BGH, Beschluss vom 29.08.2001 - 2 StR 266/01
Fundstelle
openJur 2010, 5809
  • Rkr:
Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten C. wird das Urteil des Landgerichts Bonn vom 2. November 2000 im Schuldspruch wie folgt geändert und klargestellt:

Der Angeklagte C. ist schuldig der gefährlichen Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Nötigung, der versuchten räuberischen Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie der unerlaubten Ausübung der tatsächlichen Gewalt über eine halbautomatische Selbstladekurzwaffe.

Die Angeklagte F. ist schuldig der Beihilfe zur versuchten räuberischen Erpressung.

2.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

3.

Der Angeklagte C. hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten C. wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Nötigung, versuchter schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie wegen unerlaubten Besitzes einer halbautomatischen Selbstladewaffe mit einer Länge von nicht mehr als 60 cm zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel führt zu einer Änderung des Schuldspruchs; im übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. I. Verfahrensrügen Näher zu erörtern ist lediglich die Rüge eines Verstoßes gegen das Unmittelbarkeitsprinzip des § 250 Satz 2 StPO, im übrigen greifen die Verfahrensrügen aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts ausgeführten Gründen nicht durch.

a) Der Rüge liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:

Der Zeuge W. , der im Ermittlungs- und Zwischenverfahren mehrfach polizeilich und richterlich vernommen worden war, erklärte anläßlich seiner Vernehmung in der Hauptverhandlung, daß er die Beantwortung aller an ihn gerichteten Fragen verweigere, weil gegen ihn ein Verfahren wegen des Verdachts einer uneidlichen Falschaussage anhängig sei. Der weitere Gang der Beweiserhebung wurde mit allen Verfahrensbeteiligten erörtert; diese verzichteten auf eine Vernehmung des Richters am Amtsgericht B. , der den Zeugen im Ermittlungsverfahren vernommen hatte, und erklärten ihr Einverständnis mit der Verlesung der richterlichen und polizeilichen Vernehmungen des Zeugen W. . Daraufhin verkündete die Kammer einen Beschluß, wonach im Einverständnis aller Verfahrensbeteiligten gemäß § 251 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 Satz 1 StPO die Vernehmung des Zeugen W. durch den Richter am Amtsgericht B. vom 29. März 2000 sowie durch die Berufsrichter der Kammer vom 16. Juni 2000, darüber hinaus die polizeilichen Vernehmungen des Zeugen W. vom 21. März, 23. März und 7. April 2000 verlesen werden sollten. Der Beschluß wurde sodann ausgeführt.

Die Revision beanstandet, daß das Landgericht die früheren Angaben des Zeugen W. durch Verlesung der Vernehmungsniederschriften in die Hauptverhandlung eingeführt hat. Die Kammer habe die Verlesung zu Unrecht auf § 251 Abs. 1 Nr. 4 und § 251 Abs. 2 Satz 1 StPO gestützt, nach dem Unmittelbarkeitsgrundsatz des § 250 Satz 2 StPO sei sie verpflichtet gewesen, die Vernehmungspersonen über den Inhalt der Aussagen zu hören.

b) Ob angesichts des in der Hauptverhandlung erklärten Einverständnisses des Angeklagten mit der Verlesung der Protokolle die Grundsätze zur Verwirkung von Verfahrensrügen bei widersprüchlichem Prozeßverhalten in Betracht zu ziehen sind, bedarf keiner Entscheidung, die Rüge ist jedenfalls unbegründet. Die Verlesung der richterlichen und polizeilichen Vernehmungsprotokolle im Einverständnis aller Beteiligten, nachdem der Zeuge W. sich auf ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht berufen hatte, war nicht verfahrensfehlerhaft.

Ein Verlesungsverbot für die Vernehmungsprotokolle des Zeugen W.

folgt hier nicht schon aus § 252 StPO. Der Fall der Verweigerung der Auskunft nach § 55 StPO, der im Einzelfall der Verweigerung des ganzen Zeugnisses gleichkommen kann, ist, wie der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung entschieden hat, in § 252 StPO nicht geregelt (BGHSt 17, 245).

