Hessisches LAG, Urteil vom 09.05.2011 - 7 Sa 1698/10
Fundstelle
openJur 2013, 23375
  • Rkr:
Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Darmstadt vom 07. Oktober 2010 – 7 Ca 133/10 – wird auf deren Kosten zurückgewiesen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten im Rahmen eines so genannten Pilotverfahrens über Sonderzuwendungen aus Dienstzeitzuschlägen.

Der Kläger war seit 1985 als Busfahrer zunächst bei der A beschäftigt, nach der Übernahme der Verkehrsbetriebe durch die B mit Wirkung vom 01. Juli 1990 und durch die Beklagte mit Wirkung vom 01. Januar 1999 besteht das Arbeitsverhältnis mit dieser fort.

Seit Beginn des Arbeitsverhältnisses zahlte die Arbeitgeberin an den Kläger und die übrigen Busfahrer eine jährliche Weihnachtszuwendung, die sich zunächst aus § 17 Abs. 1 des zwischen der C und D abgeschlossenen Rahmentarifvertrags (im Folgenden: RTV AVE) vom 01. Juli 2002 ergab, seit dem 01. Mai 2006 aus dem gleichlautenden § 14 Abs. 1 des Nachfolgetarifvertrags vom 31. März 2006. Darin heißt es:

„Die Arbeitnehmer erhalten anlässlich des Weihnachtsfestes eine Weihnachtszuwendung mindestens in Höhe von 60 % der laufenden Arbeitsbezüge eines Monats. Diese Weihnachtszuwendung erhöht sich im zweiten Dienstjahr auf 80 % und im dritten Dienstjahr auf 100 % der laufenden Arbeitsbezüge eines Monats.“

Die „laufenden Arbeitsbezüge“ definierte der RTV AVE in der bis zum 30. April 2006 geltenden Fassung in § 9 Abs. 2 wie folgt:

„Die laufenden Arbeitsbezüge bestehen aus der nach dem Vergütungstarifvertrag für die regelmäßige Arbeitszeit zu zahlenden Tabellenvergütung sowie aus etwaigen, ständig wiederkehrenden Arbeitszulagen und -zuschlägen (z. B. Dauerzulagen, Schichtzulagen, Fahrdienstzulagen, ständige Prämien). Nur zeitweise zu zahlende Arbeitsbezüge (z. B. stundenweise anfallende Zeit- und Erschwerniszuschläge) rechnen nicht zu den laufenden Bezügen, es sei denn, dass sie pauschaliert sind. (...)“

Der dem entsprechende § 8 Abs. 2 RTV AVE in der seit dem 01. Mai 2006 geltenden Fassung lautet wie folgt:

„Die laufenden Arbeitsbezüge bestehen aus der nach dem Vergütungstarifvertrag für die regelmäßige Arbeitszeit zu zahlenden Tabellenvergütung sowie aus etwaigen, ständig wiederkehrenden Arbeitszulagen und -zuschlägen (z. B. Dauerzulagen, Schichtzulagen). Nur zeitweise zu zahlende Arbeitsbezüge (z. B. stundenweise anfallende Zeitzuschläge nach § 10 und Erschwerniszuschläge) rechnen nicht zu den laufenden Bezügen, es sei denn, dass sie pauschaliert sind. (...)“

Außerdem zahlte die Rechtsvorgängerin und zahlt die Beklagte an die bei ihr beschäftigten Busfahrer jedenfalls seit 1991 eine weitere jährliche Sonderzuwendung auf Grund der Betriebsvereinbarung Nr. 20, zuletzt neu gefasst am 01. Januar 1992 (Bl. 116 d. A.). Darin heißt es u. a.:

„Die Sonderzuwendung beträgt 100 % der laufenden Arbeitsbezüge gem. § 9 Abs. 2 Rahmentarifvertrag ohne Sozialzulagen im Monat Dezember des Geschäftsjahres, für das die Sonderzuwendung gewährt wird. Sie wird mit der Aprilvergütung des folgenden Jahres ausgezahlt.“

Der Kläger und die anderen bei der Beklagten beschäftigten Busfahrer erhielten jedenfalls seit 1991 bis zum Jahr 2005 vorbehaltlos jeweils Weihnachts- und Sonderzuwendungen, die höher als die im Tarifvertrag und in der Betriebsvereinbarung vorgesehenen waren. Die Beklagte wies in den Entgeltabrechnungen für November neben der tariflichen Weihnachtszuwendung jeweils eine Weihnachtszuwendung aus Dienstzeitzuschlägen („Weihnachtszuw. a. D-Zusch“) und in den April-Abrechnungen jeweils eine Sonderzuwendung aus Dienstzeitzuschlägen („Sonderzuw. aus D-Zuschl.) gesondert aus. Exemplarisch wird auf die Abrechnungen für November 2005 und April 2006 (Bl. 13 f d. A.) verwiesen.

Ab November 2006 zahlte die Beklagte nur noch die tariflich vorgesehene Weihnachtszuwendung und ab April 2007 nur noch die in der Betriebsvereinbarung vorgesehene Sonderzuwendung.

Mit seiner Klage macht der Kläger die zusätzlichen Weihnachtszuwendungen aus Dienstzeitzuschlägen für die Jahre 2006, 2007, 2008 und 2009 sowie die zusätzlichen Sonderzuwendungen aus Dienstzeitzuschlägen für die Jahre 2007, 2008 und 2009 in unstreitiger Höhe geltend.

Vorprozessual hatten die Parteien sich zunächst darauf verständigt, den Ausgang des Rechtsstreits E ./. C vor dem Bundesarbeitsgericht (10 AZR 395/08) abzuwarten, in dem es ebenfalls um die Weihnachts- und Sonderzuwendungen aus Dienstzeitzuschlägen ging. Nachdem das der Klage stattgebende Urteil durch Zurückweisung der Revision rechtskräftig geworden war (vgl. Urteil des BAG vom 01. April 2009 – Bl. 29 – 40 d. A.) erklärte die Beklagte, dass sie sich dieser Entscheidung nicht unterwerfen wolle. Daraufhin schlossen die Beklagte und die u. a. den Kläger vertretende Gewerkschaft D eine Vereinbarung zur Durchführung eines Musterverfahrens (Bl. 46 f d. A.).

Der Kläger hat die Auffassung geäußert, er könne die zusätzlichen Weihnachts- und Sonderzuwendungen aus dem Gesichtspunkt der betrieblichen Übung verlangen.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 3.740,23 € brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 540,31 € ab 01. Dezember 2006, aus 444,18 € ab 01. Dezember 2007, aus 545,96 € ab 01. Dezember 2008, aus 610,75 € seit 01. Dezember 2009 sowie aus 529,39 € ab 01. Mai 2007, aus 473,53 € ab 01. Mai 2008 und aus 596,11 € ab 01. Mai 2009 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat behauptet, der Zahlung habe ein Irrtum zu Grunde gelegen. Sie habe irrtümlich gemeint, sie sei auf der kollektivrechtlichen Rechtsgrundlage zur Zahlung der Zuwendungen in erfolgter Höhe verpflichtet. Selbst ihre Wirtschaftsprüfungsgesellschaft sei bei einer Revision im Jahre 2000 davon ausgegangen, dass es sich um kollektivrechtlich geschuldete Leistungen gehandelt habe.

Wegen des zu Grunde liegenden Sachverhalts im Übrigen sowie des Vorbringens der Parteien wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils (Bl. 129 – 131 d. A.) verwiesen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Es hat dazu einen Anspruch des Klägers aus betrieblicher Übung angenommen und des weiteren ausgeführt, es komme nicht darauf an, ob die Beklagte möglicherweise tatsächlich meinte, auf Grund kollektivrechtlicher Regelung zur Zahlung verpflichtet gewesen zu sein, da die Sicht der Arbeitnehmer als Leistungsempfänger entscheidend sei. Durch die gesonderte Ausweisung in der Abrechnung sei beim Empfänger der berechtigte Eindruck entstanden, dass ihm über die tarifrechtlich und auf Grund einer Betriebsvereinbarung geschuldete Zuwendung hinaus eine weitere Leistung zukomme.

Gegen dieses Urteil vom 07. Oktober 2010, auf dessen Inhalt zur weiteren Sachdarstellung Bezug genommen wird, richtet sich die Berufung der Beklagten.

