BVerfG, Beschluss vom 01.07.1998 - 2 BvR 1758/97
Fundstelle
openJur 2013, 25464
  • Rkr:
Tenor

1. Der Beschluß des Landgerichts Regensburg -

Auswärtige Strafvollstreckungskammer Straubing - vom 6. Juni

1997 - 2 StVK 67/96 (11) - und der Beschluß des

Oberlandesgerichts Nürnberg vom 19. August 1997 - Ws 957/97 -

verletzen den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus

Artikel 3 Absatz 1 und Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Sie

werden aufgehoben.

2. Die Sache wird an das Landgericht Regensburg -

Auswärtige Strafvollstreckungskammer Straubing -

zurückverwiesen.

3. Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer

seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die

Voraussetzungen für die Herbeiführung einer gerichtlichen

Entscheidung nach § 109 StVollzG in einem Land, in dem kein

Vorverfahren (§ 109 Abs. 3 StVollzG) eingerichtet ist.

I.

Der Beschwerdeführer beantragte im

Frühjahr 1996, ihm den Erwerb und Besitz eines tragbaren

Kassettenabspielgeräts ("walkman") zu genehmigen, das er von

seinem Eigengeldguthaben zahlen wollte. Nachdem ihm dazu von

Beamten der Justizvollzugsanstalt widersprüchliche

Auskünfte erteilt worden waren, bat der Beschwerdeführer

am 24. Juni 1996 schriftlich um Klärung; sein "Antrag 86/96"

schloß mit dem Satz: "Ich bitte um eine verbindliche, ggf.

klagefähige Eröffnung". Daraufhin teilte ihm der für

ihn zuständige nachgeordnete Vollzugsbeamte am 1. Juli 1996

mit, der Kauf des Geräts werde nur zu Lasten seines

Einkaufsguthabens genehmigt; damit habe es sein Bewenden.

Unter dem 10. Oktober 1996 beantragte der

Beschwerdeführer bei der Strafvollstreckungskammer, die

Justizvollzugsanstalt zu verpflichten, ihm den Kauf des

Gerätes von seinem Eigengeldguthaben zu gestatten.

Demgegenüber vertrat die Justizvollzugsanstalt in ihrer

Stellungnahme vom 31. Oktober 1996 die Ansicht, der Antrag sei

unzulässig. Eine rechtsmittelfähige Entscheidung eines

hierzu befugten Beamten (Anstaltsleiter oder Abteilungsleiter) sei

nicht ergangen.

Mit dem hier angegriffenen Beschluß vom 6.

Juni 1997 verwarf die Strafvollstreckungskammer den Antrag als

unzulässig. Der Beschwerdeführer habe eine Entscheidung

zuständiger Personen nicht herbeigeführt; es sei ihm

genau bekannt gewesen, daß der Vollzugsbeamte, der die

angefochtene Maßnahme ausgesprochen habe, nicht zu diesem

Personenkreis gehöre. Damit fehle ihm das

Rechtsschutzbedürfnis für eine Anrufung der Gerichte.

Das Oberlandesgericht bestätigte diese

Entscheidung. Es hielt eine anfechtbare Maßnahme allerdings

dann für gegeben, wenn der Anstaltsleiter oder ein zu seiner

Vertretung befugter Beamter binnen angemessener Frist keine

Entscheidung getroffen habe.

II.

Der Beschwerdeführer rügt u.a. eine

Verletzung des Willkürverbotes (Art. 3 Abs. 1 GG). Der Sache

nach beanstandet er dabei, die Gerichte hätten ihm eine

Entscheidung in der Sache vorenthalten, obgleich sich die von den

nachgeordneten Vollzugsbediensteten getroffene Entscheidung sehr

wohl als "Maßnahme" im Sinne des § 109 Abs. 1 StVollzG

darstelle. Die innerorganisatorische Zuständigkeitsverteilung

in der Vollzugsverwaltung sei hierfür ohne Belang. Im

übrigen habe er durchaus annehmen können, daß auf

seinen Antrag auf rechtsmittelfähige Entscheidung und den

Hinweis des entscheidenden Vollzugsbediensteten, damit habe es sein

Bewenden, nunmehr eine verbindliche Stellungnahme der

Justizvollzugsanstalt vorgelegen habe.

III.

Das Bayerische Staatsministerium der Justiz erhielt

Gelegenheit zur Stellungnahme; es sah von einer solchen ab.

IV.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur

Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung von Grundrechten des

Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 lit. b

BVerfGG). Sie ist zur Sachentscheidung berufen, da die

zulässige Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet

ist. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das

Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§§ 93b Satz

1, 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

Die angegriffenen Beschlüsse beruhen auf

Erwägungen, die mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG als

Sachgründe nicht nachvollziehbar sind und daher gegen Art. 3

Abs. 1 GG in seiner Bedeutung als Willkürverbot

verstoßen (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>; 74, 358

<377>).