Aber auch § 250 StPO stand einer Verlesung der Protokolle im vorliegenden Fall nicht entgegen. Danach darf die Aussage eines Zeugen durch eine Protokollverlesung nur ersetzt werden, wenn ein Ausnahmefall des § 251 StPO vorliegt. Ein solcher Ausnahmefall ist nach § 251 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 Satz 1 StPO (im letzteren Fall unter der Voraussetzung, daß der Angeklagte einen Verteidiger hat) gegeben, wenn die Verlesung im Einverständnis der Verfahrensbeteiligten erfolgt. Allerdings soll auch bei Einverständnis aller Beteiligter - wie der Bundesgerichtshof mehrfach entschieden hat - eine Protokollverlesung dann nicht zulässig sein, wenn sich der Zeuge in der Hauptverhandlung auf sein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO beruft (so BGH, Beschluß vom 29. Juni 1976 -5 StR 209/76 - für einen Fall, bei dem der Zeuge einzelne Fragen nicht beantwortet hatte; BGH, Urt. vom 11. Mai 1982 -5 StR 92/82 = NStZ 1982, 342; Beschl. vom 27. September 1995 -4 StR 488/95 = NStZ 1996, 96 auch für den Fall, daß der Zeuge in der Hauptverhandlung umfassend vom Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch gemacht und nicht zur Sache ausgesagt hatte). Da der Zeuge in der Hauptverhandlung erschienen und vernommen worden sei, liege keine Ersetzung seiner Aussage vor, die Voraussetzungen des § 251 Abs.1 StPO seien daher nicht gegeben (BGH, Beschl. vom 29. Juni 1976 - 5 StR 209/76; Beschl. vom 27. September 1995 - 4 StR 488/95 aaO). In weiteren Entscheidungen, die sich allerdings auf die alte Fassung des § 251 Abs. 2 StPO vor Inkrafttreten des Strafverfahrensänderungsgesetzes 1987 beziehen, welche eine Verlesung im Einverständnis noch nicht vorsah, hat der Bundesgerichthof auch die Verlesung nichtrichterlicher Vernehmungsprotokolle für unzulässig erklärt, weil die Voraussetzungen des § 251 Abs. 2 StPO aF nicht gegeben seien. (BGH, Urt. vom 28. Oktober 1975 -5 StR 407/75; Beschl. vom 5. Dezember 1978 -5 StR 767/78; Beschl. vom 26. Juli 1983 -5 StR 310/83; Urt. vom 29. Juni 1983 2 StR 855/82 = NJW 1984, 136; offengelassen im Urteil vom 23. Dezember 1986 -1 StR 514/86, NStZ 1988, 36 für den Fall der Teilverweigerung, zulässig jedenfalls für sonstige schriftliche Erklärungen).

Der Senat hat Bedenken, ob dieser auch im Schrifttum (Nachweise bei Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 45. Aufl. § 251 Rdn. 10, 2; Diemer in KK StPO 4. Aufl. § 251 Rdn. 10 a) nicht unumstrittenen Rechtsprechung zu folgen ist. Die Auslegung, nach der ein Ersetzen einer Zeugenaussage dann nicht vorliege, wenn sich der Zeuge in der Hauptverhandlung lediglich auf sein Aussageverweigerungsrecht berufen und nicht zur Sache ausgesagt hat, ist vom Gesetzeswortlaut nicht zwingend gefordert und in der Sache nicht geboten. Allerdings kann die Aufklärungspflicht die -nach ständiger Rechtsprechung zulässige -Vernehmung der polizeilichen oder richterlichen Verhörsperson statt der Verlesung der Vernehmungsniederschrift erfordern, so wenn Unklarheiten im Protokoll vorliegen, das Aussageverhalten näher zu beleuchten ist oder sonstige Umstände eine ergänzende Nachfrage bei der Vernehmungsperson nahelegen. Liegen solche Umstände nicht vor, geht es vielmehr ausschließlich um den Aussageinhalt als solchen, wird sich dieser regelmäßig aber am zuverlässigsten durch das Protokoll feststellen lassen. In diesen Fällen kann es der auch § 250 Satz 2 StPO zugrunde liegende Gedanke bestmöglicher Sachaufklärung gerade erfordern, von diesem Beweismittel Gebrauch zu machen (so auch Diemer aaO).