Die Beklagte äußert die Auffassung, sie und ihre Rechtsvorgängerinnen hätten stets irrtümlich eine vermeintlich vom Tarifvertrag und der Betriebsvereinbarung Nr. 20 vorgegebene Verpflichtung erfüllt. Dies stehe der Annahme einer betrieblichen Übung entgegen. Durch die Verwendung der Begriffe „Weihnachtszuwendung“ und „Sonderzuwendung“ habe sie auch erkennbar zum Ausdruck gebracht, dass sie nur die rechtlichen Verpflichtungen erfüllen wollte. Daher habe ihrem tatsächlichen Verhalten auch aus der Sicht der Arbeitnehmer nicht der Wille zu Grunde gelegen, eine bestimmte übertarifliche Leistung zu erbringen. Das Arbeitsgericht habe zu Unrecht allein darauf abgestellt, wie ihre tatsächliche Vorgehensweise vom Kläger aufgefasst wurde. Es habe dabei die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts verkannt, nach der der Kläger Anhaltspunkte für eine bewusste Abweichung von der tariflich bzw. betrieblich geregelten Anspruchsgrundlage hätte darlegen müssen. Allein in der gesonderten Ausweisung in den Abrechnungen könne ein solcher Hinweis nicht gesehen werden, da sie als Arbeitgeberin nicht verpflichtet sei, im Rahmen der Entgeltabrechnung dezidiert über die einzelnen Vergütungsbestandteile zu informieren.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Darmstadt vom 07. Oktober 2010 – 7 Ca 133/10 – abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger bittet um Zurückweisung der Berufung und verteidigt das angegriffene Urteil unter Wiederholung und Vertiefung seines erstinstanzlichen Vortrags.

Wegen des weiteren Vortrags der Parteien in der Berufungsinstanz wird auf die Berufungsbegründung vom 13. Dezember 2010 (Bl. 148 – 152 d. A.) und die Berufungsbeantwortung vom 19. März 2011 (Bl. 168 – 172 d. A.) verwiesen.

Gründe

I.

Die nach dem Wert des Beschwerdegegenstandes statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und begründete Berufung der Beklagten ist zulässig. Zwar weist der Kläger zu Recht darauf hin, dass sie weder neuen Sachvortrag noch neue rechtliche Aspekte enthält, jedoch setzt die Beklagte sich mit den rechtlichen Feststellungen des Arbeitsgerichts, die zur Annahme eines Anspruchs aus betrieblicher Übung führten, auseinander.

II.

Die Berufung ist jedoch in der Sache unbegründet. Das Arbeitsgericht hat die Beklagte zu Recht zur Zahlung der zusätzlichen Weihnachts- und Sonderzuwendungen verurteilt.

Das Berufungsgericht schließt sich dem angefochtenen Urteil im Ergebnis und in der Begründung an (§ 69 Abs. 2 ArbGG). Der Inhalt der Berufungsbegründung gibt lediglich Anlass zu folgender Ergänzung:

Wie schon im Falle der Arbeitnehmer der C hat das Arbeitsgericht auch bei der Beklagten einen Anspruch aus dem Gesichtspunkt der betrieblichen Übung zutreffend angenommen.

Unter einer betrieblichen Übung ist die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers zu verstehen, aus denen die Arbeitnehmer schließen können, ihnen solle eine Leistung oder eine Vergünstigung auf Dauer eingeräumt werden. Aus diesem als Vertragsangebot zu wertenden Verhalten des Arbeitgebers, das von den Arbeitnehmern in der Regel stillschweigend angenommen wird (§ 151 BGB), erwachsen vertragliche Ansprüche auf die üblich gewordenen Leistungen. Entscheidend für die Entstehung eines Anspruchs ist nicht der Verpflichtungswille, sondern wie der Erklärungsempfänger die Erklärung oder das Verhalten des Arbeitgebers nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung aller Begleitumstände (§§ 133, 157 BGB) verstehen musste und durfte. Im Wege der Auslegung des Verhaltens des Arbeitgebers ist zu ermitteln, ob die Belegschaft davon ausgehen musste, die Leistung werde nur unter bestimmten Voraussetzungen oder nur für eine bestimmte Zeit gewährt (BAG 26. August 2009 – 5 AZR 969/08 – Rn. 25, NZA 2010, 173; 28. Mai 2008 – 10 AZR 274/07 – Rn. 15 ff., AP BGB § 242 Betriebliche Übung Nr. 80 = EzA BGB 2002 § 242 Betriebliche Übung Nr. 8; 28. Juni 2006 – 10 AZR 385/05 – Rn. 35 f. mwN, BAGE 118, 360).

