BGH, Urteil vom 13.03.2013 - 2 StR 392/12
Fundstelle
openJur 2013, 21356
  • Rkr:
Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 29. Februar 2012 aufgehoben.

Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung entfällt.

Der Angeklagte hat die Kosten der Revision zu tragen, jedoch wird die Gebühr um ein Drittel ermäßigt. Je ein Drittel der gerichtlichen Auslagen des ersten Revisionsverfahrens und der hier entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last, ebenso die gesamten gerichtlichen Auslagen der Neuverhandlung vor dem Landgericht und des zweiten Revisionsverfahrens sowie die gesamten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten.

Von Rechts wegen.

Gründe

Das Landgericht hatte den Angeklagten zunächst durch Urteil vom 29. März 2011 wegen Verbreitens kinderpornographischer Schriften in 22 Fällen und wegen Besitzes kinderpornographischer Schriften zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Auf die Revision des Angeklagten hatte der Senat dieses Urteil im Maßregelausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, die Sache insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen und die weitergehende Revision als unbegründet verworfen (Beschluss vom 26. Oktober 2011 - 2 StR 328/11, StV 2012, 212). 1 Das Landgericht hat nunmehr auf der Grundlage des in Rechtskraft erwachsenen Schuld- und Strafausspruchs erneut die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Dagegen wendet sich die Revision des Angeklagten mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

1. Nach den bindend gewordenen Feststellungen zu den Anlasstaten war der im Tatzeitraum 46jährige Angeklagte, der seit Geburt an einer schweren Contergan-Schädigung an Armen, Händen und einem Fuß leidet, seit 2006 Nutzer eines sog. Filesharing-Netzwerks. Über dieses Netzwerk lud er Bild- und Videodateien aus dem Internet herunter, die sexuelle Handlungen an und mit Kindern wiedergaben. Spätestens seit Oktober 2008 verwandte er für das Herunterladen der Dateien und deren Speicherung auf seinem Computer eine Software, durch die von ihrem Nutzer in bestimmten Ordnern gespeicherte Dateien zum Herunterladen durch alle anderen Netzwerknutzer freigegeben wurden. Durch die Verwendung dieses Programms stellte der Angeklagte jeweils mit Zustandekommen der Internetverbindung seines Computers in der Zeit vom 14. Oktober bis zum 3. November 2008 an 21 Tagen allen bei dem Netzwerk angemeldeten Nutzern eine Videodatei zum Herunterladen zur Verfügung, die den sexuellen Missbrauch eines ca. acht- bis zehnjährigen Mädchens durch einen erwachsenen Mann zeigte. Am 20. Januar 2009 stellte er den Netzwerknutzern neben einer Reihe anderer Filmdateien mit kinderpornographischem Inhalt die Datei eines Videofilms zur Verfügung, auf dem ein ca. zehnjähriges Mädchen beim Oralverkehr mit einem erwachsenen Mann zu sehen war. Außerdem besaß der Angeklagte Bild- und Filmmaterial mit kinderpornographischem Inhalt im Umfang von mehreren hunderttausend Dateien auf mehreren Speichermedien, die bei einer Durchsuchung am 20. Januar 2009 bei ihm sichergestellt wurden. 2 2. Das Landgericht hat neben den formellen Voraussetzungen für die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 2 StGB aF auch die materiellen Voraussetzungen gemäß § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB aF als erfüllt angesehen. Es hat einen auf der Pädophilie des Angeklagten beruhenden Hang zur Begehung von erheblichen Straftaten angenommen. Von dem Angeklagten sei auch in Zukunft ernsthaft die Begehung von Delikten zu erwarten, die in den Bereich des sexuellen Missbrauchs von Kindern (§ 176 StGB) bzw. des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern (§ 176a StGB) fielen. Bei der Gefährlichkeitsprognose hat das Landgericht zunächst die vier früheren Verurteilungen des Angeklagten wegen (teilweise auch schweren) sexuellen Missbrauchs von Kindern - erstmals 1979, zuletzt 1999 - und die danach erfolgte Verlagerung strafbaren Verhaltens in den Bereich des Besitzes und des Verbreitens von Kinderpornographie berücksichtigt, die als Abschwächung der Deliktsintensität zu sehen sei. Mit dem Sachverständigen ist das Landgericht hinsichtlich solcher Missbrauchsdelikte bei Tätern, die - wie der Angeklagte - bereits mit "handson-Delikten" aufgefallen seien und in der Folge Kinderpornographie konsumiert hätten, von einem mittelgradigen Rückfallrisiko von 40% bis 50% ausgegangen. Dieses Rückfallrisiko erfahre bei dem Angeklagten aufgrund seiner körperlichen Beschwerden eine gewisse Absenkung, die nicht zu beziffern sei. Neben dem Konsum von Kinderpornographie, der mit einer ständigen Konfrontation mit dem Thema Pädophilie verbunden und durch Entbehrung unmittelbaren sexuellen Kontakts gekennzeichnet sei, sei ausschlaggebend als risikoerhöhend zu werten, dass der Angeklagte in den vergangenen Jahren stets den Kontakt zu Kindern gesucht habe, den Kontakt zu Kindern als risikolos empfinde und weder Einsicht in die Notwendigkeit ihm angeratener Vermeidungsstrategien noch in die Schädigung von Kindern auch durch nicht gewaltsame sexuelle Übergriffe zeige.

