OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 21.05.2013 - 18 W 68/13
Fundstelle
openJur 2013, 27371
  • Rkr:

Wegen der Regelung des § 15a Abs. 1 RVG wirkt sich die von Vorbemerkung 3 Abs. 4 RVG VV vorgesehene hälftige Anrechnung der Geschäftsgebühr nur dann auf die Festsetzung der gemäß § 45 Abs. 1 RVG von der Staatskasse zu zahlenden Verfahrensgebühr aus, wenn auf die Geschäftsgebühr ein Betrag gezahlt wurde, der so hoch ist, dass die Festsetzung der vollen Verfahrensgebühr gegen die Staatskasse dazu führen würde, dass der Rechtsanwalt wegen des Anfalls von Geschäfts- und Verfahrensgebühr mehr erhielte als die um die Hälfte der Geschäftsgebühr verminderte Summe von Geschäfts- und Verfahrensgebühr.

Tenor

Auf die Erinnerung der Antragstellerin vom 28.02.2013 wird der Beschluss des Landgerichts Limburg vom 14.02.2013 abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die der Rechtsanwältin ... aus der Staatskasse zu erstattende Vergütung wird auf € 833,- festgesetzt.

Das Beschwerdeverfahren ist gerichtsgebührenfrei.

Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

Gründe

I.

Nachdem die Antragstellerin vorgerichtlich für den Beklagten tätig geworden und für diese Tätigkeit gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 RVGin Verbindung mit Nr. 2300 VV RVG eine 1,3 Geschäftsgebühr aus einem Streitwert von € 17.590,37 in Höhe von € 787,80angefallen war, führten die Parteien vor dem Landgericht Limburg einen Rechtsstreit über den selben Streitgegenstand. In diesem bewilligte das Landgericht dem Beklagten mit Beschluss vom 13.07.2012 (Bl. 64 d. A.) Prozesskostenhilfe und ordnete ihm die Antragstellerin bei. Nach mündlicher Verhandlung am 09.01.2013, in der die Antragstellerin für den Beklagten auftrat (vgl.Sitzungsprotokoll vom 09.01.2013, Bl. 90 d. A.), verurteilte das Landgericht den Beklagten mit Urteil vom 20.01.2013 (Bl. 108 bis 117 d. A.) gemäß den Anträgen der Klägerin. Auf die vorgerichtlich angefallene Geschäftsgebühr zahlte der Beklagte lediglich einen Betrag von € 100,-.

Die Antragstellerin beantragte mit Schriftsatz vom 07.02.2013,ihr für ihre Tätigkeit in erster Instanz eine Vergütung in Höhe von insgesamt € 833,- gegen die Staatskasse festzusetzen. Auf diesen Antrag setzte das Landgericht mit Beschluss vom 14.02.2013einen Betrag von nur € 412,22 zu Gunsten der Antragstellerin gegen die Staatskasse fest. Mit Schriftsatz vom 28.02.2013 erhob die Antragstellerin ein als „Beschwerde“ bezeichnetes Begehren und beanstandete, dass das Landgericht auf die erstinstanzliche angefallene Verfahrensgebühr die wegen ihrer vorgerichtlichen Tätigkeit entstandene Geschäftsgebühr hälftig, d.h. in Höhe von € 393,90, mit der Folge angerechnet hatte, dass wegen der Verfahrensgebühr keinen Betrag mehr festzusetzen war. Das Landgericht behandelte das Begehren der Antragstellerin als Erinnerung und wies diese nach Nichtabhilfe durch die Rechtspflegerin mit – der Antragstellerin am 19.03.2013zugegangenem – Beschluss des Einzelrichters vom 18.03.3013zurück.

Mit am 26.03.2013 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz vom selben Tage hat die Antragstellerin sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts vom 18.03.2013 erhoben und dessen Abänderung um € 420,78 zu ihren Gunsten begehrt. Nachdem das Landgericht der sofortigen Beschwerde mit Beschluss vom 02.04.2013nicht abgeholfen hat, hat der Beschwerdegegner mit Schriftsatz vom 29.04.2013 zu dem Rechtsmittel Stellung genommen. Mit Beschluss vom 16.05.2013 hat der Einzelrichter des Senats das Verfahren gemäß §56 Abs. 2 Satz 1, 2. Halbsatz RVG in Verbindung mit § 33 Abs. 8Satz 2, 3. Alt. RVG auf den Senat übertragen.

II.

1. Die sofortige Beschwerde ist gemäß als § 56 Abs. 2 Satz 1, 2.Halbsatz RVG in Verbindung mit § 33 Abs. 3 RVG statthaft.

