BGH, Urteil vom 05.07.2001 - III ZR 11/00
Fundstelle
openJur 2010, 5978
  • Rkr:
Tenor

Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des 3. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 15. Dezember 1999 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszuges, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

Tatbestand

Die Kläger sind Miteigentümer eines mit einem Einkaufszentrum bebauten Grundstücks im Gebiet der beklagten Stadt. Seit Mitte 1993 planten sie, eine zwischen diesem Einkaufszentrum und einem benachbarten Geschäftshaus bestehende Baulücke zu schließen. Das zu überbauende Gelände bestand aus mehreren Grundstücken. Mit Schreiben vom 15. Dezember 1993 erklärte das Stadtplanungsamt der Beklagten, das Vorhaben sei nach erster Prüfung bauplanungsrechtlich zulässig. Wegen eventuell einzuhaltender Abstände und beizubringender Baulasten wurde in dem Schreiben um eine Kontaktaufnahme mit dem Bauordnungsamt gebeten. Am 27. April 1994 reichte der Architekt den Bauantrag ein. Darauf forderte das Bauordnungsamt mit Schreiben vom 18. Mai 1994 fehlende Bauvorlagen an und wies darauf hin, daß die Eintragung einer Baulast gemäß § 4 Abs. 1 NBauO (in der hier einschlägigen Fassung der Bekanntmachung vom 11. Juni 1986 GVBl. 157) erforderlich sei. Nach weiteren, in Abstimmung mit dem Bauamt vorgenommenen Planänderungen erteilte die Beklagte am 8. Dezember 1994 die Teilbaugenehmigung für die Rohbaumaßnahmen. Daraufhin vergaben die Kläger verbindliche Bauaufträge für das Vorhaben; die Bauarbeiten wurden am 9. Januar 1995 begonnen. Nachdem die Kläger im Januar 1995 auf Aufforderung des Bauordnungsamtes weitere Planungsunterlagen eingereicht hatten, verfügte der zuständige Stadtbaurat am 27. Januar 1995 gegenüber dem Architekten zunächst telefonisch einen sofortigen Baustopp, weil die erforderliche Vereinigungsbaulast nach § 4 Abs. 1 NBauO nicht vorliege. Eine schriftliche Baueinstellungsverfügung folgte am 31. Januar 1995. Zur Begründung führte die Beklagte aus, die Notwendigkeit einer Vereinigungsbaulast ergebe sich aus den von dem Architekten im Januar 1995 eingereichten Ergänzungsunterlagen.

Die Kläger legten mit Schreiben vom 6. Februar 1995 gegen die Baustillegungsverfügung Widerspruch ein und beantragten gleichzeitig, auf die Baulast gemäß § 92 Abs. 3 NBauO zu verzichten. Am 23. März 1995 hob die Beklagte die Stillegungsverfügung wieder auf, nachdem die Kläger die Baulast beigebracht hatten. Am 5. Mai 1995 wurde die Baugenehmigung erteilt. Anfang Mai 1995 nahmen die Kläger die Bauarbeiten wieder auf. Das Bauvorhaben wurde Anfang 1996 fertiggestellt.

Die Kläger halten die Baustillegungsverfügung, hilfsweise die Teilbaugenehmigung für rechtswidrig und nehmen die Beklagte auf Schadensersatz wegen Amtspflichtverletzung in Anspruch. Sie tragen vor, wegen der durch die Stillegung bewirkten Verzögerung habe der ursprünglich vorgesehene Mieter den bereits abgeschlossenen Mietvertrag gekündigt; das Objekt habe nur zu ungünstigeren Bedingungen anderweitig vermietet werden können. Außerdem seien ihnen, den Klägern, erhebliche Mehraufwendungen durch die Beibringung der Baulasten entstanden. Die Kläger haben ihren Schaden auf 1.798.156,10 DM nebst Zinsen beziffert und hilfsweise die Feststellung begehrt, daß die Beklagte verpflichtet sei, den ihnen aus dem Erlaß der Teilbaugenehmigung vom 8. Dezember 1994 sowie der Baustillegungsverfügung vom 27. Januar 1995 entstandenen und noch entstehenden Schaden zu ersetzen, soweit dieser Schaden nicht anderweitig, insbesondere durch Inanspruchnahme des Architekten, gedeckt werde. Die Beklagte hat eine Pflichtwidrigkeit sowie deren Ursächlichkeit für den Schaden bestritten. Sie beruft sich ferner darauf, daß die Kläger im Hinblick auf den Suspensiveffekt des von ihnen erhobenen Widerspruchs nicht gehindert gewesen seien, die Bauarbeiten trotz der Stillegungsverfügung fortzusetzen, da diese nicht mit der Anordnung des Sofortvollzuges versehen gewesen sei.

Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgen die Kläger ihren Haupt- und Hilfsantrag weiter.

Gründe

Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

I.

Die Begründung, mit der das Berufungsgericht den Amtshaftungsanspruch (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG), soweit dieser auf den Erlaß der Stillegungsverfügung vom 27./31. Januar 1995 gestützt wird, verneint hat, ist nicht tragfähig. Das Berufungsgericht lastet den Klägern an, sie hätten die faktische Möglichkeit des Weiterbaus nach Erlaß der Stillegungsverfügung nicht genutzt. Hierin erblickt das Berufungsgericht eine schuldhafte Rechtsmittelversäumung im Sinne des § 839 Abs. 3 BGB oder ein zum völligen Wegfall des Schadensersatzanspruchs führendes Mitverschulden im Sinne des § 254 Abs. 1 BGB.

1.

Der Amtshaftungsanspruch kann hier indessen nicht bereits an § 839 Abs. 3 BGB scheitern. Die Kläger hatten nämlich mit Einlegung des Widerspruchs von dem ihnen zur Verfügung stehenden Rechtsbehelf gegen die Stillegung Gebrauch gemacht. Die weitere Frage, ob sie mit Rücksicht auf die aufschiebende Wirkung dieses Widerspruchs gehalten waren, die Bautätigkeit faktisch fortzuführen, ist keine solche des Primärrechtsschutzes. Vielmehr ist der Revision darin beizupflichten, daß die Ausnutzung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs durch schlicht faktisches Weiterbauen nicht als

"Rechtsmittel" angesehen werden kann. Zutreffend weist die Revision weiter darauf hin, daß es auch nicht zum Gebrauch des Rechtsbehelfs des Widerspruchs gehört, über die Herbeiführung von dessen aufschiebender Wirkung hinaus einen drohenden Schaden durch ganz erhebliche eigene Aufwendungen zu mindern, zumal dann, wenn -wie hier - aus der Sicht des Bauherrn mit der Möglichkeit gerechnet werden mußte, daß sich das Bauvorhaben endgültig als rechtswidrig erwies und die damit verbundenen Aufwendungen nutzlos waren. Daher verdient auch die weitere Erwägung der Revision Zustimmung, daß es, um dem Vorrang des Primärrechtsschutzes zur Geltung zu verhelfen, nicht geboten ist, dem Geschädigten aufzuerlegen, unter faktischer Ausnutzung der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs erhebliche und risikobehaftete Aufwendungen zur Schadensvermeidung zu machen. Sachgerecht läßt sich die vorliegende Problemstellung vielmehr allenfalls unter dem Gesichtspunkt einer Obliegenheit erfassen, Aufwendungen zur Schadensminderung zu tätigen (§ 254 Abs. 2 Satz 1 Alternative 2 BGB). Dies räumt auch die Revisionserwiderung ein.

2.

Ein etwaiges Mitverschulden der Kläger könnte indessen nicht zum Totalverlust des Anspruchs führen. Mit der Einstellung der Bauarbeiten hatten sich die Kläger gerade so verhalten, wie es die Beklagte mit ihrer Stillegungsverfügung bezweckt hatte. Mit dieser Verfügung wurde die Funktion der ursprünglichen Teilbaugenehmigung als Verläßlichkeitsgrundlage für die Durchführung der Bauarbeiten aus der Sicht der Kläger zumindest nachhaltig beeinträchtigt. Hätten sie also gleichwohl weitergebaut, so hätten sie sich, falls sich im weiteren Verfahren herausgestellt hätte, daß die Stillegungsverfügung rechtmäßig und die Teilbaugenehmigung rechtswidrig gewesen war, bei der Geltendmachung eines auf die Rechtswidrigkeit der Genehmigung gestützten Amtshaftungsanspruchs ihrerseits dem Einwand mitwirkenden Verschuldens ausgesetzt gesehen. Es gelten insoweit ähnliche Grundsätze, wie sie der Senat für die Fortsetzung von Bauarbeiten trotz eines Nachbarwiderspruchs entwickelt hat (vgl. zuletzt Senatsurteil vom 21. Juni 2001 -III ZR 313/99; zur Veröffentlichung vorgesehen; ferner Senatsurteil vom 16. Januar 1997 -III ZR 117/95 = WM 1997, 375, 393, insoweit in BGHZ 134, 268 nicht abgedruckt, und dazu Schlick in Rinne/Schlick NVwZ-Beilage II/2000 S. 28). Deswegen ist hier zu Lasten der Beklagten an das Vorliegen eines anspruchsmindernden Mitverschuldens der Kläger ein strenger Maßstab anzulegen.

