SG Karlsruhe, Urteil vom 27.03.2013 - S 12 AS 184/13
Fundstelle
openJur 2013, 27479
  • Rkr:

Ein mit einfachem Brief versandter Vermittlungsvorschlag gilt nicht schon deshalb als zugegangen, weil beim Jobcenter kein Postrücklauf zu verzeichnen ist. § 37 Abs. 2 SGB X findet keine Anwendung.

Tenor

1. Der Bescheid vom 11.10.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.01.3012 wird aufgehoben.

2. Die Beklagte erstattet der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten.

3. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer Herabsetzung von Leistungen um 30 v.H. für den Zeitraum vom 01.10.2012 bis zum 31.01.2013.

Die am ... 1982 geborene Klägerin lebt gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihren zwei Töchtern in einer Bedarfsgemeinschaft. Zuletzt wurden ihnen mit Bescheid vom 30.04.2012 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 01.06.2012 bis zum 31.07.2012 in Höhe von 1088,00 EUR, für die Zeit vom 01.08.2012 bis zum 31.08.2012 in Höhe von 1158,00 EUR und für die Zeit vom 01.09.2012 bis zum 30.11.2012 in Höhe von 1088,00 EUR bewilligt. Dabei entfielen auf die Klägerin Regelleistungen in Höhe von jeweils 251,16 EUR.

Am 31.07.2012 wurde an die Klägerin mit einfachem Brief ein Vermittlungsvorschlag als Raumpflegerin in der ... OHG Pflegeeinrichtung versandt. Außerdem soll laut Verbisvermerk des persönlichen Ansprechpartners vom 31.07.2012 der Vermittlungsvorschlag telefonisch besprochen worden sein. Am 22.08.2012 teilte der in dem Vermittlungsvorschlag genannte Arbeitgeber der Beklagten schriftlich mit, die Klägerin habe sich nicht gemeldet beziehungsweise nicht beworben. Deswegen wurde die Klägerin mit Schreiben vom 24.08.2012 gemäß § 24 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zum Sachverhalt angehört und gleichzeitig darauf hingewiesen, dass der Tatbestand für den Eintritt einer Absenkung des Arbeitslosengeldes II gemäß § 31 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) gegeben sein könnte.

Da auf das Anhörungsschreiben eine Reaktion der Klägerin nicht erfolgte, stellte die Beklagte mit Bescheid vom 11.10.2012 den Eintritt einer Minderung des Arbeitslosengeldes II (Sanktion) in Höhe von 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs (101,10 EUR) für die Zeit vom 01.10.2012 bis zum 31.01.2013 fest.

Zur Begründung ihres am 18.10.2012 erhobenen Widerspruchs trug die Klägerin vor, eine Postsendung mit dem Vermittlungsvorschlag habe sie nicht erhalten, weshalb es ihr auch nicht möglich gewesen sei, sich bei der Pflegeeinrichtung ... zu bewerben.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 07.01.2013 zurück. Es sei davon auszugehen, dass die Klägerin den Vermittlungsvorschlag erhalten habe. Ein entsprechender Postrücklauf sei nicht zu verzeichnen gewesen. Allein der unsubstantiierte Vortrag, die Post nicht erhalten zu haben, reiche nicht aus, Zweifel am Zugang der Einladung aufkommen zu lassen (LSG Neubrandenburg, Urteil vom 14.07.1999, Az.: L 2 AL 16/98; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.04.2003, Az.: L 13 AL 4782/02). Zudem sei das Stellenangebot am 31.07.2012 telefonisch besprochen und eine Rechtsfolgenbelehrung erteilt worden.

Deswegen hat die Klägerin am 11.01.2013 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben. Zu deren Begründung führt sie aus, es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass ihr das Stellenangebot über den Briefkasten zugegangen sei. Auch nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises sei ein Zugang nicht anzunehmen. Hier sei auf die umfangreiche Rechtsprechung der Zivilgerichtsbarkeit zu § 130 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) über den Zugang von postalisch übermittelter Willenserklärungen zu verweisen. Danach genüge für einen Anscheinsbeweis des tatsächlichen Zugangs nicht einmal der Nachweis, dass ein Schreiben als Einschreibesendung abgesandt worden ist. Soweit sich die Beklagte auf die zitierte Rechtsprechung von Landessozialgerichten berufe, verkenne sie, dass denen die Fiktion des Zugangstages bei Verwaltungsakten zugrunde lag. Ein Stellenangebot stelle jedoch keinen Verwaltungsakt dar. Im Übrigen werde bestritten, dass das Stellenangebot am 31.07.2012 telefonisch besprochen worden sei.

Die Klägerin beantragt,

der Bescheid vom 11.10.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.01.2013 wird aufgehoben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen und die Berufung zuzulassen wegen grundsätzlicher Bedeutung.

