OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 02.05.2013 - 19 E 313/12
Fundstelle
openJur 2013, 24336
  • Rkr:
Tenor

Der angefochtene Beschluss wird geändert.

Der Klägerin wird Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Klageverfahren bewilligt.

Das Beschwerdeverfahren ist gerichtsgebührenfrei. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

Der Beklagten ist eine Fassung des vorliegenden Beschlusses zu übermitteln, in welcher der dritte Absatz der Gründe gelöscht ist.

Gründe

Der Senat entscheidet über die Beschwerde durch den Vorsitzenden als Berichterstatter, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§§ 87a Abs. 2, 3, 125 Abs. 1 VwGO).

Die Prozesskostenhilfebeschwerde ist zulässig und begründet. Das Verwaltungsgericht hat den Prozesskostenhilfeantrag der Klägerin für das erstinstanzliche Klageverfahren zu Unrecht abgelehnt.

Die Klage bietet auch hinreichende Erfolgsaussicht. Der Leistungsbescheid der Beklagten vom 23. Dezember 2010 über Bestattungskosten in Höhe von 1.827,28 Euro ist rechtswidrig, weil die Ersatzvornahme nach Aktenlage gegen das bestattungsrechtliche Subsidiaritätsprinzip aus § 8 Abs. 1 Satz 2 BestG NRW verstieß (1.). Unabhängig davon hat die Klage hinreichende Erfolgsaussicht jedenfalls hinsichtlich der Kosten der Urnenbeisetzung in Höhe von 1.189,92 Euro (2.).

1. Die Feuerbestattung des am Dienstag, dem 13. Juni 2006 in seiner Wohnung tot aufgefundenen Halbbruders der Klägerin, Herrn T. S. , verstieß nach gegenwärtigem Erkenntnisstand des Senats gegen das bestattungsrechtliche Subsidiaritätsprinzip aus § 8 Abs. 1 Satz 2 BestG NRW. Nach dieser Vorschrift hat die örtliche Ordnungsbehörde der Gemeinde, auf deren Gebiet der Tod eingetreten oder die oder der Tote gefunden worden ist, die Bestattung zu veranlassen, soweit die in Satz 1 bezeichneten bestattungspflichtigen Angehörigen ihrer Verpflichtung nicht oder nicht rechtzeitig nachkommen. Die Bestattungspflicht der Gemeinde setzt nach § 8 Abs. 1 Satz 2 BestG NRW erst dann ein, wenn feststeht, dass die Angehörigen des Verstorbenen ihrer Bestattungspflicht nicht nachkommen oder alle zumutbaren Maßnahmen zu ihrer Ermittlung und Benachrichtigung erfolglos geblieben sind. Vorher darf die Ordnungsbehörde die Bestattung weder den Angehörigen aufgeben noch selbst vornehmen, weil dies sowohl gegen die Menschenwürde des Verstorbenen aus Art. 1 Abs. 1 GG als auch gegen das Recht der Angehörigen auf Totenfürsorge aus Art. 2 Abs. 1 GG verstoßen kann. Zur Vermeidung eines solchen Verstoßes muss die Ordnungsbehörde im Fall des Auffindens einer identifizierten Leiche alle im Einzelfall möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um etwaige nahe Angehörige des Verstorbenen zu ermitteln und ihnen dessen Bestattung zu ermöglichen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn eine kurzfristige Kontaktaufnahme mit vorhandenen nahen Verwandten nicht von vornherein aussichtslos erscheint.

OVG NRW, Urteil vom 29. April 2008 ‑ 19 A 3665/06 ‑, NWVBl. 2008, 398, juris, Rdn. 24 ff., 36 f (zu § 2 Abs. 3 LeichenVO NRW).

Im vorliegenden Fall war eine Ermittlung bestattungspflichtiger Geschwister und Halbgeschwister des verstorbenen T. S. nicht deshalb von vornherein aussichtslos, weil sein Betreuer K. X. am 13. Juni 2006 gegenüber der Kriminalpolizei ausgesagt hatte, Angehörige habe Herr S. nicht. Denn der Betreuer hatte diese Aussage nur auf Eltern ("verstorben"), eine Ehegattin ("ledig") und Kinder ("keine Kinder"), nicht aber auch auf Geschwister bezogen (S. 6 des Polizeiprotokolls vom 13. Juni 2006). Die Annahme liegt nahe, dass die Beklagte im Juni 2006 durch eine unverzügliche telefonische Kontaktaufnahme mit dem Geburtsstandesamt Q. die Klägerin als Halbschwester des Verstorbenen innerhalb weniger Stunden als bestattungspflichtige Angehörige ermittelt haben würde. Denn bei den schließlich am 18. November 2010 eingeleiteten Ermittlungen hat die Beklagte auf ihre Anfrage (Fax 14.40 Uhr) innerhalb von weniger als einer Stunde die Geburtsurkunde des Verstorbenen (Fax 15.14 Uhr) erhalten und noch vor Dienstschluss telefonisch Namen, Geburtsdatum und Heiratsdaten der Klägerin ermittelt.