Sie ist zulässig; insbesondere ist die von § 56 Abs. 2 Satz 1,2. Halbsatz RVG in Verbindung mit § 33 Abs. 3 Satz 1 RVG für die Zulässigkeit der Beschwerde vorausgesetzte Mindestbeschwer überschritten. Auch die in §§ 56 Abs. 2 Satz 1, 2. Halbsatz, 33Abs. 3 Satz 3 RVG normierte Beschwerdefrist ist gewahrt.

2. Die sofortige Beschwerde hat in der Sache Erfolg.

Zutreffend hat das Landgericht das mit Schriftsatz der Antragstellerin vom 28.02.2013 erhobene Begehren als Erinnerung qualifiziert; es hätte jedoch auf diese hin den Beschluss vom 14.02.2013 antragsgemäß abändern müssen. Zwar ist das Landgericht bei der Zurückweisung der Erinnerung der bislang ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats gefolgt. Der Senat hält indes an dieser nicht mehr fest (siehe dazu unten unter 2. b) aa)).

a) Die Erinnerung vom 28.02.2013 war zulässig, § 56 Abs. 1 Satz 1 RVG.

b) Die Erinnerung war auch begründet.

Die Antragstellerin kann als dem Beklagten gemäß § 121 ZPObeigeordnete Rechtsanwältin für ihre Tätigkeit in der ersten Instanz aus § 45 Abs. 1 RVG eine Vergütung in Höhe von insgesamt € 833,- von der Staatskasse beanspruchen, so dass der Beschluss des Landgerichts vom 14.02.2013 entsprechend abzuändern ist.

aa) Gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 RVG in Verbindung mit Vorbemerkung 3Abs. 2 VV RVG und Nr. 3100 VV RVG steht der Antragstellerin für das Betreiben des Geschäfts der Vertretung des Beklagten im Rechtsstreit erster Instanz eine 1,3 Verfahrensgebühr aus dem Streitwert von € 17.590,37 zu, die € 353,60 beträgt, da sich die Höhe der dem beigeordneten Rechtsanwalt von der Staatskasse zu zahlenden Vergütung nach § 49 RVG bestimmt.

Diese Gebühr ist zugunsten der Antragstellerin in voller Höhe gegen die Staatskasse festzusetzen.

Zwar regelt Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG, dass eine vorgerichtlich angefallene Geschäftsgebühr hälftig auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens angerechnet wird,wenn und soweit die außergerichtliche und die gerichtliche Tätigkeit des Rechtsanwalts – wie hier - denselben Gegenstand betreffen. Auf diese Anrechnung kann sich die Staatskasse auch trotz der Regelung des § 15a Abs. 2 RVG berufen, weil sie nicht „Dritte“ im Sinne dieser Norm ist (vgl. Beschluss des erkennenden Senats vom 12.02.2010, Az.: 18 W 3/10).

Jedoch sieht § 15a Abs. 1 RVG vor, dass der Rechtsanwalt in Fällen, in denen eine Gebühr auf eine andere Gebühr anzurechnen ist, beide Gebühren fordern kann, jedoch nicht mehr, als den um den Anrechnungsbetrag verminderten Gesamtbetrag beider Gebühren. Der Rechtsanwalt hat deshalb die Wahl, welche Gebühr er fordert, so dass er in Fällen wie dem vorliegendem, in dem die Gebühren von unterschiedlichen Personen geschuldet werden (der Beklagte schuldet die Geschäftsgebühr, die Staatskasse gemäß § 45 Abs. 1 RVG die Verfahrensgebühr) auch wählen kann, welchen Schuldner er in Anspruch nimmt. Beantragt er – wie vorliegend die Antragstellerin – die Festsetzung einer vollen Verfahrensgebühr gegen die Staatskasse, macht er von diesem Wahlrecht in zulässiger Weise Gebrauch. Eine Einschränkung des aus § 15a Abs. 1 RVG folgenden Wahlrechts des Rechtsanwalts dahingehend, dass er von diesem nicht zu Lasten der Staatskasse Gebrauch machen kann, ist weder dem Wortlaut dieser Regelung noch den Gesetzgebungsmaterialien (vgl. BT-Drucksache 16/12717 „Zu Nummer 3 – neu“) zu entnehmen.

Der erkennende Senat gibt deshalb seine – seit dem oben zitierten Beschluss vom 12.02.2010, Az.: 18 W 3/10 ständige –Rechtsprechung (vgl. auch Beschluss vom 12.12.2011, Az.: 18 W214/11, RVGreport, 104-105), der zufolge der Anfall der Geschäftsgebühr wegen der in Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVGnormierten Anrechnung stets zu einer Reduzierung der von der Staatskasse zu zahlenden Verfahrensgebühr führt, auf und schließt sich der Auffassung des 1. Senats für Familiensachen des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main (vgl. Beschluss vom 06.03.2012, Az.: 1 WF 58/12) und des 4. Senats für Familiensachen des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main (Beschluss vom 20.03.2012,Az.: 4 WF 204/11, FamRZ 2013, 323-324) an, nach der sich die von Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG vorgesehene Anrechnung nur dann auf die gemäß § 45 Abs. 1 RVG von der Staatskasse zu zahlende Verfahrensgebühr auswirkt, wenn die Geschäftsgebühr gezahlt worden ist.