Sie hält an der von ihr getroffenen Entscheidung fest und führt ergänzend aus, der Zugang eines Stellenangebots könne nicht anders beurteilt werden als der eines Verwaltungsaktes. Die Zustellung mit einfachem Brief per Post erfolge in beiden Fällen in identischer Weise. Maßgebend seien deswegen die im Widerspruchsbescheid zitierten Urteile der Landessozialgerichte Baden-Württemberg und Neubrandenburg. Auffällig sei, dass die Klägerin offensichtlich alle an sie gerichteten Schreiben und Bescheide erhalten habe. Lediglich das Stellenangebot soll nicht zugegangen sein. Zum Gegenbeweis, dass das Stellenangebot am 31.07.2012 telefonisch besprochen worden sei, werde auf den Beratungsvermerk vom 31.07.2012 verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakte sowie auf die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.

Gründe

I.

Die Klage ist zulässig und begründet. Soweit die Beklagte mit Bescheid vom 11.10.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.01.2013 das Arbeitslosengeld II um 30 Prozent, mithin um 101,10 EUR, gemindert hat, ist dies rechtswidrig. Die Klägerin ist hierdurch in ihren Rechten verletzt.

1. Der Tatbestand für den Eintritt einer Minderung des Arbeitslosengeldes II gemäß § 31 Abs. 1 SGB II ist nicht erfüllt.

Gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II verletzen erwerbsfähige Leistungsberechtigte ihre Pflichten, wenn sie trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis

1. sich weigern, in der Eingliederungsvereinbarung oder in dem diese ersetzenden Verwaltungsakt nach § 15 Absatz 1 Satz 6 festgelegte Pflichten zu erfüllen, insbesondere in ausreichendem Umfang Eigenbemühungen nachzuweisen,

2. sich weigern, eine zumutbare Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit nach § 16 d oder ein nach § 16 e gefördertes Arbeitsverhältnis aufzunehmen, fortzuführen oder deren Anbahnung durch ihr Verhalten verhindern,

3. eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit nicht antreten, abbrechen oder Anlass für den Abbruch gegeben haben.

Dies gilt nicht, wenn erwerbsfähige Leistungsberechtigte einen wichtigen Grund für ihr Verhalten darlegen und nachweisen (§ 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II).

Eine Pflichtverletzung im Sinne von § 31 Abs. 1 Nr. 2 SGB II liegt nicht vor. Es gibt keinen Nachweis dafür, dass die Klägerin den per Post versandten Vermittlungsvorschlag vom 31.07.2012 erhalten hat. Insbesondere kann sich die Beklagte nicht auf die Zugangsfiktion des § 37 Abs. 2 SGB X berufen.

a. Die Bekanntgabe behördlicher Schreiben ist gesetzlich nicht definiert, vielmehr wird sie durch einzelne Normen lediglich vorausgesetzt, wie zum Beispiel § 37 SGB X (vgl. § 41 VwVfg, § 122 AO) für die Bekanntgabe von Verwaltungsakten. Nach ganz herrschender Meinung ist daher für das Verständnis des Bekanntgabebegriffs auf die zivilrechtlichen Vorschriften über den Zugang empfangsbedürftiger Willenserklärungen zurückzugreifen, soweit nicht die verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorschriften Abweichungen vorsehen (vgl. Pattar in jurisPK-SGB X, § 37 SGB X, Rdnr. 21). Hiervon war auch der Gesetzgeber beim ersten Entwurf des VwVfG ausgegangen (vgl. BT-Drucks. 7/910, S. 61). § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB, auf den demnach für die Definition des Zugangs zurückzugreifen ist, bestimmt, dass eine unter Abwesenden abgegebene Willenserklärung erst mit deren Zugang wirksam wird. Eine verkörperte Willenserklärung, beispielsweise in Form eines Briefes, geht dann zu, wenn sie so in den Machtbereich des Empfängers gelangt ist, dass dieser bei Zugrundelegung normaler Verhältnisse die Möglichkeit zur Kenntnisnahme hat (ständige Rspr., vgl. z.B. BSG vom 03.06.2004, Az.: B 11 AL 71/03 R). Dies ist in der Regel dann der Fall, wenn sie so in den Briefkasten des Empfängers eingelegt wird, dass spätestens bei der nächsten Leerung mit deren Kenntnisnahme gerechnet werden kann. Die Darlegungs- und Beweislast für den tatsächlichen Zugang einer Willenserklärung obliegt dabei demjenigen, der sich auf deren Inhalt beruft und daraus Rechte herleiten will (vgl. Reichold, jurisPK - BGB Band 1, § 130, Rdnr. 41). Der Erklärende kann sich für den Zugang in der Regel auch nicht auf einen Anscheinsbeweis berufen; denn es kommt regelmäßig vor, dass die aufgegebene Sendung nicht ankommt und verloren geht (vgl. BAG vom 14.07.1960, Az.: 2 AZR 173/59 - NJW 1961, 2132; OLG Frankfurt vom 03.02.1995, Az.: 25 U 155/94 - OLGR Frankfurt 1995, 65-66). Allein der Nachweis der Absendung reicht hierfür nicht aus (vgl. OLG München vom 11.08.2003, Az.: 29 W 1912/03 - OLGR München 2003, 366-367).