Der Senat muß jedoch anhand der vorliegenden Fallgestaltung nicht entscheiden, ob an der dargelegten Rechtsprechung festzuhalten ist, weil hier bedeutsame Besonderheiten vorliegen:

Soweit das Protokoll über die Vernehmung des Zeugen vor dem Ermittlungsrichter verlesen wurde, kommt eine Verletzung der prozessualen Rechte des Revisionsführers nicht in Betracht, denn er hatte nicht nur sein Einverständnis mit der Verlesung in der Hauptverhandlung erklärt, sondern auch ausdrücklich auf die Vernehmung der Verhörsperson verzichtet. Die weitere richterliche Vernehmung des Zeugen war hier durch die Berufsrichter der Kammer im Haftprüfungsverfahren erfolgt. Deren zeugenschaftliche Vernehmung hätte aber zu einer nicht gerechtfertigten Verfahrensverzögerung geführt, weil sie ohne eine Aussetzung des Verfahrens und Neubeginn in geänderter Besetzung nicht möglich gewesen wäre.

Der Verlesung der polizeilichen Vernehmungsprotokolle nach § 251 Abs. 2 Satz 1 StPO durch das Landgericht stehen die dargelegten, lediglich zu § 251 Abs. 2 Satz 1 StPO aF ergangenen Entscheidungen, die sich auf die Frage der rechtlichen Gleichbehandlung der Aussageverweigerung eines Zeugen nach § 55 StPO mit seiner Unerreichbarkeit beziehen, nicht entgegen. Im übrigen kann auf ihrer Verlesung nichts beruhen. Der Zeuge hat bei seinen polizeilichen wie richterlichen Vernehmungen im Kernbereich entsprechend den Feststellungen ausgesagt. Auf die Konstanz der Aussagen hat das Landgericht nicht abgestellt, sondern die Aussagen überhaupt nur herangezogen, soweit sie durch weitere Beweismittel bestätigt wurden.

II. Sachrüge Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge führt lediglich zu der aus der Beschlußformel ersichtlichen Änderung und Klarstellung des Schuldspruchs.

a) Das Landgericht hat u.a. folgende Feststellungen getroffen:

Der Angeklagte unterhielt seit einiger Zeit eine Beziehung zu der Mitangeklagten F. , welche in Bo. Mitbetreiberin eines Bordells war. In diesem hielt sich auch der Angeklagte regelmäßig auf. Der Zeuge W. , Eigentümer von zwei Wohnungen, die er bevorzugt an Prostituierte vermietete, suchte am 21. März 2000 das Bordell auf, um die Mitangeklagte zu einer Wohnungsbesichtigung abzuholen. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der Angeklagte im Wohn-/Küchenraum des Bordells, der vom Eingangsbereich durch einen Vorhang abgetrennt war. Der Angeklagte begab sich zu dem Zeugen W. in den Eingangsbereich, warf ihm in aggressivem Tonfall vor, er wolle ihm die Frauen wegnehmen, schlug ihm mit der flachen Hand sowie mit einer Hundeleine, die der Geschädigte mit sich führte, ins Gesicht und gab ihm einen Stoß, so daß er zu Fall kam. Nachdem der Angeklagte das Portemonnaie des Zeugen durchsucht und sich die auf dem Fahrzeugschein vermerkte Adresse notiert hatte, verlangte er unter bewußter Ausnutzung der Einschüchterung des Geschädigten durch die vorangegangene Gewalt, er solle bis zum nächsten Tag 5.000 DM zahlen, ansonsten werde er erschossen. In Kenntnis der Situation griff die Mitangeklagte F. ein und drohte dem Geschädigten, sie werde, falls er zur Polizei gehe, aussagen, er habe sie vergewaltigt. Während des gesamten Tatzeitraums hatte sich in Reichweite des Angeklagten -dessen waren er und die Mitangeklagte sich auch bewußt gewesen -eine geladene Gaspistole befunden, die zum Schutze der in dem Etablissement arbeitenden Frauen stets in einem offenen Schubfach der im Wohn-/Küchenraum befindlichen Theke lag.

2. Die getroffenen Feststellungen tragen die Verurteilung des Angeklagten C. wegen versuchter schwerer räuberischer Erpressung (§§ 253, 255, 249, 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a, 22, 23 StGB) nicht.