1. Nach ständiger Rechtsprechung des

Bundesverfassungsgerichts darf der durch die Verfahrensordnung

bestimmte Zugang zu den Gerichten nicht in unzumutbarer, aus

Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert

werden (vgl. BVerfGE 69, 381 <385>). Aus § 109 Abs. 1

Satz 2 StVollzG i.V.m. § 78a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 GVG ergibt

sich, daß bei der Strafvollstreckungskammer beantragt werden

kann, die Justizvollzugsanstalt zum Erlaß einer von ihr

abgelehnten oder unterlassenen Maßnahme zu verpflichten. Es

kommt den Strafvollstreckungsgerichten als den zuständigen

Fachgerichten zu, in Auslegung und Anwendung des § 109

StVollzG zu prüfen und festzustellen, ob die

Justizvollzugsanstalt die Maßnahme abgelehnt oder unterlassen

hat, über die der Antragsteller nun eine gerichtliche

Entscheidung begehrt. Soweit das Strafvollstreckungsgericht

verlangt, daß der Gefangene sein Anliegen der

Justizvollzugsanstalt in geeigneter Weise vorgetragen hat, bevor er

den Weg zum Gericht beschreitet, kann die darin liegende

Erschwerung des Zugangs zum Gericht auf Sachgründe

gestützt werden. Denn nur wenn der Gefangene zuvor die

Maßnahme vergeblich von der Anstalt erbeten hat, kann er auf

ein Bedürfnis nach gerichtlichem Rechtsschutz verweisen.

Anderes gilt, wenn das Gericht darüber hinaus

dem Antragsteller aufgibt, sein Begehren zunächst dem für

ihn zuständigen nachgeordneten Vollzugsbeamten vorzutragen und

erst, wenn dieser das Anliegen ablehnend verbeschieden hat, eine

förmliche Entschließung der Anstaltsleitung zu erbitten.

Ein solches gestuftes Vorgehen ist weder gesetzlich vorgeschrieben

noch sind Sachgründe dargelegt oder erkennbar, die vor Art. 19

Abs. 4 GG Bestand haben könnten. Demgemäß wird der

Gefangene einem zuständigen Vollzugsbeamten auch einen Antrag

übergeben dürfen, mit dem er die Entscheidung der

Anstaltsleitung erbittet, falls nicht seinem Begehren unmittelbar

entsprochen wird. Beschreitet der Gefangene diesen Weg und wird

seinem Anliegen nicht unmittelbar durch den Vollzugsbeamten

entsprochen, so liegt es nahe, daß dieser den Antrag, wenn er

ihn schon entgegengenommen hat, an die innerhalb der Anstalt

für die Entscheidung zuständige Stelle weiterleiten

muß.

2. Dieser Fall liegt hier vor. Demgemäß

wäre von den Strafvollstreckungsgerichten zu prüfen

gewesen, ob die Justizvollzugsanstalt sich die - vorbehaltlos -

abschlägige Entscheidung des Vollzugsbeamten und/oder die

Nichtweiterleitung des Gesuchs des Beschwerdeführers an die

zuständige Stelle der Anstaltsleitung zurechnen lassen

muß. Auf diese Fragestellung gehen die angegriffenen

Entscheidungen indes nicht ein. Das gilt auch für das

Oberlandesgericht, das - was sachlich nicht zu beanstanden ist -

feststellt, es liege eine der Anstalt zurechenbare Maßnahme

erst dann vor, wenn der Anstaltsleiter (oder ein zu seiner

Vertretung befugter Beamter) angerufen worden sei und er selbst

entschieden oder binnen angemessener Frist nicht entschieden habe.

Von diesem Ansatz wäre zu prüfen gewesen, ob infolge der

Nichtweitergabe des Gesuchs durch den Aufsichtsbeamten eine

Entscheidung der Anstaltsleitung, an die das Gesuch gerichtet war,

binnen angemessener Frist nicht erfolgt ist. Derselbe Mangel haftet

auch der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer an.

3. Da die Gerichte sohin mit nicht

verständlichen Erwägungen das Rechtsschutzbedürfnis

des Antragstellers verneint haben, ist das dem Art. 3 Abs. 1 GG zu

entnehmende Willkürverbot verletzt (vgl. BVerfGE 18, 85

<96>; 74, 102 <127>). Die Beschlüsse sind

aufzuheben, die Sache ist an die Strafvollstreckungskammer des

Landgerichts zurückzuverweisen (vgl. § 95 Abs. 2

BVerfGG).

4. Der Beschwerdeführer hat gemäß

§ 34a Abs. 2 BVerfGG Anspruch auf Erstattung seiner

notwendigen Auslagen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.