VG Köln, Beschluss vom 18.07.2013 - 19 L 877/13
Fundstelle
openJur 2013, 31260
  • Rkr:
Tenor

Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung gem. § 123 Abs. 1 verpflichtet, dem Antragsteller zum 01.08.2013 vorläufig einen ganztägigen Betreuungsplatz in einer städtischen Kindertageseinrichtung zur Verfügung zu stellen, die nicht weiter als 5,0 km (Wegstreckenentfernung) vom Wohnort des Antragstellers entfernt liegt.

Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens trägt die Antragsgegnerin.

Gründe

Der Antrag des Antragstellers,

die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung gem. § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu verpflichten, ihm zum 01.08.2013 vorläufig einen ganztägigen Betreuungsplatz in einer ihm wohnortnahen städtischen Kindertageseinrichtung in Köln-Sülz oder Köln-Lindenthal zur Verfügung zu stellen,

hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.

Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann eine einstweilige Anordnung zur Sicherung eines Rechts des Antragstellers getroffen werden, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung dieses Rechts vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach Satz 2 dieser Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig. Hierbei sind gemäß § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO die tatsächlichen Voraussetzungen für das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) und die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) glaubhaft zu machen.

Der Antragsteller hat zunächst einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Dem am 02.09.2010 geborenen Antragsteller steht gem. § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII in der ab dem 01.08.2013 geltenden Fassung (SGB VIII n.F., BGBl. I 2008, 2403) ab dem 01.08.2013 ein Anspruch auf einen ganztägigen Betreuungsplatz in einer wohnortnahen städtischen Kindertageseinrichtung zu. Nach der genannten Bestimmung hat ein Kind, das das erste Lebensjahr vollendet hat, bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung. Die genannte Vorschrift des § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII n. F. gewährt zwar keinen Anspruch auf die Bereitstellung eines Platzes in einer bestimmten Kindertageseinrichtung. Allerdings muss die Kindertageseinrichtung für das Kind und dessen Eltern in zumutbarer Zeit zu erreichen sein. Dies gebietet der mit der Einführung des gesetzlichen Rechtsanspruchs auf Förderung von Kindern unter 3 Jahren verbundene Zweck, der darin besteht, das Aufwachsen von Kindern und die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben zu verbessern,

vgl. Begründung des Entwurfs des Kinderförderungsgesetzes der Fraktionen

der CDU/CSU und SPD, BT-Drs. 16/9299, S. 1.

Die mit der Gesetzesänderung beabsichtigte Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben erfordert es, dass der Betreuungsplatz von der Wohnung des Kindes in vertretbarer Zeit zu erreichen ist. Dass der Rechtsanspruch nach § 24 Abs. 2 SGB VIII n.F. die Bereitstellung eines Kindergartenplatzes in zumutbarer Wohnortnähe umfasst, verdeutlicht zudem die Bestimmung des § 24 Abs. 5 SGB VIII n.F., wonach die Träger der öffentlichen Jugendhilfe verpflichtet sind, Eltern oder Elternteile über das Platzangebot der frühkindlichen Förderung "im örtlichen Einzugsbereich" zu informieren und sie bei der Auswahl zu beraten. Im Übrigen sind die Träger der öffentlichen Jugendhilfe nach § 80 Abs. 2 Nr. 1, 3 SGB VIII - in der bereits vor dem 01.08.2013 geltenden Fassung gehalten, Einrichtungen der Jugendhilfe so zu planen, dass Kontakte im sozialen Umfeld der Familie erhalten und gepflegt werden können und dass Mütter und Väter Aufgaben in der Familie und Erwerbstätigkeit besser miteinander vereinbaren können.

In städtischen Bereichen des Stadtgebiets der Antragsgegnerin ist die Grenze der Zumutbarkeit für Eltern und Kind überschritten, wenn die Kindertageseinrichtung in einer Entfernung von mehr als 5 km (Wegstreckenentfernung) vom Wohnort des Kindes gelegen ist. Jenseits der 5 km-Entfernungsgrenze liegende Einrichtungen sind angesichts der im städtischen Bereich bestehenden Verkehrsdichte für das Kind und die Eltern unzumutbar. Bei pauschalierender Betrachtung werden die Fahrzeiten für das Zurücklegen einer Wegstrecke von mehr als 5 km in städtischen Ballungsräumen - insbesondere zu den Hauptverkehrszeiten am Morgen und am frühen Abend - in der Regel das zumutbare Maß überschreiten,

vgl. Gemeinsames Papier der kommunalen Spitzenverbände und der Landesjugendämter in NRW - Handreichung für die Jugendämter -, S. 4, das für die Erfüllung des Rechtsanspruchs im städtischen Raum die Bereitstellung von Einrichtungen in einer Entfernung von bis zu 5 km empfiehlt.

Beträgt die Wegstrecke vom Wohnort des Kindes bis zur Kindertageseinrichtung bis zu 5 km, ist es grundsätzlich Sache der Eltern, den Transport ihres Kindes zur Einrichtung in einer für sie und das Kind angemessenen Weise zu organisieren.