II.

Der Maßregelausspruch hält sachlichrechtlicher Prüfung nicht stand, da das Landgericht dem für die Gefährlichkeitsprognose anzuwendenden Maßstab nicht hinreichend Rechnung getragen hat.

1. Nach der Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2365/09 u.a., BVerfGE 128, 326, 404 ff.) dürfen die - an sich verfassungswidrigen - gesetzlichen Regelungen zur Sicherungsverwahrung nur aufgrund einer "strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung" angewandt werden. Die Wahrscheinlichkeit der Begehung erheblicher Gewalt- oder Sexualdelikte muss "aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten" sein. Dies stellt gegenüber der früheren Rechtsanwendung höhere Anforderungen nicht nur an die Erheblichkeit der zu erwartenden weiteren Straftaten, sondern auch an die Wahrscheinlichkeit der künftigen Straffälligkeit des Angeklagten (vgl. BGH, Urteil vom 4. August 2011 - 3 StR 175/11, NStZ 2011, 692; Beschluss vom 13. September 2011 - 5 StR 189/11, StV 2012, 196; Beschluss vom 24. Juli 2012 - 1 StR 57/12; Senat, Beschluss vom 26. Oktober 2011 - 2 StR 328/11, StV 2012, 212). Die vom Bundesverfassungsgericht geforderte besonders strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung verlangt vom Tatrichter daher eine eingehende Prognoseentscheidung über das Vorliegen einer hohen Wahrscheinlichkeit der künftigen Begehung schwerer Gewalt- oder Sexualdelikte ohne die Maßregel. Dies erfordert eine auf die Umstände des Einzelfalls zugeschnittene, detaillierte Darlegung derjenigen Taten, die in Zukunft vom Täter zu erwarten sind (BGH, Beschluss vom 24. Januar 2012 - 4 StR 594/11, NStZ-RR 2012, 141; Senat, Urteil vom 18. Juli 2012 - 2 StR 605/11). Die für den Wahrscheinlichkeitsgrad zu benennenden Umstände ergeben sich dabei regelmäßig auch aus Anzahl, Frequenz und Tatbildern von Vorverurteilungen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 24. Januar 2012 - 5 StR 535/11 u. vom 10. Januar 2013 - 1 StR 93/11). 5 2. Nach diesem Maßstab unterliegt es durchgreifenden rechtlichen Bedenken, dass das Landgericht zur Begründung der Gefährlichkeitsprognose eingangs von einem mittelgradigen Rückfallrisiko in Bezug auf sog. "handson-Delikte" ausgeht, ohne mit diesem wiederholt verwendeten Begriff schon die konkret zu erwartende Sexualdelinquenz näher zu beschreiben. Damit legt das Landgericht nicht dar, welche Straftaten aus der Bandbreite eines sexuellen Missbrauchs von Kindern mit welcher Wahrscheinlichkeit von dem Angeklagten zu erwarten sind, dessen letzte einschlägige Tat aus Dezember 1998 längere Zeit zurückliegt, dessen erhebliche körperliche Beeinträchtigungen aufgrund der Contergan-Schädigung weiter fortschreiten und dem der Sachverständige immerhin attestierte, dass die Strafandrohung für schwere Delikte des sexuellen Missbrauchs von Kindern bei ihm Wirkung zeige (UA S. 7). Neue Umstände, welche die Gefährlichkeitsprognose negativ beeinflussen könnten, hat das Landgericht nicht festgestellt.

3. Der Senat schließt nunmehr aus, dass ein neues Tatgericht noch Tatsachen feststellen könnte, die bei Beachtung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Anordnung der Sicherungsverwahrung rechtfertigen könnten. Er entscheidet 7 deshalb selbst in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO dahin, dass die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung entfällt.

Becker Fischer Appl Berger Ott