In Anbetracht des in § 15a Abs. 1 RVG bestimmten Höchstbetrags,den der Rechtsanwalt fordern darf, ist dies dahin zu konkretisieren, dass die Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr erst dann für die Festsetzung der Vergütung gemäߧ§ 45 Abs. 1, 55 RVG von Bedeutung ist, wenn auf die Geschäftsgebühr ein Betrag gezahlt wurde, der so hoch ist, dass die Festsetzung der vollen Verfahrensgebühr gegen die Staatskasse dazu führen würde, dass der Rechtsanwalt wegen des Anfalls von Geschäfts- und Verfahrensgebühr mehr erhielte als die um die Hälfte der Geschäftsgebühr verminderte Summe von Geschäfts- und Verfahrensgebühr. Die auf die Geschäftsgebühr erbrachten Zahlungen wirken sich also erst auf die festzusetzende Verfahrensgebühr aus,wenn mehr als die Hälfte des Betrags der angefallenen Geschäftsgebühr gezahlt wurde. Ist etwa eine Geschäftsgebühr zu einem Satz von 1,3 angefallen, ist die Verfahrensgebühr vollumfänglich gegen die Staatskasse festzusetzen, solange nicht auf die Geschäftsgebühr ein Betrag gezahlt wurde, der 0,65 der Geschäftsgebühr übersteigt. Wurde ein höherer Betrag gezahlt, ist die Verfahrensgebühr um den 0,65 der Geschäftsgebühr übersteigenden gezahlten Betrag vermindert festzusetzen.

Der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle, der die dem beigeordneten Rechtsanwalt aus der Staatskasse zu gewährende Vergütung gemäß § 55Abs. 1 Satz 1 RVG festzusetzen hat, kann feststellen, ob anzurechnende Zahlungen erfolgt sind, weil der die Festsetzung beantragende Rechtsanwalt gemäß § 55 Abs. 5 Satz 2 und Satz 3 RVGden Satz oder Betrag der Geschäftsgebühr nebst dem dieser zugrunde gelegten Wert sowie auf diese Gebühr erhaltene Zahlungen anzugeben hat.

Da der Betrag von € 100,-, den der Beklagte auf die Geschäftsgebühr gezahlt hat, die Hälfte der vorliegend in Höhe von € 787,80 angefallenen Geschäftsgebühr nicht übersteigt, ist die Verfahrensgebühr von € 353,60 vollumfänglich festzusetzen.

bb) Hierzu addieren sich eine wegen der Vertretung des Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung am 09.01.2013 gemäß § 2 Abs. 2Satz 1 RVG in Verbindung mit Nr. 3104 VV RVG und § 49 RVG aus dem Streitwert von € 17.590,37 in Höhe von € 326,40entstandene 1,2 Terminsgebühr und die Pauschale für Entgelte für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen von € 20,-, die die Antragstellerin gemäß § 45 Abs. 1 RVG in Verbindung mit § 2Abs. 2 Satz 1 RVG und Nr. 7002 VV RVG beanspruchen kann.

cc) Der Antragstellerin steht aus § 45 Abs. 1, 2 Abs. 2 Satz 1RVG in Verbindung mit Nr. 7008 VV RVG auch die Zahlung des Betrages der auf die Zwischensumme von € 700,- anfallenden Umsatzsteuer von 19 Prozent, entsprechend € 133,-, zu.

dd) Damit errechnet sich ein Gesamtbetrag von € 833,-, der zugunsten der Antragstellerin gegen die Staatskasse festzusetzen ist.

3. Das Beschwerdeverfahren ist gemäß § 56 Abs. 2 Satz 2 RVGgerichtsgebührenfrei. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet, § 56 Abs. 2 Satz 3 RVG.

Eine – weitere – Beschwerde an den Bundesgerichtshof findet gemäß § 56 Abs. 2 Satz 1, 2. Halbsatz RVG in Verbindung mit § 33 Abs. 4 Satz 3, Abs. 6 RVG nicht statt.

Da § 56 Abs. 2 Satz 1, 2. Halbsatz RVG in Verbindung mit § 33Abs. 6 RVG eine vorrangige Sonderregelung gegenüber § 574 ZPOenthält, ist auch eine Rechtsbeschwerde nicht statthaft (Hartmann,Kostengesetze, 40. Aufl., § 56 Rdnr. 22)