Die Urteilsausführungen, nach denen sich die Waffe in "Reichweite" des Angeklagten befunden habe, belegen nicht, daß der Angeklagte die Waffe bei sich geführt hat. Beisichführen einer Waffe im Sinne des § 250 Abs. 1 Nr. 1a StGB setzt voraus, daß die Waffe dem Täter "zur Verfügung steht", d.h. sich so in seiner räumlichen Nähe befindet, daß er sich ihrer jederzeit, also ohne nennenswerten Zeitaufwand und ohne besondere Schwierigkeiten bedienen kann (BGHSt 31, 105; 43, 8, 10).

Zwar mag bei einer in einem anderen Raum gelagerten Waffe je nach den tatsächlichen Verhältnissen das Merkmal des Beisichführens unter Umständen zu bejahen sein (vgl. auch BGH NStZ 1998, 354; siehe auch BGH, Urt. vom 21. März 2000 -1 StR 441/99). Abgesehen davon, daß das Landgericht die räumlichen Verhältnisse nur lückenhaft dargestellt hat, insbesondere keine Feststellungen zur Entfernung des Lagerungsortes der Waffe zum Ort des eigentlichen Tatgeschehens getroffen hat, kommt hier hinzu, daß der Angeklagte nicht selbst Betreiber des Bordells war und die Waffe dem Schutz der Frauen dienen sollte, so daß auch eine eigene Sachherrschaft des Angeklagten über die Waffe nicht ausreichend dargelegt ist (vgl. auch BGHSt 42, 368, 369).

Auch in subjektiver Hinsicht reichen die Feststellungen des Landgerichts nicht aus, um das erforderliche aktuelle Bewußtsein des Angeklagten über die Verfügbarkeit der Waffe zu belegen. Das Landgericht hat dazu lediglich ausgeführt, daß sich der Angeklagte der in Griffbereitschaft befindlichen Waffe bewußt gewesen sei. Dies war aber angesichts des eigentlichen Zwecks der Waffenlagerung in der Theke nicht selbstverständlich. An die Prüfung und Darlegung der subjektiven Seite müssen strengere Anforderungen gestellt werden, wenn die Umstände nahelegen, daß dem Täter im Moment der Tatbegehung das aktuelle Bewußtsein der Bewaffnung fehlt (vgl. BGH, Urt. vom 21. März 2000 -1 StR 441/99).

Da nicht zu erwarten ist, daß in einer neuen Verhandlung noch tragfähige Feststellungen für eine versuchte schwere räuberische Erpressung getroffen werden können, hat der Senat in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO den Schuldspruch selbst geändert.

Trotz der Schuldspruchänderung zugunsten des Angeklagten können die Einzelstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten und der Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe bestehen bleiben. Das Landgericht hat einen minder schweren Fall im Sinne des § 250 Abs. 3 StGB verneint und ist nach Milderung gemäß §§ 49 Abs. 1, 23 Abs. 2 StGB von einem Strafrahmen von sechs Monaten bis elf Jahren und drei Monaten ausgegangen. Unter Anwendung des § 249 Abs. 1 StGB hätte sich bei entsprechender Vorgehensweise ein Strafrahmen von drei Monaten bis elf Jahren und drei Monaten ergeben. Hierauf beruht der Strafausspruch nicht, da die vom Landgericht konkret zugemessene Einzelfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten erheblich über der Mindeststrafe liegt. Der Senat schließt aus, daß die geringfügige Änderung der Strafrahmenuntergrenze zu einer anderen Strafe geführt hätte.

3.

Soweit das Landgericht den Angeklagten C. des unerlaubten Besitzes einer halbautomatischen Selbstladewaffe von nicht mehr als 60 cm Länge für schuldig befunden hat, war der Schuldspruch wie geschehen klarzustellen.

4.

Die Änderung des Schuldspruchs bezüglich der versuchten räuberischen Erpressung war gemäß § 357 StPO auch auf die Mitangeklagte F.

zu erstrecken, die vom Landgericht der Beihilfe zur versuchten schweren räuberischen Erpressung für schuldig befunden wurde. Da sich bei der vom Landgericht vorgenommenen Verneinung eines minder schweren Falles und der zweifachen Milderung des Strafrahmens aber unter Zugrundelegung des § 249 Abs. 1 StGB kein abweichender Strafrahmen ergeben hätte, schließt der Senat auch hier aus, daß der Ausspruch für diese Einzelstrafe auf dem geänderten Schuldspruch beruht.