Der nach § 24 Abs. 2 SGB VIII n.F. bestehende Anspruch des Antragstellers auf frühkindliche Förderung ist nicht durch die Zuteilung eines Platzes in der Kindertagesstätte in der Escher Straße 152 erfüllt. Die Betreuung in der Kindertageseinrichtung Escher Straße 152 ist für den Antragsteller nicht zumutbar, weil die Einrichtung mehr als 5,0 km, nämlich 5,3 km von seinem Wohnort entfernt liegt.

Der Anspruch des Antragstellers nach § 24 Abs. 2 SGB VIII n.F. ist auch nicht dadurch entfallen, dass die Kapazität aller wohnortnahen Kindertageseinrichtungen in den Stadtteilen Köln-Lindenthal und Köln-Sülz nach Angaben der Antragsgegnerin erschöpft ist. Nach dem eindeutigen Wortlaut und dem Zweck des § 24 Abs. 2 SGB VIII n.F. kann dem Anspruch auf frühkindliche Förderung die Kapazitätserschöpfung nicht entgegengehalten werden. Der Anspruch nach § 24 Abs. 2 SGB VIII n.F. ist ein unbedingter Rechtsanspruch. Ist die Kapazität in zumutbaren Tageseinrichtungen erschöpft, gewährt § 24 Abs. 2 SGB VIII n.F. einen Anspruch auf Kapazitätserweiterung, bis für alle Kinder im relevanten Alter ein zumutbarer Platz zur Verfügung gestellt ist,

vgl. Rixen, NJW 2012, 2839, 2840 f..

Der Antragsteller kann nicht auf ein Angebot in der Kindertagespflege verwiesen werden. Der in § 24 Abs. 2 SGB VIII n.F. geregelte Anspruch auf Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege begründet ein Recht auf zwei nebeneinander bestehende Betreuungsformen, für die sich die Eltern stellvertretend für ihr Kind alternativ entscheiden können. Der nicht eindeutige Wortlaut des § 24 Abs. 2 SGB VIII n.F. erlaubt zwar auch eine Auslegung in dem Sinne, dass das Jugendamt bei der Erfüllung des Anspruchs nach § 24 Abs. 2 SGB VIII n.F. die Befugnis besitzt, darüber zu entscheiden, durch welche Betreuungsform der Anspruch auf frühkindliche Förderung erfüllt werden soll,

vgl. Schübel-Pfister, NVwZ 2013, 385 (389).

Sinn und Zweck sowie die Entstehungsgeschichte des Gesetzes zur Förderung von Kindern unter drei Jahren in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege (Kinderförderungsgesetz - KiföG) gebieten es aber, den Eltern als Vertreter für ihr Kind das Auswahlrecht für die Wahl zwischen der Betreuung in einer Tageseinrichtung und der Tagespflege einzuräumen. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte für die Wahl zwischen den für frühkindliche Förderung in Betracht kommenden Betreuungsformen ausschließlich der Wille der Eltern maßgeblich sein,

vgl. die Begründung der Bundestagsfraktionen der CDU/CSU und SPD zu § 24 Abs. 2 SGB VIII n.F., BT-Drs. 16/9299, S. 15: "Dieser Rechtsanspruch wird entsprechend den Wünschen bzw. Bedürfnissen des Kindes und der Eltern sowohl in Tageseinrichtungen...als auch in der Kindertagespflege...erfüllt."; die damalige Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend von der Leyen in der 2. Lesung des Bundestages, BT-PlPr. 16/180, S. 19236 (D): "...2013 wird jedes Kind mit Vollendung des ersten Lebensjahres einen Rechtsanspruch auf Förderung in einer Kita oder in der Tagespflege haben... Wir unterstützen diesen Weg mit 4 Milliarden Euro; denn wir wollen mehr frühe Bildung und echte Wahlfreiheit für Eltern herstellen. Echte Wahlfreiheit heißt dabei für mich auch: Wir werden den Eltern nicht vorschreiben, wo und wie sie ihre Kinder betreuen und fördern. Sie sollen selbst organisieren, wie sie ihren Alltag mit Kindern leben, ob zu Hause, in einer altersgemischten Gruppe, einer Krippe oder der Kindertagespflege, ob wohnortnah oder betriebsnah. Wie immer sie ihren Alltag organisieren wollen, das liegt alleine im Ermessen der Eltern."

Die Eltern des Antragstellers haben für diesen von dem gesetzlich eingeräumten Wahlrecht Gebrauch gemacht und sich für eine Betreuung des Antragstellers in einer Tageseinrichtung entschieden.

Der Antragsteller hat auch den erforderlichen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Ein Abwarten einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren ist ihm nicht zuzumuten. Der auf 2 Jahre beschränkte Anspruch auf frühkindliche Förderung gem. § 24 Abs. 2 SGB VIII n.F. ginge ab dem 01.08.2013 allein durch Zeitablauf fortschreitend unter und könnte bei einem Abwarten einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache voraussichtlich weitgehend nicht mehr geltend gemacht werden, weil ein Platz in einer Kindertageseinrichtung rückwirkend nicht mehr zur Verfügung gestellt werden könnte.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.

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