auch bei pflichtgemäßem Verhalten nicht mehr vermeidbar war. Der Anstoß an das Fahrzeug des Angeschuldigten erfolgte an der rechten Frontseite bei einer Überdeckung von ungefähr 30 Zentimetern. Nach den schlüssigen Ausführungen des Sachverständigen bewegte sich der Geschädigte zum Unfallzeitpunkt ausweislich des Verletzungsmusters mit der linken Körperseite dem Unfallfahrzeug zugewandt, d.h. quer zum Verlauf der Fahrbahn. Dies macht bereits eine Bewegung des Geschädigten vom Seitenstreifen auf den rechten Fahrstreifen wahrscheinlich. Hinzu kommt die Bekundung der Zeugin ..., der Geschädigte sei bei einer kurz zuvor stattgefundenen Beinahekollision „wie aus dem Nichts“direkt neben ihrem Auto aufgetaucht und „bewusst“ auf ihr Auto zugelaufen. Auch der Zeuge ..., der den Geschädigten in einer weiteren, kurze Zeit vorausgegangenen Verkehrssituation an der betreffenden Stelle ebenfalls beinahe umgefahren hätte,berichtete, den Geschädigten erst dann auf dem rechten Fahrstreifen wahrgenommen zu haben, als er schon fast an ihm vorbeigefahren gewesen sei. Der Zeuge hatte den Eindruck, der Geschädigte sei von der Leitplanke regelrecht auf die Fahrbahn gesprungen, da er mit den Armen dafür typische Ruderbewegungen gemacht habe. Schließlich führte der Angeschuldigte erst nach dem Aufprall ein „Ausweichmanöver“ durch. Denn der Zeuge ... hat bekundet, die Warnblinkanlage sei während des Ausweichmanövers eingeschaltet gewesen. Der Sachverständige hat hierzu plausibel ausgeführt, aus seiner Sicht sei die Warmblinkanlage auf Grund des vom Fahrzeugcomputer erkannten Unfallereignisses („Aufprall erkannt“) ausgelöst worden; Hinweise auf eine Bremsreaktion des Angeschuldigten vor oder im Kollisionszeitpunkt hätten sich nicht ergeben.

All dies und die beim Geschädigten im Unfallzeitpunkt bestehenden Blutalkoholkonzentration von 1,87 ‰ begründen in der Gesamtschau praktische Zweifel an der Vermeidbarkeit des tödlichen Unfallausgangs durch eine den Sichtverhältnissen angepasste Fahrweise des Angeschuldigten.

Soweit die Staatsanwaltschaft in der Beschwerdebegründung annimmt, der Zeuge ... hätte den Geschädigten auf dem Seitenstreifen wahrnehmen müssen, falls dieser sich dort aufgehalten hätte, fehlt eine belastbare Beweisgrundlage. Denn der Zeuge ... hat bereits nicht bekundet, auf den Seitenstreifen vor dem 100 Meter vorausfahrenden Fahrzeug des Angeschuldigten geachtet zu haben.

Auch wenn sich der Geschädigte nach den Zeugenangaben vor dem Unfall bereits auf der Fahrbahn bewegt haben muss, so besagt dies nicht, dass der Angeschuldigte ihn früher hätte bemerken können.Denn der Angeschuldigte folgte den Zeugen, die den Geschädigten zuvor passiert hatten, nicht unmittelbar nach.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 StPO.