Unter Anwendung dieser Grundsätze hat das Arbeitsgericht das Verhalten der Beklagten und ihrer Rechtsvorgängerinnen zu Recht dahin gehend ausgelegt, dass sie durch das gesonderte Ausweisen der zusätzlichen Zahlungen zum Ausdruck gebracht hat, sie leiste diese Zuwendungen über die auf Grund Tarifvertrag bzw. Betriebsvereinbarung geschuldeten hinaus vorbehaltlos und auf Dauer. Hiervon ist auch das Arbeitsgericht in seiner vorausgegangenen, den Parteien bekannte Entscheidung vom 01. April 2009 (a. a. O, Rn. 15) bei identischem Sachverhalt ausgegangen.

35Zwar weist die Beklagte nunmehr zu Recht darauf hin, dass der Irrtum eines Arbeitgebers über den Umfang seiner Verpflichtungen aus einem arbeitsrechtlichen Kollektivvertrag der Annahme einer betrieblichen Übung entgegenstehen kann, da es an einem entsprechenden Bindungswillen fehlt. So scheidet ein Anspruch aus betrieblicher Übung dann aus, wenn sich die Leistung des Arbeitgebers aus der Sicht des Arbeitnehmers ausschließlich als Erfüllung eines vermeintlichen tarifvertraglichen Anspruchs darstellt (BAG Urteil vom 17. März 2010 – 5 AZR 317/09 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Brotindustrie Nr. 9). Hiervon kann allerdings nach den zutreffenden Feststellungen des Arbeitsgerichts im vorliegenden Fall gerade nicht ausgegangen werden. Während in jenem vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Fall gerade auch die Kläger von einem tarifvertraglichen Anspruch auf die begehrte Leistung ausgegangen waren, hat die Beklagte im vorliegenden Fall den behaupteten Irrtum in keiner Weise schlüssig vorgetragen. Nach gängiger Definition handelt es sich bei einem Irrtum um eine fehlerhafte Vorstellung über tatsächlich vorhandene Tatsachen. Um sich auf einen solchen Irrtum bezüglich des Umfangs ihrer kollektivrechtlichen Verpflichtungen berufen zu können, hätte die Beklagte zumindest vortragen müssen, auf Grund welcher möglicherweise fehlerhafter Erwägungen welches Organ der Rechtsvorgängerin der Beklagten oder welche ansonsten zur Entscheidung über die Zahlung befugte Person zu der Einschätzung gelangt ist, dass auch auf die Dienstzeitzuschläge der Busfahrer eine Weihnachts- und Sonderzuwendung zu zahlen sei. Denn angesichts des über die gesamte Zeit unveränderten, lediglich 2006 geringfügig redaktionell, aber nicht inhaltlich veränderten Wortlauts der einschlägigen Regelungen im RTV AVE und der Betriebsvereinbarung Nr. 20 ist ein andauernder Irrtum über den Umfang der daraus folgenden Zahlungsverpflichtung nicht nachvollziehbar. Jedenfalls konnten die Arbeitnehmer – unter ihnen der Kläger –, die eine gesondert in den Abrechnungen ausgewiesene Zahlung erhielten, nicht davon ausgehen, dass die Beklagte und ihre Rechtsvorgängerinnen damit lediglich die kollektivrechtliche Zahlungspflicht erfüllen wollten.

Soweit die Beklagte auch in der Berufungsinstanz auf den Inhalt ihres Geschäftsberichts hinweist, hat das Arbeitsgericht zu Recht jede Relevanz für das Rechtsverhältnis der Parteien und die Auslegung von Erklärungen und Handlungen der Beklagten verneint.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO.

Die Revision wurde wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Frage, welche Tatsachen ein Arbeitgeber bei einem behaupteten Irrtum über seine Zahlungsverpflichtungen vortragen muss, gem. § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zugelassen.