3.

Auch die Auffassung des Berufungsgerichts, die Stillegungsverfügung sei für den Schaden deswegen nicht ursächlich geworden, weil sie bereits am 23. März 1995 wieder aufgehoben worden sei, die Bauarbeiten hingegen erst Anfang Mai wieder aufgenommen worden seien, vermag den Senat nicht zu überzeugen. Es steht fest, daß die Bauarbeiten wegen des Baustopps zunächst eingestellt wurden. Die Frage, ob sie früher als tatsächlich geschehen, hätten wieder aufgenommen werden können, ist dementsprechend nicht eine solche der (adäquaten) Kausalität, sondern allenfalls wiederum eine solche des Mitverschuldens, und zwar unter dem Gesichtspunkt, daß die Kläger es unterlassen haben können, durch den rechtzeitigen Weiterbau gegen ihre Schadensminderungspflicht zu verstoßen, wobei in diesem Zusammenhang der oben beschriebene strenge Maßstab nicht gelten würde.

4. Nach alledem bedarf es nunmehr der Klärung der Frage, ob die Stillegungsverfügung tatsächlich rechtswidrig gewesen ist und ob gegebenenfalls den dafür verantwortlichen Amtsträger ein Verschulden trifft. Diese Frage hat das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - bewußt offengelassen.

II.

1.

Das Berufungsgericht hat sich außerstande gesehen, über einen Amtshaftungsanspruch der Kläger gegen die Beklagte wegen des Erlasses der Teilbaugenehmigung vom 8. Dezember 1994 zu entscheiden. Es hält insoweit die Berufung der Kläger gemäß § 519 Abs. 3 ZPO für unzulässig, da die Kläger in ihrer Berufungsbegründung das landgerichtliche Urteil, soweit es einen solchen Anspruch verneint hatte, nicht angegriffen hätten.

2.

Die insoweit unbeschränkt zulässige Revision (§ 547 ZPO) ist ebenfalls begründet.

Die hier zu beurteilende Fallkonstellation ähnelt derjenigen, die dem Senatsurteil vom 20. November 1986 (III ZR 206/85 = BGHR BGB § 839 Abs. 1 Streitgegenstand 1) zugrunde gelegen hatte. Dort hat der Senat folgenden Rechtssatz aufgestellt: Leitet der Kläger einen Amtshaftungsanspruch daraus her, daß die Rücknahme eines ihm erteilten Bauvorbescheides rechtswidrig sei, so muß das Gericht, das die Rücknahme für rechtmäßig hält, weil der erteilte Vorbescheid rechtswidrig gewesen sei, auch prüfen, ob der Amtshaftungsanspruch sich aus dem Erlaß des Vorbescheids herleiten läßt. In dem gleichen Verhältnis wie in jenem Senatsurteil die Rücknahme zum Bauvorbescheid steht hier die Stillegung zu der Teilbaugenehmigung. Hier wie dort umfaßt der Lebenssachverhalt, aus dem die Kläger ihre Ansprüche gegen die Beklagte herleiten, sowohl den Ursprungsbescheid als auch den späteren Verwaltungsakt, durch den die Rechtsfolgen des Ursprungsbescheides beseitigt werden sollten. Die Stillegung läßt sich nur unter Berücksichtigung von Funktion und Folgen des ursprünglichen Verwaltungsaktes zutreffend beurteilen. Unter diesen Umständen ist die Frage, ob die Ursprungsgenehmigung oder aber die Stillegung rechtswidrig war und deshalb eine Amtspflichtverletzung darstellte, lediglich eine solche der rechtlichen Würdigung des gesamten der Klage zugrundeliegenden Lebenssachverhaltes. Die Frage einer etwaigen Rechtswidrigkeit des Ursprungsbescheides konnte nur dann entscheidungserheblich werden, wenn man die Stillegung für rechtmäßig gehalten hätte, weil die ursprüngliche Baugenehmigung rechtswidrig gewesen war. Deswegen waren die Kläger nicht gehindert, sich in der Berufungsbegründung darauf zu beschränken, aus ihrer Sicht die Rechtswidrigkeit der Stillegung (und damit inzidenter die Rechtmäßigkeit der Ursprungsgenehmigung) darzulegen. Erwies sich diese Annahme als unzutreffend, mußte das Berufungsgericht von Amts wegen prüfen, ob sich der Amtshaftungsanspruch aus dem möglicherweise rechtswidrigen Ursprungsbescheid herleiten ließ.

III.

Das Berufungsurteil kann nach alledem insgesamt keinen Bestand haben. Die Sache ist vielmehr an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, welches nunmehr über Grund und Höhe des Anspruchs neu zu entscheiden haben wird.