Entband die Aussage des Betreuers gegenüber der Polizei die Beklagte hiernach nicht von ihrer Ermittlungspflicht hinsichtlich bestattungspflichtiger Geschwister des T. S. , so hat die Beklagte diese Ermittlungspflicht nach Lage der dem Senat bislang vorliegenden Akten auch verletzt. Insbesondere ist danach die Auffassung des Verwaltungsgerichts unzutreffend, die "verbliebene Zeit" hätte nicht ausgereicht, um etwaige Angehörige zu ermitteln. Als Anfangsdatum dieser "verbliebenen Zeit" hat das Verwaltungsgericht ohne nähere Überprüfung die telefonische Behauptung der Beklagten vom 1. März 2012 übernommen, die Mitteilung über den Todesfall sei "am 20. Juni 2006" bei ihr "eingegangen", was sich aus der Melderegisterauskunft von diesem Tag um 14.08 Uhr ergebe (Blatt 10 der Beiakte Heft 1). Diese Behauptung ist nach Aktenlage unzutreffend, weil zwei Mitarbeiter des Ordnungsamts der Beklagten schon um 9.30 Uhr am 20. Juni 2006 die Wohnung des Verstorbenen inspiziert haben (Blatt 12 der Beiakte Heft 1). Dieser Umstand legt die Annahme nahe, dass der Todesermittlungsbericht der Polizei vom 14. Juni 2006 (Mittwoch) mit dem handschriftlichen Vermerk "Für OA!" schon vor dem 20. Juni 2006 (Dienstag) beim Ordnungsamt der Beklagten eingegangen ist. Das Datum des Berichts und der Vermerk "Für OA!" sprechen dafür, dass die Kriminalpolizei die Benachrichtigung der Beklagten als dringlich angesehen und ihr den Bericht schon in der Woche seiner Anfertigung übermittelt hat.

Raum für diese Annahme lässt auch der Umstand, dass die Beklagte dem Verwaltungsgericht einen offenbar teilweise nachträglich zusammengestellten Verwaltungsvorgang übersandt hat, in dem mehrere wesentliche Dokumente der hier streitigen Bestattung fehlen und der insbesondere weder das Eingangsdatum der Todesmitteilung noch den Tag der Einäscherung enthält. Insbesondere fehlt das Übersendungsschreiben der Polizei, mit dem diese den an die Staatsanwaltschaft gerichteten Todesermittlungsbericht vom 14. Juni 2006 in Durchschrift an die Beklagte übermittelt hat und welches üblicherweise mit einem Eingangsstempel versehen ist. Ersichtlich war der Todesermittlungsbericht zuvor mit einer Heftklammer einem anderen Dokument angeheftet und auch schon mit der Blattzahl "98" paginiert. In der Beiakte Heft 1 ist diese Blattzahl hingegen durchgestrichen und durch die Blattzahl "2" ersetzt. Entsprechendes gilt auch für die anderen Dokumente aus 2006 (Blatt 1-24 der Beiakte Heft 1), die Teile eines zuvor 117 Seiten umfassenden Verwaltungsvorgangs waren.

Nach Aktenlage war der Subsidiaritätsverstoß auch kausal für die konkrete Bestattungsentscheidung der Beklagten im Sinne des § 12 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 BestG NRW. Es ist nicht auszuschließen, dass die Klägerin und ihre Geschwister nach dessen Satz 1 bei rechtzeitiger Information über das Ableben ihres Bruders hinsichtlich Art und Ort der Bestattung eine andere Entscheidung getroffen haben würden. Darauf lässt jedenfalls ihre Mitteilung im Schreiben vom 27. Dezember 2010 an die Beklagte schließen, bei rechtzeitiger Information hätten die Kosten insoweit "minimiert" werden können, als eine Grabstelle bei ihrem 1979 verstorbenen Vater vorhanden gewesen sei.

2. Unabhängig von diesem nach Aktenlage festzustellenden Subsidiaritätsverstoß hat die Klage hinreichende Erfolgsaussicht jedenfalls hinsichtlich der Kosten der Urnenbeisetzung in Höhe von 1.189,92 Euro. Diese Kosten sind nach inzwischen einhelliger Auffassung der Verwaltungsgerichte in NRW, auch derjenigen des Verwaltungsgerichts Düsseldorf, nicht im Sinne des § 55 Abs. 2 VwVG NRW zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr notwendig. Wegen dieser Frage ist eine Grundsatzberufung beim Senat anhängig.

OVG NRW, Berufungszulassungsbeschluss vom 8. April 2013 ‑ 19 A 488/12 ‑, demnächst juris m. w. N.; VG Düsseldorf, Urteil vom 4. Februar 2013 ‑ 23 K 3881/11 ‑.

Der Senat kann der Klägerin keinen Rechtsanwalt beiordnen, weil sie einen Antrag nach § 166 VwGO in Verbindung mit § 121 Abs. 2 ZPO nicht gestellt hat. Holt sie den Antrag nach, entscheidet über ihn das Verwaltungsgericht auf der Grundlage dieses Senatsbeschlusses.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 166 VwGO in Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO.

Die Anordnung der Übermittlung einer gekürzten Fassung dieses Beschlusses an die Beklagte beruht auf § 127 Abs. 1 Satz 3 ZPO.