Die Beklagte kann sich mithin nicht mit Erfolg darauf berufen, dass die Klägerin den mit einfachem Brief versandten Vermittlungsvorschlag erhalten hat.

b. Zu einem anderen Ergebnis trägt auch nicht die in § 37 Abs. 2 SGB X normierte Zugangsfiktion bei.

Danach gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der im Inland durch die Post übermittelt worden ist, am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben (§ 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X). Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen (§ 37 Abs. 2 Satz 3 SGB X).

Bei einem Vermittlungsvorschlag handelt es sich um ein einfaches behördliches Schreiben, welches unmittelbar keine Rechtsfolgen auslöst. Es handelt sich mithin nicht um einen Verwaltungsakt im Sinne von § 31 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt eine hoheitliche Maßnahme auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts mit unmittelbarer Rechtswirkung nach außen. Die Beklagte kann sich daher nicht mit Erfolg auf die Zugangsfiktion gemäß § 37 Abs. 2 SGB X berufen, welche nach ihrem eindeutigen Wortlaut nur auf Verwaltungsakte Anwendung findet. Eine analoge Anwendung für andere Handlungsformen der Verwaltung kommt nicht in Betracht (vgl. Pattar, jurisPK-SGB X, § 37, Rdnr. 111).

Doch selbst wenn man § 37 Abs. 2 SGB X analog anwenden würde, würde dies an dem fehlenden Nachweis des Zugangs bei der Klägerin nichts ändern.

Zum einen gilt die Bekanntgabefiktion nach Satz 3 der Vorschrift nicht, wenn der Verwaltungsakt nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt tatsächlich zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und seinen Zeitpunkt nachzuweisen. Dabei besteht weitgehende Einigkeit dahingehend, dass Zweifel bereits dann vorliegen, wenn der Zugang überhaupt bestritten wird. Der betroffenen Person dürfte regelmäßig eine Substantiierung überhaupt nicht möglich sein, sie ist daher auch nicht erforderlich (vgl. BSG vom 26.07.2007, Az.: B 13 R 4/06 R; LSG Baden-Württemberg vom 14.03.2008, Az.: L 8 AS 5579/07). In einem solchen Fall werden daher bereits durch bloßes Bestreiten Zweifel am Zugang ausgelöst.

Da die Klägerin den Zugang des Vermittlungsvorschlages bestritten hat, oblag es hier der Beklagten, den Zugang nachzuweisen.

Zum anderen ist es aber auch ständige Rechtsprechung, dass die Zugangsfiktion nur dann zur Anwendung kommt, wenn sich in der Akte ein Vermerk über die Aufgabe zur Post befindet (vgl. BSG vom 28.11.2006, Az.: B 2 U 33/05 R; LSG Baden-Württemberg vom 10.06.2011, Az.: L 12 AS 1077/11). Die Verwaltungsakten der Beklagten enthalten keinen solchen Vermerk darüber, wann der Vermittlungsvorschlag vom 31.07.2012 an die Klägerin versandt worden ist. Ein Verbisvermerk erfüllt diese Anforderungen nicht.

c. Soweit sich die Beklagte darauf beruft, mit der Klägerin sei der Vermittlungsvorschlag unter Belehrung über die Rechtsfolgen telefonisch besprochen worden, kann dies auch nicht zu einem anderen Ergebnis führen. Zum einen gelingt bereits der Nachweis nicht, dass ein solches Telefonat überhaupt stattgefunden hat. Die Klägerin bestreitet dies. Zum anderen ist aber auch fraglich, ob eine telefonische Besprechung eines Vermittlungsvorschlags die Pflichten im Sinne von § 31 Abs. 1 SGB II herbeiführen kann. Schließlich muss einer erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person die Möglichkeit eingeräumt werden, von dem Arbeitgeber, von dem Inhalt, dem Ort, und den Bedingungen der Tätigkeit Kenntnis zu erlangen um sich bewerben zu können. Auch bleiben Zweifel bestehen, ob eine der ständigen Rechtsprechung des BSG genügende Rechtsfolgenbelehrung rein telefonisch erteilt werden kann. Der betroffenen Person muss auch hier die Möglichkeit gegeben werden, die eventuell eintretenden Rechtsfolgen nochmals nachlesen zu können.

Nach alledem war der Bescheid vom 11.10.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.01.2013 rechtswidrig und aufzuheben.

II.

Die Entscheidung hinsichtlich der Kosten beruht auf § 193 SGG.

III.

Die Berufung wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG).