VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 07.03.2013 - A 9 S 1873/12
Fundstelle
openJur 2013, 20696
  • Rkr:

1. Homosexuelle bilden in Nigeria eine "soziale Gruppe" im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG und Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG.

2. Auch öffentlich bemerkbare homosexuelle Verhaltensweisen sind nicht grundsätzlich vom Schutzbereich des Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG ausgenommen. 3. Allerdings unterliegen Homosexuelle in Nigeria nach derzeitiger Erkenntnislage keiner Gruppenverfolgung. Deshalb bedarf es in jedem Einzelfall, in dem ein Antragsteller geltend macht, er werde wegen seiner sexuellen Ausrichtung verfolgt, einer Gesamtwürdigung seiner Person und seines gesellschaftlichen Lebens und darauf aufbauend einer individuellen Gefahrenprognose.

a) Zu prüfen ist dabei, wie sich der einzelne Schutzsuchende bei seiner Rückkehr im Hinblick auf seine sexuelle Ausrichtung verhalten wird und wie wichtig diese Verhaltensweise für seine Identität ist.

b) Nicht beachtlich ist, ob er mit Rücksicht auf drohende Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG auf das behauptete Verhalten verzichten würde. Erst recht darf nicht angenommen werden, dass ein Schutzsuchender nur dann tatsächlich von einer Verfolgung bedroht ist, wenn er sich trotz der drohenden Verfolgungshandlung in dieser Weise verhalten würde und praktisch bereit wäre, für seine sexuelle Orientierung Verfolgung auf sich zu nehmen. Würde er jedoch aus nicht unter Art. 9 RL 2004/83/EG fallenden Gründen - etwa aus persönlichen Motiven oder aufgrund familiären oder sozialen Drucks oder Rücksichtnahmen - ein bestimmtes Verhalten im Herkunftsland nicht ausüben, ist ein solcher Verhaltensverzicht zu berücksichtigen.

c) Je mehr ein Schutzsuchender mit seiner sexuellen Ausrichtung in die Öffentlichkeit tritt und je wichtiger dieses Verhalten für seine Identität ist, desto mehr erhöht dies die Wahrscheinlichkeit, dass er verfolgt werden wird.

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 21. Juni 2012 - A 9 K 122/12 - geändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung von Ziffer 2 bis 4 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12. Januar 2012 verpflichtet, festzustellen, dass in der Person des Klägers die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Bundesrepublik Nigeria vorliegen, und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

1. Der nach seinen Angaben am ...1991 in Lagos geborene Kläger ist nigerianischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Ibo an, spricht Englisch und Ibo und ist christlichen Glaubens. Er reiste nach eigenen Angaben am 16.11.2010 auf dem Landweg nach Deutschland ein und stellte am 14.12.2010 einen Asylantrag. Er wurde am 16.12.2010 vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) angehört. Dort machte er im Wesentlichen geltend, er werde in Nigeria wegen seiner Homosexualität verfolgt. Er verhalte sich auf der Straße „wie ein Mädchen“ und werde deshalb beschimpft und gedemütigt. Im Jahr 2008 sei er wegen seiner weiblichen Art auf der Straße mit einem Messer angegriffen und verletzt worden. Wegen seiner weiteren Angaben wird auf das Anhörungsprotokoll in der Akte des Bundesamtes verwiesen.

Mit Bescheid vom 12.01.2012 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter als offensichtlich unbegründet ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft offensichtlich nicht vorliegen. Des Weiteren wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Ihm wurde die Abschiebung nach Nigeria angedroht.

2. Der Kläger hat am 19.01.2012 Klage erhoben und einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt. Er hat seinen bisherigen Vortrag ergänzt und vertieft. So hat er eine Fotografie von sich vorgelegt, auf der eine Narbe auf der rechten Brust zu sehen ist, und hat vorgebracht, sie stamme von einem Messerangriff am 20.12.2008 in Lagos-Surulere. In der mündlichen Verhandlung vom 21.06.2012 hat das Verwaltungsgericht den Kläger persönlich angehört. Wegen seiner dortigen Angaben wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung in der Akte des Verwaltungsgerichts verwiesen (A 9 K 122/12).

Mit Beschluss vom 21.06.2012 (A 9 K 123/12) hat das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet. Der vom Bundesamt angenommene Maßstab der offensichtlichen Unbegründetheit sei nicht einschlägig.

Mit Urteil vom gleichen Tage hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf die Feststellung, dass in seiner Person in Bezug auf Nigeria die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen. Er habe nicht zur Überzeugung des Gerichts substantiiert vorgetragen, in Nigeria von staatlichen Organen oder individuell von nicht-staatlichen Akteuren aufgrund seiner behaupteten Homosexualität bedroht gewesen zu sein. Als konkrete Verfolgungshandlung habe er sowohl vor dem Bundesamt als auch in der mündlichen Verhandlung lediglich einen Vorfall aus dem Jahr 2008 benannt und habe damit auf ein Geschehen verwiesen, das knapp zwei Jahre vor seiner Ausreise stattgefunden haben solle. Ungeachtet des deshalb nicht gegebenen zeitlichen Zusammenhangs zwischen Angriff und Ausreise erweise sich das Ereignis nicht als asylrelevant. So habe der Kläger in der mündlichen Verhandlung selbst angegeben, bei dem Angriff Hilfe durch einen Polizisten erfahren zu haben. Es sei weiter nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die zuständigen nigerianischen Behörden von einer homosexuellen Betätigung des Klägers Kenntnis erlangten. Es sei davon auszugehen, dass es dem Kläger zuzumuten sei, seine homosexuelle Veranlagung und Betätigung nicht nach außen hin bekannt werden zu lassen, sondern auf den Bereich seines engsten persönlichen Umfeldes zu beschränken. Es sei dem Kläger ebenso zumutbar, seinen Aufenthalt in einer der größeren Städte Nigerias, insbesondere in Lagos, zu nehmen. Es bestünden dort - insbesondere innerhalb der westlich ausgebildeten Elite und nigerianischen Oberschicht - Zentren einigermaßen tolerierter Homosexualität, die einen Umgang mit Homosexualität möglich machten. Aufgrund der Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung sei das Gericht davon überzeugt, dass er in der Lage sei, sich diesen Kreisen anzuschließen. So habe er angegeben, in der Vergangenheit bereits eine Beziehung zu einem Geschäftsmann aus Lagos gehabt zu haben.

3. Am 11.08.2012 hat der Kläger die Zulassung der Berufung beantragt. Mit Beschluss vom 11.09.2012 - zugestellt am 14.09.2012 - hat der Senat die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.

Am 26.09.2012 hat der Kläger die Berufung begründet. Er ist der Ansicht, es sei unzutreffend, dass es in den größeren Städten Nigerias, zum Beispiel in Lagos, Zentren einigermaßen tolerierter Homosexualität gebe. Zudem sei es ihm nicht zumutbar, seine homosexuelle Veranlagung und Betätigung nicht nach außen hin bekannt werden zu lassen und auf den Bereich seines engsten persönlichen Umfeldes zu beschränken. Das anspruchsabwehrende Argument eines Vermeidungsverhaltens in Bezug auf die sexuelle Identität beziehungsweise Orientierung laufe europäischen und internationalen Menschenrechtsstandards zuwider und verstoße ebenso gegen europäisches und internationales Flüchtlingsrecht, weil es dem Betroffenen das Verbergen gerade des Merkmals auferlege, dessen Schutz die Genfer Flüchtlingskonvention ebenso wie die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304 vom 30.09.2004, S. 12, ber. ABl. L 204 vom 05.08.2005, S. 24 - im Folgenden: RL 2004/83/EG) bezwecke. Dies gelte sowohl für ein mögliches als auch für ein tatsächliches Vermeidungsverhalten. Der nigerianische Staat toleriere Homosexualität nicht. Homosexuelle, die ihre Homosexualität leben wollten, seien Verfolgung in Anknüpfung an ihre sexuelle Identität und auch von Seiten privater Dritter ausgesetzt, ohne dass der Staat Schutz bieten könne und wolle. Alle vom Senat eingeholten Auskünfte seien sich darin einig, dass die Praktizierung von Homosexualität in Nigeria strafbar sei, sei sie privat oder öffentlich. Einigkeit bestehe auch bezüglich der Strafverfolgung, sowie im Wesentlichen auch bezüglich des Gesetzgebungsverfahrens „Same Sex Marriage (Prohibition) Bill, 2011“. Während Amnesty International und die Schweizerische Flüchtlingshilfe ein reales Verfolgungsrisiko auch bei einer diskreten Lebensweise annähmen, stehe dem die Einschätzung des Auswärtigen Amts entgegen, dass Homosexuelle in urbanen Orten, beispielsweise in Lagos, ihre sexuelle Orientierung beziehungsweise Lebensweise einigermaßen gefahrlos leben könnten. Allerdings enthalte auch die Einschätzung des Auswärtigen Amtes die Einschränkung, dass die Betroffenen „dabei diskret bleiben“. Gerade diese Einschränkung mache deutlich, dass Homosexuelle in Nigeria in ständiger Angst vor einer Entdeckung leben müssten. Wenn man die übrigen Ausführungen zur Lage in Nigeria, insbesondere die Einstellung der Bevölkerung, die in allen drei Auskünften übereinstimmend geschildert werde, berücksichtige, sei das Risiko einer Entdeckung als „real risk“ im Sinne einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung zu verstehen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 21.06.2012 - A 9 K 122/12 - zu ändern und Ziffer 2 bis 4 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12.01.2012 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass in der Person des Klägers die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Bundesrepublik Nigeria vorliegen, und dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,hilfsweise diese zu verpflichten, festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG vorliegt,höchsthilfsweise diese zu verpflichten, festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG vorliegt.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie meint, eine strafrechtliche Verfolgung einvernehmlicher homosexueller Handlungen werde selten bekannt. Homosexuelle versuchten aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen und weit verbreiteter Vorbehalte in der Bevölkerung, ihre sexuelle Orientierung zu verbergen. Aus den Quellen ergebe sich ebenfalls nicht, dass eine systematische staatliche Verfolgung stattfinde, zum Beispiel durch gezielte Suche mittels Razzien in von Homosexuellen frequentierten Bars oder an deren sonstigen Treffpunkten. Vor diesem Hintergrund werde bereits die geringe Anzahl der Berichte über strafrechtliche und sonstige Verfolgungsfälle Homosexueller in Relation zu der anzunehmenden Zahl irreversibel auf Homosexualität geprägter nigerianischer Staatsangehöriger gegen ein als generell beachtlich wahrscheinlich einzustufendes Gefährdungsrisiko sprechen. Es möge im Einzelfall durchaus zu einer Strafverfolgung kommen können, etwa wenn der Betreffende bei den Behörden wegen tatsächlicher oder angeblicher homosexueller Betätigung angezeigt werde. Auch könne Verfolgung drohen, wenn die homosexuelle Prägung bekannt werde.

Das Urteil des EuGH vom 05.09.2012 (Rs. C-71/11 u.a.) sei auf den vorliegenden Fall nur bedingt übertragbar. Es beziehe sich auf einen anderen Verfolgungsgrund. Gleichwohl habe sie, die Beklagte, entschieden, in Übertragung dieser Grundsätze einen Schutzsuchenden wegen seiner individuellen sexuellen Prägung nicht mehr auf eine mögliche Verhaltensanpassung zur Vermeidung einer Verfolgung zu verweisen. Dazu sei sie nach Art. 3 RL 2004/83/EG befugt. Notwendig sei eine doppelte Prognose: Zunächst zum konkret im Einzelfall tatsächlich nach Rückkehr zu erwartenden Verhalten und sodann zu den gerade hieran anknüpfenden Reaktionen seitens der in Betracht zu ziehenden Verfolgungsakteure. Der EuGH habe eine Prüfung und Feststellung im Hinblick auf die persönlichen Umstände des Betroffenen gefordert, ob er aufgrund der Ausübung dieser Freiheit in seinem Herkunftsland tatsächlich Gefahr laufe, verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Eine begründete Furcht liege vor, sobald im Hinblick auf die persönlichen Umstände vernünftigerweise anzunehmen sei, dass er nach Rückkehr in sein Herkunftsland Betätigungen vornehmen werde, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzten. Sei nach der Einzelfallprüfung davon auszugehen, dass der Kläger nach Rückkehr sich lediglich in zurückgenommener Weise verhalten werde und zeige sich nach der Quellenlage nicht, dass ein beachtliches Gefährdungsrisiko in Anknüpfung an dieses Verhalten bestehe, sei die Situation nicht anspruchsbegründend. Soweit die Verhaltensanpassung im Hinblick auf subjektive Befürchtungen für den Fall eines darüber hinausgehenden Handelns zurückzuführen sei, stelle dies zwar eine Beeinträchtigung des Einzelnen dar. Die Beeinträchtigung müsse jedoch eine Intensität im Sinne von Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG erreichen. Dies sei jedoch nicht erkennbar. Die Verhaltenseinschränkung erreiche nicht die Schwere einer Verletzung nach Art. 3 EMRK, weil die Verhaltensveränderung nicht erzwungen sei, sondern darauf zurückgehe, dass der Kläger - unabhängig von den dafür leitenden Motiven - es von sich aus für geboten halte, sein Verhalten entsprechend einzuschränken.

Zu prüfen sei daher, wie sich der Kläger vor dem Verlassen seines Heimatlandes verhalten habe, wie er sich seither hier verhalte und ob sich dies bei der Gesamtbetrachtung als Konsequenz einer bestehenden Persönlichkeitsprägung zeige. Dabei könne es nicht allein auf die subjektive Sicht des Schutzsuchenden ankommen. Vielmehr sei auch nach der Rechtsprechung des EuGH zu prüfen, wie sich der Betreffende vernünftigerweise verhalten werde. Bislang sei nicht feststellbar, dass der Kläger in Nigeria kein den dortigen Verhältnissen angepasstes Leben führen werde, sondern darüber hinaus gehe. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger sich bei einer Rückkehr an der gesellschaftlichen Wirklichkeit in seinem Heimatland orientieren werde.

4. Mit Beschluss vom 23.11.2012 hat der Senat dem Kläger Prozesskostenhilfe bewilligt. Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung des Senats persönlich angehört worden. Insoweit wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung verwiesen.

Der Senat hat die Erkenntnismittel, die in der den Beteiligten am 04.02.2012 übermittelten Liste genannt sind, die im Internet veröffentlichten Länderinformationen des Auswärtigen Amtes zu Nigeria (Stand Oktober 2012) sowie Länderinformationen zu Nigeria auf der Homepage von „www.lexas.de“ zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht. Außerdem hat der Senat Auskunft eingeholt beim Auswärtigen Amt, bei Amnesty International und bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. Die Auskünfte sind den Beteiligten zur Kenntnis gebracht worden.

Dem Senat liegt die den Kläger betreffende Akte des Bundesamts vor. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf diese Akte, die im Verfahren gewechselten Schriftsätze der Beteiligten sowie die eingeholten Auskünfte verwiesen.

Gründe

Die Berufung ist erfolgreich.

Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige Berufung (vgl. § 124a Abs. 6 VwGO) des Klägers ist begründet. Die vom Kläger im Hauptantrag erhobene Verpflichtungsklage auf Feststellung, dass in seiner Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Bundesrepublik Nigeria vorliegen, und damit auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 6 AufenthG), sowie die gegen Ziffer 4 des Bescheids vom 12.01.2012 erhobene Anfechtungsklage haben Erfolg.

I.

Der Kläger hat nach dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in seiner Person hinsichtlich der Bundesrepublik Nigeria vorliegen, und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

1. Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - vom 28.07.1951 (BGBl. 1953 II S. 559), wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 RL 2004/83/EG ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG). Die RL 2004/83/EG ist vorliegend auch noch maßgeblich, weil nach Art. 40 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9 - Neufassung der RL 2004/83/EG) diese Richtlinie erst mit Wirkung vom 21.12.2013 aufgehoben wird.

Nach Art. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG ist Flüchtling unter anderem derjenige Drittstaatsangehörige, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Die Voraussetzungen für die Annahme einer begründeten Furcht vor Verfolgung entsprechen den Voraussetzungen, die von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts für das Vorliegen einer „Verfolgungsgefahr“ verlangt wurden (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.03.2012 - 10 C 7/11 -, Juris Rn. 12). Sie liegen vor, wenn dem Schutzsuchenden bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei ist eine „qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Schutzsuchenden Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann deshalb auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb dann anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden „zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts" die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist in dieser Hinsicht damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118/90 -, BVerwGE 89, 162).

Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist beziehungsweise dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG). Unter einer eine Vorverfolgung begründenden unmittelbar drohenden Verfolgung ist eine bei der Ausreise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung zu verstehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.12.1993 - 9 C 45/92 -, DVBl. 1994, 524).

Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 02.07.1980 - 1 BvR 147/80 u.a. -, BVerfGE 54, 341; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 237/80 -, Juris Rn. 13). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Verfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.02.1997 - 9 C 9/96 -, BVerwGE 104, 97), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.1982 - 9 C 308/81 -, BVerwGE 65, 250). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.02.1997, a.a.O., 99).

Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 RL 2004/83/EG erlitten hat (vgl. BVerwG, Urteile vom 27.04.2010 - 10 C 5/09 -, BVerwGE 136, 377, und vom 01.06.2011 - 10 C 25/10 -, InfAuslR 2011, 408; vgl. auch EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 Buchst. c und e RL 2004/83/EG enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“, zu diesem Begriff: EGMR, Urteil der Großen Kammer vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi -, NVwZ 2008, 1330); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteile vom 01.03.2012, a.a.O, Rn. 12, und vom 18.04.1996 - 9 C 77/95 -, Juris Rn. 6; Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33/07 -, ZAR 2008, 192). Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten beziehungsweise Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung beziehungsweise einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 02.03.2010, a.a.O.). Dadurch wird der Vorverfolgte beziehungsweise Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden beziehungsweise schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010, a.a.O.). Demjenigen, der im Herkunftsstaat Verfolgung erlitten hat oder dort unmittelbar von Verfolgung bedroht war, kommt die Beweiserleichterung unabhängig davon zugute, ob er zum Zeitpunkt der Ausreise in einem anderen Teil seines Heimatlandes hätte Zuflucht finden können; der Verweis auf eine inländische Fluchtalternative vor der Ausreise ist nicht mehr zulässig (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52/07 -, BVerwGE 133, 55).

Die Vermutung nach Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung beziehungsweise des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010, a.a.O.). Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG bezieht sich insoweit nur auf eine zukünftig drohende Verfolgung. Maßgeblich ist danach, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stünde (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.11.2011 - 10 B 32/11 -, Juris Rn. 7).

Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Buchst. a) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchst. a beschriebenen Weise betroffen ist (Buchst. b). Beim Flüchtlingsschutz bedeutet allein die Gefahr krimineller Übergriffe ohne Anknüpfung an einen flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsgrund keine Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.11.2011, a.a.O., Rn. 7). Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG bestimmt, dass eine Verknüpfung zwischen den in Art. 10 RL 2004/83/EG genannten Verfolgungsgründen und den in Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG als Verfolgung eingestuften Handlungen bestehen muss.

Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gruppenverfolgung; vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 - 1 C 15/05 -, BVerwGE 126, 243; Urteil vom 01.02.2007 - 1 C 24/06 -, Juris Rn. 7). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158/94 -, BVerwGE 96, 200) - ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006, a.a.O.). Das Konzept der Gruppenverfolgung steht mit den Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Richtlinie 2004/83/EG in Einklang (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11/08 -, NVwZ 2009, 1237; vgl. zur Gruppenverfolgung zuletzt auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 -, Juris; Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, Juris Rn. 27 ff.).

Die Bundesrepublik Deutschland hat in § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG von der den Mitgliedstaaten in Art. 8 RL 2004/83/EG eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht, internen Schutz im Rahmen der Flüchtlingsanerkennung zu berücksichtigen. Gemäß Art. 8 Abs. 1 RL 2004/83/EG können die Mitgliedstaaten bei der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz feststellen, dass ein Antragsteller keinen internationalen Schutz benötigt, sofern in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung beziehungsweise keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht und von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG verlangt von den Mitgliedstaaten bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, die Berücksichtigung der dortigen allgemeinen Gegebenheiten und der persönlichen Umstände des Antragstellers zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag. Gemäß Absatz 3 kann Absatz 1 auch angewandt werden, wenn praktische Hindernisse für eine Rückkehr in das Herkunftsland bestehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.11.2009 - 10 C 20/08 -, Juris Rn. 14; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 15.02.2012 - A 3 S 1876/09 -, Juris Rn. 27 ff.).

2. Bei Anwendung dieser Vorgaben hat der Kläger Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG, weil er die Voraussetzungen hierfür erfüllt.

a) Der Senat ist nach Durchführung der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass der Kläger homosexuell ist und deshalb zu einer „sozialen Gruppe“ im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG und Art. 2 Buchst. c sowie Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG gehört.

aa) Homosexuelle bilden in Nigeria eine „soziale Gruppe“ im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG und Art. 2 Buchst. c sowie Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG.

(1) Eine Gruppe gilt insbesondere als eine soziale Gruppe in diesem Sinne, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und wenn die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland kann als eine soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Ausrichtung gründet. Als sexuelle Ausrichtung dürfen keine Handlungen verstanden werden, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten.

(a) Nach der vor Inkrafttreten der RL 2004/83/EG ergangenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht stellte nur die irreversible Homosexualität ein Persönlichkeitsmerkmal dar, an das Verfolgungsmaßnahmen ebenso wenig geknüpft werden durften wie beispielsweise an die in Art. 1 A Nr. 2 GK genannten Merkmale der Rasse, Nationalität, Religion oder politischen Überzeugung. In diesem Sinne asylrelevant war allerdings nicht bereits die bloße, auf gleichgeschlechtliche Betätigung gerichtete Neigung, der nachzugeben mehr oder weniger im Belieben des Betreffenden steht, sondern nur die unumkehrbare Festlegung auf homosexuelle Triebbefriedigung. Nur eine homosexuelle Veranlagung, bei welcher der Betreffende außerstande ist, eine gleichgeschlechtliche Betätigung zu unterlassen, war den schicksalhaft zufallenden persönlichen Eigenschaften wie Rasse oder Nationalität vergleichbar. Hingegen war es nicht - auch - Merkmal der Irreversibilität der homosexuellen Veranlagung, dass der Umgang mit Sexualpartnern des gleichen Geschlechts die einzige Form ist, in der die betreffende Person sich sexuell zu betätigen vermag. Auch eine neben einer heterosexuellen Orientierung vorhandene homosexuelle Triebrichtung, welcher der Betreffende aus eigener Kraft auf Dauer und immer erneut nicht zu widerstehen beziehungsweise auszuweichen vermag und die deshalb immer wieder zur Vornahme homosexueller Handlungen führt, war irreversibel. Auch für eine gleichgeschlechtliche Veranlagung dieser Art trafen die Gründe zu, welche die irreversible Homosexualität zu einem asylrelevanten Persönlichkeitsmerkmal machten (vgl. BVerwG, Urteile vom 15.03.1988 - 9 C 278/86 -,BVerwGE 79, 143, und vom 17.10.1989 - 9 C 25/78 -, NVwZ-RR 1990, 375; Beschluss vom 15.09.2005 - 1 B 12/05 -, Juris).

Die EU-Kommission hat in der Begründung ihres Vorschlags für die RL 2004/83/EG die sexuelle Ausrichtung dagegen nicht zu den angeborenen oder unveränderlichen, sondern zu identitätsprägenden Merkmalen gezählt, deren Verzicht nicht verlangt werden soll. Zugleich hat sie ausgeführt, dass der Verweis auf das Geschlecht oder die sexuelle Ausrichtung nicht implizierten, dass Frauen und Homosexuelle diesen Verfolgungsgrund in jedem Fall geltend machen könnten. Ob er Anwendung finden könne, hänge von den jeweiligen Umständen und der Situation im Herkunftsland sowie den Merkmalen der Verfolgung und des Verfolgten ab (KOM <2001> 510 endg., S. 24).

Auch nach der nach Inkrafttreten der RL 2004/83/EG herrschenden Meinung werden die sexuelle Ausrichtung und mithin auch die Homosexualität zu den Merkmalen gerechnet, die für die Identität so bedeutsam sind, dass die Betreffenden nicht gezwungen werden sollten, auf sie zu verzichten (vgl. UNHCR, Guidelines on International Protection No. 9, 23.10.2012, Rn. 44 ff., siehe zur Bedeutung der UNHCR Guidelines: Art. 35 Abs. 1 GFK und BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, Juris Rn. 38; ferner: Hruschka/Löhr, NVwZ 2009, 205, 210; Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 25 Rn. 2; Titze, ZAR 2012, 93, 95; Markard, Asylmagazin 2013, S. 74, 80; Göbel-Zimmermann/Masuch, in: Huber <Hrsg.> AufenthG, 2010, § 60 Rn. 83; auch: VG Oldenburg, Urteil vom 13.11.2007 - 1 A 1824/07 -, Juris Rn. 25; VG Frankfurt <Oder>, Urteil vom 11.11.2010 - VG 4 K 772/10.A -; VG Hamburg, Urteil vom 17.02.2011 - 4 A 265/10 -; VG Regensburg, Urteil vom 07.10.2011 - RN 5 K 11.30261 -; VG Stuttgart, Urteil vom 15.08.2012 - A 8 K 344/11 -; VG Düsseldorf, Urteil vom 26.09.2012 - 23 K 3686/10.A -, Juris Rn. 51 ff.). Darauf, ob der Betroffene auf Homosexualität „unentrinnbar schicksalhaft festgelegt“ ist und er insoweit „irreversibel geprägt“ ist, kommt es nach der herrschenden Meinung nicht mehr an.

Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen hatte Zweifel, ob Homosexualität als sexuelle Ausrichtung im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 2 RL 2004/83/EG anzusehen ist und ein hinreichender Verfolgungsgrund sein kann oder ob es einer ergänzenden Präzisierung bedarf, und hat diese Frage dem EuGH vorgelegt (vgl. Beschluss vom 23.11.2010 - 13 A 1013/09.A -, Juris Rn. 40 ff.). Die Vorlage hat sich später erledigt, nachdem der EuGH den Namen des Klägers auf seiner Website öffentlich gemacht und das Bundesamt daraufhin dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 15.02.2011 - 13 A 1013/09.A -, Juris). Derzeit sind beim EuGH mehrere, miteinander verbundene Vorabentscheidungsersuchen des niederländischen Raad von State vom 27.04.2012 anhängig (Rs. C-199/12, C-200/12 und C-201/12).

(b) Eine solche Vorlage nach Art. 267 AEUV hält der Senat nicht für erforderlich, weil er keine Zweifel hinsichtlich der Auslegung der RL 2004/83/EG hat. Entscheidend für die Einordnung von Homosexualität und des Merkmals der „sexuellen Ausrichtung“ als identitätsprägendes Merkmal im Sinne des Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG ist, dass der EGMR Fragen der sexuellen Selbstbestimmung und des Geschlechtslebens unter den von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Begriff des „Privatlebens“ subsumiert (vgl. EGMR, Urteil vom 27.09.1999 - 33985/96 u.a. - „Smith u. Grady“ -, NJW 2000, 2089 f.; Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl. 2011, Art. 8 Rn. 19 ff.). Sie fallen daher auch in den Schutzbereich von Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU, die nach ihrem Art. 51 Abs. 1 Satz 1 bei der Auslegung und der Durchführung der RL 2004/83/EG zu beachten ist (vgl. Jarass, Charta der EU-Grundrechte, 2010, Art. 7 Rn. 8). Daher ist nicht eine unentrinnbare Neigung maßgebend, sondern die frei gewählte sexuelle Bestimmung (vgl. Marx, a.a.O., § 25 Rn. 4 ff.; Titze, a.a.O., S. 95). Die oben dargestellte einschränkende Bezugnahme der Kommission in der Begründung des Richtlinienentwurfs auf die Umstände des Herkunftslandes hat ihre Grundlage in der in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 1 Spiegelstrich 2 RL 2004/83/EG genannten Voraussetzung, die selbständig zu prüfen ist.

(2) Diese in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 1 Spiegelstrich 2 RL 2004/83/EG genannte Voraussetzung für das Vorliegen einer „sozialen Gruppe“ ist hinsichtlich Nigeria gegeben. In Nigeria ist davon auszugehen, dass Homosexuelle eine deutlich abgegrenzte Identität besitzen, weil sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden. Es ergibt sich aus allen vorliegenden Quellen unzweifelhaft, dass Homosexualität in Nigeria nicht für „normal“ gehalten wird.

(3) Auch öffentlich bemerkbare homosexuelle Verhaltensweisen sind nicht grundsätzlich vom Schutzbereich des Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG ausgenommen.

(a) Darauf könnte zwar hindeuten, dass von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 1 Spiegelstrich 1 RL 2004/83/EG nur solche identitätsprägenden Merkmale geschützt sind, die so bedeutsam sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Zudem findet sich - anders als in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/83/EG mit Blick auf den Begriff „Religion“ - nicht der Hinweis, dass neben dem privaten Bereich auch die Praxis im öffentlichen Bereich geschützt sei. Daraus wird teilweise abgeleitet, dass das Ausleben der sexuellen Ausrichtung nur hinsichtlich des Lebens im Verborgenen beziehungsweise im privaten Bereich geschützt sei. Dem Betreffenden sei es daher zumutbar, seine Veranlagung nur im nichtöffentlichen Bereich seines Heimatlandes auszuleben (vgl. VG Hamburg, Urteil vom 17.02.2011 - 4 A 265/10 -; vgl. zu entsprechenden Zweifeln: OVG NRW, Beschluss vom 23.11.2010, a.a.O.; auch: BVerwG, Beschluss vom 09.12.2010 - 10 C 19/09 -, Juris Rn. 34 und 52). So hatte das Bundesverwaltungsgericht noch im Jahr 1988 entschieden, dass der strafrechtliche Zwang, sich entsprechend den im Herkunftsland geltenden herrschenden sittlichen Anschauungen zu verhalten und hierdurch nicht im Einklang stehende Verhaltensweisen zu unterlassen, für denjenigen, der sich ihm beugt, keine politische Verfolgung im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a.F. darstelle. Das Asylrecht habe nicht die Aufgabe, möglicherweise gewandelte moralische Anschauungen in der Bundesrepublik über homosexuelles Verhalten in anderen Staaten durchzusetzen (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.03.1988, a.a.O., 149 f.).

(b) Ausgehend von der jüngsten Rechtsprechung des EuGH ist dieser Auslegung von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG jedoch nicht zu folgen.

Zwar gibt es auch Grenzen für den Schutzbereich des Merkmals „sexuelle Ausrichtung“. Dies folgt schon daraus, dass nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 3 RL 2004/83/EG darunter keine Handlungen fallen, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten. Diese Einschränkung gilt freilich nur insoweit, als die betreffenden nationalen Regelungen vor Art. 8 EMRK und Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU Bestand haben. Die einvernehmliche Betätigung unter Erwachsenen im Privatbereich ist danach grundsätzlich geschützt und darf strafrechtlich nicht geahndet werden (vgl. EGMR, Urteil vom 22.10.1981 „Dudgeon“ -, NJW 1984, 541). Gemäß Art. 8 EMRK und Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU kann allerdings die Ausübung sexueller Praktiken in der Öffentlichkeit - und zwar homo- und heterosexueller Art gleichermaßen (vgl. Art. 14 EMRK und Art. 21 Abs. 1 Charta der Grundrechte der EU) - weiterhin wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses (vgl. etwa § 183a StGB) untersagt werden (vgl. Marx, a.a.O., Rn. 30).

Für den Verfolgungsgrund der Religion hat der EuGH am 05.09.2012 entschieden, dass bei der individuellen Prüfung eines Antrags auf Anerkennung als Flüchtling die Behörden dem Antragsteller nicht zumuten können, auf einen bestimmten Aspekt der Ausübung der Religionsfreiheit - etwa die öffentliche Ausübung - zu verzichten (vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 05.09.2012 - Verb. Rs. C-71/11 und C-99/11 „Y. und Z. ./. Deutschland“ -, Rn. 73 ff.). Die Unterscheidung, ob der Eingriff in einen Kernbereich („forum internum“) oder in die religiöse Betätigung in der Öffentlichkeit („forum externum“) erfolgt, wurde vom EuGH für nicht vereinbar mit Art. 10 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/83/EG befunden (vgl. Urteil vom 05.09.2010, a.a.O., Rn. 63 ff.). Bei der Prüfung der Verfolgungshandlung darf nicht darauf abgestellt werden, in welche Komponente der Religionsfreiheit eingegriffen wird. Maßgeblich ist allein die Art und Schwere der Repression. Bei der Prüfung einer Gefahr muss die Behörde objektive und subjektive Gesichtspunkte berücksichtigen. Der subjektive Umstand, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis in der Öffentlichkeit, die Gegenstand der beanstandeten Einschränkung ist, zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist, ist ein relevanter Gesichtspunkt für die Größe der Gefahr, der der Antragsteller in seinem Herkunftsland wegen seiner Religion ausgesetzt wäre. Der EuGH hat weiter hervorgehoben, dass sich die Frage, ob eine Verfolgung durch Verzicht auf eine bestimmte Handlung vermieden werden kann, dann nicht stellt, wenn der Betroffene bereits verfolgt war oder unmittelbar mit Verfolgung bedroht worden ist (vgl. Urteil vom 05.09.2010, a.a.O., Rn. 74).

Diesem Urteil ist das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 20.02.2013 gefolgt (10 C 20/12 u.a.). In der diesbezüglichen Pressemitteilung vom 20.02.2013 (die Entscheidungsgründe liegen noch nicht vor) heißt es: Ein Ausländer ist als Flüchtling anzuerkennen, wenn seine Furcht begründet ist, dass er in seinem Herkunftsland wegen der öffentlichen oder privaten Ausübung seiner Religion verfolgt wird. Auch ein durch strafrechtliche Sanktionen erzwungener Verzicht auf die Ausübung der Religion in der Öffentlichkeit kann zur Flüchtlingsanerkennung führen. Dann aber muss die Ausübung gerade dieser religiösen Praxis für den Betroffenen zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig sein. Zwar ist nicht jeder Eingriff in die Religionsfreiheit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung. Doch können schwere Eingriffe auch in die öffentliche Religionsausübung zur Flüchtlingsanerkennung führen. Die öffentliche Glaubensbetätigung muss dann für den Einzelnen ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Andernfalls bliebe der Betroffene gerade in solchen Ländern schutzlos, in denen die angedrohten Sanktionen besonders schwerwiegend und so umfassend sind, dass sich Gläubige genötigt sehen, auf die Glaubenspraktizierung zu verzichten.

Vor diesem Hintergrund können nach Auffassung des Senats auch im Rahmen von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG - abgesehen von den auch in den Mitgliedstaaten der EU strafbaren Handlungen (vgl. Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 3 RL 2004/83/EG) - nicht bestimmte Verhaltensweisen von vornherein für verzichtbar angesehen werden (vgl. Titze, a.a.O.; Markard, a.a.O., 76 ff.; UNHCR, a.a.O., Rn. 30 ff.). Der Wortlaut der Richtlinie differenziert nicht zwischen heimlichen und nicht verheimlichten Verhaltensweisen. Maßgebend ist allein das identitätsprägende Merkmal als solches. Die betreffende Verhaltensweise muss für die Identität des Betroffenen bedeutend und besonders wichtig sein. Bei einer anderen Auslegung würden die Ziele, die mit der RL 2004/83/EG sowie der Genfer Flüchtlingskonvention erreicht werden sollen, von vornherein in Frage gestellt. Eine Verfolgung bleibt nämlich auch dann eine Verfolgung, wenn der Betroffene nach Rückkehr in sein Herkunftsland die Möglichkeit hat, sich bei der Ausübung seiner Rechte und Freiheiten diskret zu verhalten, indem er seine Sexualität und seine politischen Ansichten sowie seine Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft verheimlicht oder davon Abstand nimmt, nach seiner sexuellen Ausrichtung zu leben (vgl. Schlussantrag von Generalanwalt Bot vom 19.04.2012 - Verb. Rs. C-71/11 und C-99/11 -, Rs. C-71/11 und Rn. 103 ff.).

(c) Zu prüfen ist daher, wie sich der Schutzsuchende bei seiner Rückkehr im Hinblick auf seine sexuelle Ausrichtung verhalten wird und wie wichtig diese Verhaltensweise für seine Identität ist. Bei der auf einer Gesamtwürdigung der Person des Schutzsuchenden beruhenden Prognose des Verhaltens in seinem Herkunftsland ist nicht beachtlich, ob er mit Rücksicht auf drohende Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG - etwa einer zu erwartenden Strafverfolgung - auf das behauptete Verhalten verzichten würde. Denn hierbei handelt es sich um ein Vermeidungsverhalten, das vom Schutzsuchenden angesichts der Ziele der RL 2004/83/EG nicht verlangt werden kann, weil es kausal im Sinne von Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG auf einer drohenden Verfolgung beruht. Daher darf - entgegen der Auffassung des Bundesamtes - erst recht nicht angenommen werden, dass ein Schutzsuchender nur dann tatsächlich von einer Verfolgung bedroht ist, wenn er sich trotz der drohenden Verfolgungshandlung in dieser Weise verhalten würde und praktisch bereit wäre, für seine sexuelle Orientierung Verfolgung auf sich zu nehmen. Würde er jedoch aus nicht unter Art. 9 RL 2004/83/EG fallenden Gründen - etwa aus persönlichen Gründen oder aufgrund familiären oder sozialen Drucks oder Rücksichtnahmen - ein bestimmtes Verhalten im Herkunftsland nicht ausüben, ist ein solcher Verhaltensverzicht bei der Beurteilung, ob der Schutzsuchende Flüchtling im Sinne von Art. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG ist, zu berücksichtigen (so auch für das Vereinigte Königreich: Supreme Court, Judgement vom 07.07.2010 <2010> UKSC 31, Lord Hope, Rn. 22 und Lord Rodger, Rn. 82; ebenso: Markard, a.a.O., 789; krit.: Titze, a.a.O., 98 f., und Weßels, International Journal of Refugee Law, Vol. 24 (2013), Nr. 4, S. 815; siehe zu möglichen Prüfkriterien bei der Gesamtwürdigung: UNHCR, a.a.O., Rn. 49 und 63). Dabei darf die gesellschaftliche Wirklichkeit, in der sexuelles Verhalten tendenziell im Privaten stattfindet, nicht ausgeblendet werden. Denn das Ziel des europäischen Asylsystems und der Genfer Flüchtlingskonvention besteht nicht darin, einem Einzelnen immer dann Schutz zu gewähren, wenn er in seinem Herkunftsland die in der Charta der Grundrechte der EU oder in der EMRK eingeräumten Rechte nicht in vollem Umfang tatsächlich ausüben kann, sondern darin, die Anerkennung als Flüchtling auf Personen zu beschränken, die der Gefahr einer schwerwiegenden oder systematischen Verletzung ihrer wichtigsten Rechte ausgesetzt sind und deren Leben in ihrem Herkunftsland unerträglich geworden ist (so EuGH, Urteil vom 05.09.2012, a.a.O., Rn. 58 ff.; Generalanwalt Bot, Schlussantrag vom 19.04.2012, a.a.O., Rn. 28).

bb) In Anwendung dieser Maßstäbe ergibt sich die Homosexualität des Klägers und damit seine Zugehörigkeit zu einer „sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG sowie das von ihm bei einer Rückkehr zu erwartende, für seine Identität besonders wichtige Verhalten aus Folgendem:

Der Senat ist davon überzeugt, dass der Kläger homosexuell ist (vgl. auch die vom UNHCR, a.a.O., Rn. 49 und 63, für bedeutsam gehaltenen Prüfelemente). Die Homosexualität des Klägers war in der mündlichen Verhandlung für den Senat offensichtlich. Er macht auf Dritte offensichtlich einen femininen Eindruck, der sich aus seiner Sprechweise, seiner Art, sich zu geben, und seinem gesamten Verhalten ergibt. Dass er einen solchen Eindruck hinterlässt, ist dem Kläger - wie er in seinen bisherigen Anhörungen mitgeteilt hat - bewusst. Der Kläger hat zudem glaubhaft angegeben, dass er die Homosexualität sein ganzes Leben lang gefühlt habe. Allerdings habe er zunächst nicht gewusst, was Homosexualität sei. Er habe jedoch immer nur Gefühle für „Jungs“ gehabt, sich feminin gefühlt. Dieses Gefühl habe sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt. Seine Geschwister hätten seine Veranlagung wohl vermutet. Sein Bruder habe ihn einmal direkt danach gefragt, auch seine Schwester. Er habe es ihnen gegenüber jedoch nicht zugegeben, weil er Angst gehabt habe, wie sein Bruder reagiere. Er sei sich nicht ganz sicher, ob der Bruder es nun wisse. Er selbst könne nicht anders sein. Er habe keine Möglichkeit, sich zu ändern oder mit seinem Verhalten aufzuhören. Ab April 2008 habe er in Nigeria für ein halbes Jahr eine homosexuelle Beziehung mit einem Mann namens E... gehabt und mit diesem zusammengewohnt. Danach sei es schwierig gewesen, jemand anderen zu finden.

Der Kläger hat weiter detailreich und glaubhaft geschildert, dass er in Deutschland zwei homosexuelle Beziehungen gehabt habe. In der mündlichen Verhandlung war der derzeitige Freund des Klägers anwesend. Außerdem hat der Kläger mitgeteilt, dass in der von ihm bewohnten Asylbewerberunterkunft seine Homosexualität bekannt sei.

Damit steht für den Senat fest, dass der Kläger seine homosexuelle Veranlagung als solche in der Öffentlichkeit nicht verbergen kann, sie ist vielmehr offensichtlich. Des Weiteren steht für den Senat fest, dass es dem Kläger wichtig ist, homosexuelle Beziehungen einzugehen und gegebenenfalls mit einer anderen Person zusammen zu wohnen. Dass dem Kläger darüber hinaus weitere öffentlich bemerkbare homosexuelle Verhaltensweisen besonders wichtig sind, ist nach seinem Vorbringen nicht ersichtlich.

b) Hiervon ausgehend droht dem Kläger derzeit in Nigeria weiterhin Verfolgung, wobei hinsichtlich der Verfolgungsprognose Besonderheiten gelten (dazu unter aa). Die Verfolgung geht jedoch nicht von staatlicher Seite (dazu unter bb), sondern von nichtstaatlichen Akteuren aus (dazu unter cc).

aa) Auf der Grundlage des festgestellten homosexuellen Verhaltens beziehungsweise des Verfolgungsgrunds im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/843/EG ist im Rahmen der Verfolgungsprognose zu prüfen, ob dem Schutzsuchenden deswegen die beachtliche Gefahr einer Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG droht. Dabei ist es unerlässlich, den Begriff der Verfolgungshandlung von allen anderen Arten diskriminierender Maßnahmen abzugrenzen. Es ist somit zu unterscheiden zwischen dem Fall, dass eine Person bei der Ausübung eines ihrer Grundrechte einer Beschränkung oder einer Diskriminierung ausgesetzt ist und aus persönlichen Gründen oder zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen oder ihres sozialen Status auswandert, und dem Fall, dass die Person einer so schwerwiegenden Beschränkung unterliegt, dass sie Gefahr läuft, dadurch ihrer wichtigsten Rechte beraubt zu werden, ohne den Schutz ihres Herkunftslands erlangen zu können (so Generalanwalt Bot, Schlussantrag vom 19.04.2012, a.a.O., Rn. 29). Handlungen, die gesetzlich vorgesehene Einschränkungen des Rechts auf Privatleben im Sinne von Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU und Art. 8 EMRK darstellen, ohne deswegen dieses Recht zu verletzten, sind von vornherein ausgeschlossen, weil sie durch Art. 52 Abs. 1 der Charta gedeckt sind. Zudem können Handlungen, die zwar gegen Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU und Art. 8 EMRK verstoßen, aber nicht so gravierend sind, dass sie einer Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf, nicht als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und Art. 1 A GFK gelten (vgl. EuGH, Urteil vom 05.09.2012, a.a.O., Rn. 60 f.).

Bei der Prüfung der Verfolgungsprognose kann allerdings eine scharfe Trennung zwischen einem in die Öffentlichkeit gerichteten beziehungsweise öffentlich bemerkbaren Verhalten, das geeignet ist, Verfolgungshandlungen (wie etwa Strafverfolgung) hervorzurufen, und einem diskreten Leben in der Praxis nicht leicht gezogen werden (vgl. auch Weßels, a.a.O.). Denn kein Mensch lebt völlig frei von gesellschaftlichen Beziehungen. Damit steht jeder mit seinem Verhalten mehr oder minder in der Öffentlichkeit. Auch kann die homosexuelle Veranlagung die Persönlichkeit eines Menschen so sehr prägen, dass sie sich nur begrenzt verheimlichen lässt. Daher bedarf es in jedem Einzelfall, in dem ein Schutzsuchender geltend macht, er werde wegen seiner sexuellen Ausrichtung verfolgt, einer Gesamtwürdigung seiner Person und seines gesellschaftlichen Lebens und darauf aufbauend einer individuellen Gefahrenprognose. Je mehr ein Schutzsuchender dabei mit seiner sexuellen Ausrichtung in die Öffentlichkeit tritt und je wichtiger dieses Verhalten für seine Identität ist, desto mehr erhöht dies die Wahrscheinlichkeit, dass der Betreffende verfolgt werden wird. Bei der Würdigung sind das bisherige Leben des Schutzsuchenden in seinem Heimatland, sein Leben hier in Deutschland sowie sein zu erwartendes Leben bei einer Rückkehr in den Blick zu nehmen.

bb) Hiervon ausgehend droht dem Kläger allerdings von staatlicher Seite derzeit keine Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. a sowie Art. 6 Buchst. a und Art. 9 RL 2004/83/EG. Dies gilt insbesondere hinsichtlich einer unverhältnismäßigen und diskriminierenden Strafverfolgung (Art. 9 Abs. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG).

(1) Der Kläger hat - trotz seiner offensichtlichen Homosexualität und eines entsprechenden Vorwurfs gegenüber einem Polizisten im Zusammenhang mit dem Messerangriff auf ihn am 20.12.2008 und trotz seines Zusammenlebens mit einem anderen Mann - noch keine solche Verfolgung erlitten oder war von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht. Der Kläger konnte sich gegenüber dem Polizisten mit der bloßen Aussage, er habe nichts getan, vor einer Strafverfolgung retten. Allerdings könnte sich diese Einschätzung bezüglich der dem Kläger von Seiten des Staates drohenden Verfolgungsgefahr zu seinen Lasten ändern, wenn die geplante Verschärfung des nigerianischen Strafrechts in Kraft tritt. Denn dann könnte bereits das bloße Zusammenleben mit einer anderen Person des gleichen Geschlechts, was mit Blick auf den Kläger wohl nicht auf Dauer unbemerkt bleiben würde, unter Strafe stehen (Nr. 5 Abs. 2 des „Same Sex Marriage <Prohibition> Bill, 2011: „directly oder indirectly make public show of same sex amorous relationship“).

(2) Homosexuelle - und damit der Kläger - unterlagen und unterliegen in Nigeria nach derzeitiger Erkenntnislage auch keiner staatlichen Gruppenverfolgung. Der Begriff der Zugehörigkeit zu einer „sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG ist von der „Gruppe“ im Sinne des Konzepts der Gruppenverfolgung zu unterscheiden. Eine soziale Gruppe kann unabhängig davon vorliegen, ob alle Mitglieder verfolgt werden. Von der Verfolgungsdichte für alle Gruppenmitglieder würde jedoch die widerlegliche Verfolgungsvermutung für den einzelnen Schutzsuchenden abgeleitet (vgl. Göbel-Zimmermann/Masuch, a.a.O., Rn. 82).

(a) Aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln ergibt sich zur Gefahr einer Strafverfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG folgendes Bild:

Das Auswärtige Amt führt im Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand: April 2012) aus:

„Homosexuelle Handlungen jeglicher Art sind - unabhängig vom Geschlecht der betroffenen Personen - sowohl nach säkularem Recht (dreimonatige bis dreijährige Freiheitsstrafe gem. § 217 Criminal Code, bei vollzogenem Analverkehr Freiheitsstrafe von 14 Jahren gem. § 214 Criminal Code) als auch nach Scharia-Recht (Körperstrafen bis hin zum Tod durch Steinigung in besonderen Fällen) strafbar. Strafrechtliche Verfolgung einvernehmlicher homosexueller Handlungen wird selten bekannt. Homosexuelle versuchen auf Grund der gesetzlichen Bestimmungen und weitverbreiteter Vorbehalte in der Bevölkerung, ihre sexuelle Orientierung zu verbergen. 2011 nahm der Senat eine weitere Verschärfung der Gesetze an. Danach könnte künftig bereits das Zusammenleben homosexueller Paare mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden. Personen, die davon erfahren, dass Homosexuelle zusammen leben und dies nicht den Behörden mitteilen, droht danach künftig eine bis zu fünfjährige Haftstrafe, was neben Familienangehörigen und Freunden insbesondere auch Mitarbeiter von NROs im Gesundheitsbereich (HIV/AIDS-Aufklärung) betreffen könnte. Bevor das Gesetz in Kraft treten kann, muss es noch durch das Repräsentantenhaus verabschiedet werden und durch den Präsidenten unterzeichnet werden.“

In seiner Auskunft vom 15.11.2012 hat das Auswärtige Amt gegenüber dem Senat ausgeführt:

„In Nigeria ist Homosexualität strafbar, wenn sie privat oder öffentlich praktiziert wird. Die bloße Disposition ist per se nicht strafbar.

Die Art der Strafverfolgung und die Schärfe der Verurteilung sind abhängig von dem Gebiet beziehungsweise dem Bundesstaat, in dem der Tatbestand begangen wurde beziehungsweise behandelt wird:

In den südlichen Bundesstaaten Nigerias kann ein solches Vergehen (nach Paragraph 214, 215 und 217 des Strafgesetzbuchs) mit sieben bis 14 Jahren Gefängnis bestraft werden.

In den nördlichen Bundesstaaten Nigerias drohen (laut Paragraph 284, 405 und 407 <2> des dortigen Strafgesetzbuchs) bis zu 14 Jahre Gefängnis bzw. ein Bußgeld.

In den 12 nördlichen Bundesstaaten, die die Sharia im Jahr 2000/2001 übernommen haben, drohen Gefängnis, zwischen 40 und 100 Peitschenhieben, oder die Todesstrafe durch Steinigung.

Alle bisher von den erstinstanzlich zuständigen Sharia-Gerichten verhängten Steinigungsurteile wurden jedoch im Rechtsmittelverfahren aufgehoben.“

Die Reise- und Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amtes auf dessen Homepage (Stand: 28.01.2013) weisen auf Folgendes hin:

„Homosexuelle Handlungen sind in Nigeria strafbar. In den nördlichen Bundesstaaten Nigerias sind nach islamischem Recht homosexuelle Handlungen mit schweren Strafen belegt. Körperliche Nähe zwischen Angehörigen desselben Geschlechts, insbesondere Männern, erregt in der Öffentlichkeit jedoch keinen Anstoß, sofern sie nicht offensichtlich sexuellen Charakter hat.“

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Auskunft an den Senat vom 24.10.2012 Folgendes mitgeteilt:

„Gemäß dem Strafgesetz ist Homosexualität illegal und wird mit bis zu 14 Jahren Haft bestraft. In den zwölf nördlichen Bundesstaaten, wo die Scharia gilt, können Erwachsene durch Steinigung hingerichtet werden, die aufgrund homosexueller Handlungen als schuldig gelten.

Criminal Code Act. Im Criminal Code Act ist unter dem Kapitel 'Zuwiderhandlung gegen die Moral' (Offences against Morality) im Artikel 214 festgehalten, dass jede Person, die mit einer Person oder einem Tier Geschlechtsverkehr 'unnatürlicher Art' hat oder einem Mann erlaubt, 'unnatürlichen Geschlechtsverkehr' mit ihm oder ihr auszuüben, eines schweren Verbrechens schuldig und mit 14 Jahren Gefängnis zu bestrafen ist. Nach Artikel 215 ist der Versuch von in Artikel 214 beschriebenen Handlungen mit einer siebenjährigen Haftstrafe zu ahnden. In Artikel 217 ist festgelegt, dass jeder Mann, ob öffentlich oder privat, der mit einem anderen Mann eine 'schwere Unanständigkeit' (gross indecency) begeht, oder einen Mann dazu anstachelt, eine 'Unanständigkeit' zu begehen, eines Verbrechens schuldig und mit dreijähriger Haft zu bestrafen ist. Gemäß dem Immigration and Refugee Board of Canada ist unter dem Begriff 'unnatural offences' Homosexualität, analer Geschlechtsverkehr und Zoophilie zu verstehen (sodomy, anal intercourse <buggery>, bestiality).

Scharia. In den zwölf nördlichen Bundesstaaten gilt seit 2000 die Scharia, und homosexuelle Handlungen können mit Steinigung bestraft werden. Gemäß dem Strafgesetz des Bundesstaates Kano aus dem Jahr 2000, welches den Scharia-Gesetzgebungen in den anderen Bundesstaaten ähnlich ist, sind Straftatbestände gemäß Sektionen 128/129 zu Homosexualität (Sodomy, Liwat) folgendermaßen zu ahnden: Wer mit einer Frau oder einem Mann Analverkehr hat, begeht das Verbrechen der Sodomie und wird, wenn verheiratet, mit dem Tod durch Steinigung bestraft. Ist die Person nicht verheiratet, wird sie mit bis zu hundert Peitschenhieben und einem Jahr Haft bestraft. Auch lesbische Frauen sollen gemäß Sektion 183 zu Lesbentum (Sihaq) bestraft werden: Den Straftatbestand erfüllt eine Frau, die mit einer anderen Frau Geschlechtsverkehr hat, eine andere Frau sexuell stimuliert oder sexuell erregt. Ist die Täterin verheiratet, kann sie mit Steinigung bestraft werden.

Auch einzelne lokale Gemeinden beschließen Maßnahmen gegen Homosexuelle. Im Jahr 2010 entschied die Ebem Ohafia Gemeinschaft im Bundesstaat Abia zusammen mit ihrem Stammesführer, dass jegliche Art von Homosexualität verboten sei und jedem Homosexuellen die Steinigung drohe.

Zur Umsetzung der strafrechtlichen Bestimmungen hat die Schweizerische Flüchtlingshilfe in ihrer Auskunft an den Senat vom 24.10.2012 Folgendes mitgeteilt:

„Auch auf internationaler Ebene verteidigen nigerianische Diplomaten und Politiker vehement die Umsetzung der Strafmaßnahmen gegen Homosexuelle. Bei der zweiten Session des UN Human Rights Councils im Jahr 2009 bezeichnete der nigerianische UN-Gesandte in Genf Hinrichtungen durch Steinigung als eine gerechte und angemessene Bestrafung für 'unnatürliche sexuelle Handlungen'. Der ehemalige nigerianische Präsident Olesegun Obasanjo stellte klar, dass Homosexualität eine Abscheulichkeit sei. Auch im Privatbereich müsse Homosexualität bestraft werden, schließlich sei auch Sex zum Beispiel mit einem Pferd im Privatbereich immer noch Sodomie und nicht rechtens.

Es kommt immer wieder zu Verhaftungen von Personen, die verdächtigt werden, homosexuell zu sein. 2007 wurden in Bauchi 18 Männer festgenommen und der Homosexualität angeklagt. Später wurde die Anklage auf Landstreicherei und das Tragen von Frauenkleidern geändert. Bis Ende 2011 wurde das Verfahren gegen diese Männer mehrmals verschoben. Im September 2012 verurteilte ein Gericht in Abuja einen nigerianischen Schauspieler aufgrund 'having sexual intercourse with another man through the anus' zu drei Monaten Haft. Zwischen 2000 und 2006 wurden mehr als zwölf Personen aufgrund homosexueller Handlungen zur Steinigung verurteilt. Die Steinigungen wurden jedoch nicht ausgeführt. Das United States Department of State geht davon aus, dass auch 2011 keine Steinigungen durchgeführt wurden.

Gemäß Davis Mac-Iyalla, des im Exil lebenden Direktors der lokalen NGO Changing Attitude, sind illegale Übergriffe gegen LGBT-Personen durch Polizisten häufiger als strafrechtliche Verfahren gegen diese. Dementsprechend rät das österreichische Außenministerium vor allem allein reisenden Homosexuellen, aber auch Heterosexuellen zur Vorsicht, da sie Opfer so genannter 'setups' werden können: Sie werden 'zufällig' von der Polizei bei sexuellen Handlungen ertappt und müssen sich dann freikaufen. Gaystarnews berichtet über einen schwulen Nigerianer, der in den USA lebt und Ferien in Nigeria verbrachte. Dort verriet ihn seine Tante aufgrund seiner Homosexualität an die Polizei, welche ihn festhielt, folterte und vergewaltigte.“

Zur Strafbarkeit von Homosexualität hat Amnesty International in seiner Auskunft vom 09.11.2012 an den Senat Folgendes ausgeführt und einen Auszug aus dem nigerianischen Strafgesetzbuch in englischer Sprache vorgelegt:

„Homosexualität ist in Nigeria in jedem Fall strafbar, auch wenn sie diskret gelebt wird. Nach Kapitel 21, Artikel 214 des Strafgesetzbuchs (Code of Criminal Law) ist jede Person, die

(1) Geschlechtsverkehr wider die Natur (…) mit einer anderen Person hat, oder(2) Geschlechtsverkehr mit einem Tier hat, oder(3) einer männlichen Person erlaubt, unnatürlichen Geschlechtsverkehr mit ihm oder ihr auszuüben

eines schweren Verbrechens (felony) schuldig. Dies kann mit bis zu 14 Jahren Haft bestraft werden.

Ferner droht nach Artikel 215 eine siebenjährige Haftstrafe für Personen, die versuchen, eine der in Artikel 214 benannten Straftaten zu begehen.

Schließlich sieht Artikel 217 drei Jahre Gefängnis vor für männliche Personen, die öffentlich oder privat einen Akt grober Unanständigkeit miteinander begehen oder versuchen, eine andere männliche Person zu einer solchen Handlung zu bewegen.…

Homosexualität in Nigeria offen zu leben, ist praktisch unmöglich, da sie sowohl strafrechtlich als auch gesellschaftlich verfolgt wird. Fälle von Lynchjustiz wurden in den vergangenen Jahren öffentlich und dokumentiert.

Eine Haftstrafe ist in Nigeria mit äußerster Härte verbunden: Dazu zählt, dass Personen bis zu 10 Jahre in Untersuchungshaft bleiben. Einige Gefangene sind wegen Bagatelldelikten oder völlig unschuldig verhaftet worden, doch da sie selbst geringe Beiträge an Geldstrafe oder Kaution nicht aufbringen können und es zu keiner Verhandlung kommt, bleiben sie bis zu 10 Jahre lang inhaftiert. Weitere Probleme in den nigerianischen Gefängnissen sind Überfüllung, schlechte Sanitärversorgung, Korruption, schlechte Ernährung und mangelnde Gesundheitsversorgung.

Nach offiziellen Zählungen befanden sich 2011 insgesamt 48.000 Gefangene in 200 Gefängnissen, womit die Kapazitätsgrenze um mehr als das Doppelte überschritten ist. Ca. 70 % warten auf den Beginn ihres Prozesses.

Besonders die Situation der AIDS-Kranken, die durch Drogenkonsum und Sexualität in den Gefängnissen ansteigt, stellt sich als unmenschlich dar. Die Gefängnisse sind stark überfüllt, die Gefangenen werden weder mit ausreichend Lebensmitteln noch medizinisch versorgt. Nur wenige können sich einen Anwalt leisten. Zudem müssen Homosexuelle zu jeder Zeit mit Übergriffen durch andere Häftlinge, aber auch durch Sicherheitskräfte rechnen.

Die 1999 in den 12 nördlichen Bundesstaaten eingeführte Sharia-Strafgesetzgebung sieht noch härtere Strafen für Homosexualität vor als das nigerianische Strafgesetzbuch. Sie wird darin als 'Sodomie' bezeichnet. So beispielsweise in Kapitel III des Sharia-Strafgesetzbuchs des Bundesstaates Kano aus dem Jahr 2000 „Hudud und Hudud-ähnliche Vergehen“, Teil III 'Sodomy (Liwa)', Abschnitt 128-129. Der Bundesstaat Zamfara stellt auch die sexuelle Beziehung zwischen zwei Frauen (Sihaq) unter Strafe. Kapiel VIII, Artikel 135 des 'Zamfara State of Nigeria Shari’a Penal Code Law' sieht als Strafe für dieses Vergehen bis zu 50 Stockschläge und zusätzlich eine bis zu sechsmonatige Haftstrafe vor. Nach Art. 130 sind (männliche) Homosexualität und Sodomie (Liwat) gleichgestellt. Die dafür vorgesehene Strafe liegt nach Art. 131 bei unverheirateten Personen bei 100 Stockschlägen und einem Jahr Freiheitsentzug. Verheiratete Personen müssen mit der Steinigung rechnen. Theoretisch können von einem Scharia-Gericht Verurteilte auch vor einem staatlichen Gericht in Berufung gehen, doch ist dies praktisch kaum möglich, weil der Zugang zur Justiz in Nigeria grundsätzlich stark eingeschränkt ist.

Im Bundesstaat Bauchi wurde ein Mann im September 2003 zum Tod durch Steinigung verurteilt, nachdem er der Sodomie für schuldig befunden worden war. Im August 2008 wurden mehrere Personen wegen mutmaßlich gleichgeschlechtlicher Beziehungen verhaftet und zum Tode verurteilt. Die Männer konnten Berufung einlegen.“

Ausgehend von diesen im Kern übereinstimmenden und deshalb für den Senat überzeugenden Erkenntnissen verschiedener Quellen hat sich die Lage hinsichtlich der Strafverfolgung von Homosexualität teilweise gewandelt. Noch im Jahr 2003 hat Amnesty International dem Verwaltungsgericht Oldenburg am 11.02.2003 mitgeteilt, dass keine Fälle bekannt seien, in denen die Strafvorschriften zu Anwendung gekommen seien. Unterschiedliche Quellen seien damals noch davon ausgegangen, dass freiwillige homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen nicht mehr bestraft würden. Entsprechendes findet sich in einer Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 17.05.2004 an das Verwaltungsgericht Stuttgart. Danach müsse zudem danach unterschieden werden, ob ein solches Paar in einer Dorfgemeinschaft lebe oder in einer größeren Stadt, in der Homosexualität sicherlich problemlos ausgelebt werden könne. Eine aktive staatliche Suche oder gesellschaftliche Verfolgung beziehungsweise Suche nach homosexuellen Paaren finde nicht statt. Ab dem Jahr 2006 verschärfte sich jedoch der Umgang mit Homosexuellen (weitere Einzelheiten dazu in: Bundesamt, Informationszentrum für Asyl und Migration: „Nigeria - Homosexualität in Nigeria“ vom März 2007, S. 6 bis 11). Diese Entwicklung fand insbesondere darin Ausdruck, dass am 18.01.2006 eine Verschärfung der Strafverfolgung mit dem ersten Entwurf eines „Same Sex Marriage (Prohibition) Bill“ initiiert wurde.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Auskunft an den Senat vom 24.10.2012 zu der geplanten Gesetzesverschärfung durch das „Same Sex Marriage (Prohibition) Bills mitgeteilt:

„Bereits 2006 legte der damalige Justizminister Bayo Oja der Nationalversammlung eine Gesetzesvorlage zur härteren Bestrafung von gleichgeschlechtlichen Beziehungen vor. Hochrangige Mitglieder der anglikanischen Kirche, wie zum Beispiel der Erzbischof Peter Akinola, unterstützten die Vorlage. Die Kritik von Menschenrechtsorganisationen und internationalen Akteuren werden als Grund genannt, dass die Gesetzesvorlage nicht umgesetzt wurde.

Im März 2009 wurde erneut eine Gesetzesverschärfung lanciert, die Same Sex Marriage (Prohibition) Bill. Am 29. November 2011 beschloss der Senat einstimmig, die Same Sex Marriage (Prohibition) Bill anzunehmen. Die Nationalversammlung führte im Dezember eine erste Prüfung durch, doch die abschließende Wahl (sic!) wurde verschoben. Bis jetzt ist das Gesetz noch nicht verabschiedet.

Mit der Verschärfung sollen gleichgeschlechtliche Beziehungen verboten und mit bis zu 14 Jahren Haft bestraft werden. Auch Personen, die sich für LGBT-Personen einsetzen, droht eine Haftstrafe.

(1.1) Ehen oder eingetragene Partnerschaften von gleichgeschlechtlichen Paaren sind verboten. (4.1) Registrierung, Betrieb oder Aufenthalt in einem Schwulenklub ist verboten. (4.2) In der Öffentlichkeit gleichgeschlechtliche Beziehungen zu leben, ist verboten. (5.1) Personen, die eine gleichgeschlechtliche Ehe oder Partnerschaft eingehen, werden mit 14 Jahren Haft bestraft. (5.2) Personen, die einen Schwulenklub registrieren, betreiben oder besuchen, oder die eine homosexuelle Beziehung haben, sollen mit zehn Jahren Haft bestraft werden. (5.3) Personen, die an einer homosexuellen Hochzeit oder an der Feier für eine zivilrechtliche gleichgeschlechtliche Partnerschaft teilnehmen, welche die Registrierung, Führung oder auch den Unterhalt eines Schwulenklubs unterstützen, einer Organisation, Prozession oder an einem Treffen von Schwulen in Nigeria teilnehmen, werden mit zehn Jahren Haft bestraft. Indem der Begriff 'civil union' sehr offen definiert wird, können, darunter alle gleichgeschlechtlichen Beziehungen verstanden und strafrechtlich verfolgt werden.

Amnesty International und weitere Menschenrechtsorganisationen kritisieren die Gesetzesverschärfung. Auch das Europäische Parlament beanstandete in einer Resolution zur Lage in Nigeria die homophobe Gesetzgebung und forderte das nigerianische Parlament auf, von der Prüfung des Gesetzentwurfs zum Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe abzusehen, da die LGBT-Gemeinschaft durch ein aus diesem Entwurf resultierendes Gesetz einem ernsthaften Gewalt- und Inhaftierungsrisiko ausgesetzt wäre.“

Zur geplanten Gesetzesverschärfung hat Amnesty International mit seinen Auskünften vom 09. und 15.11.2012 an den Senat den Entwurf des bereits vom nigerianischen Senat beschlossenen „Same Sex Marriage (Prohibition) Bill“ sowie eine detaillierte juristische Analyse dazu vorgelegt und Folgendes mitgeteilt:

„Der Senat hat dem „Same Sex Marriage (Prohibition) Bill“ am 29. November 2011 zugestimmt. Der Gesetzentwurf liegt derzeit im Repräsentantenhaus, wo es bereits im Dezember 2011 einmal gelesen wurde. Insgesamt muss es drei Lesungen geben, bevor der Entwurf auch in dieser Kammer verabschiedet werden kann. Anschließend kommt es zur Unterschrift durch den Präsidenten, der das Gesetz damit in Kraft setzt. Derzeit ist nicht absehbar, wann dies geschehen wird.

Dem Entwurf entsprechend würde einer Person in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung weiterhin eine Gefängnisstrafe von bis zu 14 Jahren drohen. Allerdings würden auch Vereine, Organisationen oder Kirchengemeinden unter Strafe gestellt, die sich für die Rechte von Homosexuellen einsetzen. Der Entwurf sieht Strafen von bis zu 10 Jahren Haft sowie eine hohe Geldstrafe für all jene vor, die gleichgeschlechtliche Beziehungen 'begünstigen, fördern oder davon Kenntnis haben'. Gleiches gilt für die 'öffentliche Zurschaustellung einer Liebesbeziehung unter Gleichgeschlechtlichen'.

Besonders problematisch ist insbesondere die Gefährdung von Personen, die sich für die Rechte von LGBTI-Personen in Nigeria einsetzen oder mit ihnen bekannt sind. Das betrifft Menschenrechtsverteidiger, Menschen im Bereich HIV/AIDS-Vorsorge und -behandlung, aber auch Freunde, Angehörige und Kollegen. Dabei reicht der bloße Verdacht aus.

Amnesty International ist ebenso besorgt, dass das Gesetz den Anstrengungen Nigerias zuwider läuft, die Übertragungsrate von HIV/AIDS zu reduzieren, indem es Menschen, die ohnehin schon unter Diskriminierung zu leiden haben, wegen ihrer sexuellen Identität und Orientierung in den Untergrund drängt.

Der Gesetzentwurf widerspricht internationalen Verträgen und Konventionen, die die nigerianische Regierung unterzeichnet hat - darunter die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, der Internationale Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte sowie die Afrikanische Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker.“

In seiner Auskunft vom 15.11.2012 hat das Auswärtige Amt gegenüber dem Senat ebenfalls einen Entwurf des „Same Sex Marriage (Prohibition) Bill“ vorgelegt und dazu ausgeführt:

„Es ist derzeit nicht absehbar, wann die vom nigerianischen Senat Ende 2011 beschlossene Gesetzesänderung in Kraft treten wird. Am 13.11.2012 billigte das Repräsentantenhaus in zweiter Lesung das Gesetz. Um in Kraft treten zu können, bedarf es noch der Zustimmung durch das sogenannte 'house 'und der Unterzeichnung des Gesetzes durch den Präsidenten“.

An dieser Rechtslage in Nigeria hat sich bis zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat nichts geändert.

(b) Da diese Erkenntnismittel die Lage Homosexueller in Nigeria im Kern übereinstimmend wiedergeben und auch die Beteiligten insoweit keine Einwendungen erhoben haben, legt der Senat die dargestellte Erkenntnislage seiner tatsächlichen und rechtlichen Prüfung zugrunde. Danach kann eine Gruppenverfolgung der Homosexuellen in Nigeria von staatlicher Seite mangels hinreichender Verfolgungsdichte nicht festgestellt werden. Vielmehr ergibt sich hinsichtlich der von staatlicher Seite drohenden Verfolgungsgefahr ein differenziertes Bild.

(aa) Bei Homosexuellen, die in Nigeria offen ihre Veranlagung leben und dort deshalb öffentlich bemerkbar gegen strafrechtliche Bestimmungen - auch in einer weiten Auslegung durch die Strafverfolgungspraxis - verstoßen, ist jedenfalls mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sie deswegen verfolgt werden. In diesem Fall ist es sehr wahrscheinlich, dass sie durch den Staat strafrechtlich verfolgt und in Haft genommen sowie verurteilt werden, was eine Verfolgungsmaßnahme nach Art. 9 Abs. 1 und 2 Buchst. c RL 2004/83/EG darstellt. Dies gilt unabhängig davon, ob die Gesetzesverschärfung durch das „Same Sex Marriage (Prohibition) Bill“ noch in Kraft tritt. Allerdings würde ein Inkrafttreten des Gesetzes zu einer Ausweitung des strafbaren Verhaltens und damit der Verfolgung führen, was bei der Prüfung zukünftiger Schutzbegehren zu berücksichtigen wäre.

Da die Strafverfolgung an einen Verfolgungsgrund nach Art. 10 RL 2004/83/EG anknüpft (dazu: Marx, a.a.O., § 14 Rn. 105) und zudem nur für homosexuelle Handlungen gilt (vgl. dazu: Art. 14 EMRK und Art. 21 Abs. 1 Charta der Grundrechte der EU), ist sie diskriminierend im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG. Die Strafvorschrift geht jedenfalls über dasjenige hinaus, was nach Art. 8 EMRK in den Mitgliedstaaten der EU strafrechtlich verfolgt werden dürfte (vgl. EGMR, Urteil vom 22.10.1981, a.a.O., 543; implizit zur heutigen Rechtslage nach dem GG vgl. jüngst: BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19.02.2013 - 1 BvR 3247/09 -; teilweise anders: BVerwG, Urteil vom 15.03.1988, a.a.O., 148 f.).

Zudem widersprechen die sich aus den Erkenntnismitteln ergebenden Haftbedingungen gerade für Personen, die als homosexuell angesehen werden, sehr häufig den Anforderungen aus Art. 3 EMRK.

Dies gilt landesweit. Auch in großen Städten bestehen diese Gefahren. Denn auch dort werden Personen wegen praktizierter Homosexualität verhaftet (vgl. dazu auch 2 c cc).

(bb) Wird Homosexualität dagegen nicht öffentlich bemerkbar oder gar heimlich gelebt, ist nicht ohne Weiteres mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von einer drohenden Verfolgung im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG auszugehen.

Zwar dürften homophobe Äußerungen von Regierungsvertretern, soziale Ächtung und staatliche Diskriminierung das Recht auf Privatleben im Sinne von Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU sowie Art. 8 EMRK tangieren. Allerdings sind solche Grundrechtsbeeinträchtigungen noch nicht so gravierend, dass sie zugleich einen Eingriff in die Rechte darstellen, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf. Hierzu zählt insbesondere Art. 3 EMRK, das Verbot der Folter oder der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe. Als unmenschliche Behandlung hat der EGMR eine Behandlung angesehen, wenn sie vorsätzlich war, ohne Unterbrechung länger andauerte und entweder eine Körperverletzung oder intensives physisches oder psychisches Leiden verursachte. Als erniedrigend kann eine Behandlung angesehen werden, wenn mit ihr die Absicht verbunden war, den Betroffenen zu demütigen oder zu erniedrigen und die Behandlung ihn in einer Art. 3 EMRK widersprechenden Weise in seiner Persönlichkeit getroffen hat (vgl. Meyer-Ladewig, a.a.O., Art. 3 Rn. 22).

Allerdings kann es auch in Fällen einer nicht öffentlich bemerkbar gelebten homosexuellen Veranlagung vereinzelt zu Verfolgungshandlungen kommen. Insoweit besteht jedoch noch keine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass jeder homosexuell Veranlagte mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 RL 2994/83/EG erleiden wird. Insoweit ist die Zahl der Referenzfälle, die sich aus den oben dargestellten Erkenntnismitteln ergibt, im Verhältnis zur vermuteten Gesamtzahl an Homosexuellen in Nigeria zu gering. Den vorliegenden Erkenntnismitteln lässt sich nicht entnehmen, dass die Zahl derjenigen, die im vergangenen Jahr wegen des Verdachts einer Straftat im Sinne von Art. 214, 215 und 217 des Criminal Code verhaftet wurden, den unteren zweistelligen Bereich übersteigt. Auch die Zahl der berichteten körperlichen Übergriffe durch staatliche Stellen liegt jedenfalls nicht wesentlich höher.

Das Auswärtige Amt geht in seinen Länderinformationen (Stand: Oktober 2012) davon aus, dass in Nigeria geschätzte 167 Millionen Menschen leben. Davon sind schätzungsweise rund die Hälfte im sexuell aktiven Alter zwischen 15 und 64 Jahren (vgl. http://www.lexas.de/afrika/nigeria/index). Hiervon ausgehend sowie unter Berücksichtigung von Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch 2011, Stichwort „Homosexualität“, wonach 1-2 % der Frauen und 2-4 % der Männer ausschließlich auf homosexuelles Verhalten festgelegt sind, kommt man selbst bei der Annahme von nur 1 % an homosexuellen Frauen und Männern in Nigeria zu einer Zahl von 800.000 ausschließlich homosexuell veranlagten und potentiell Homosexualität praktizierenden Menschen. Verglichen mit dieser Zahl lassen die sich aus den Erkenntnismitteln ergebenden Referenzfälle, die sich tendenziell im unteren zweistelligen Bereich bewegen, nicht darauf schließen, dass sich die dort geschilderten Verfolgungshandlungen so wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden homosexuell Veranlagten nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Dies gilt auch, wenn man die Schwere der drohenden Gefahr einer Inhaftierung, die häufig mit weiteren schweren Menschenrechtverletzungen einhergeht, würdigt.

Eine staatliche Gruppenverfolgung kann daher derzeit nicht angenommen werden.

(c) Die Anwendung des Konzepts der Gruppenverfolgung liegt im Übrigen hier auch deshalb nicht nahe, weil hinsichtlich der Frage, ob eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe vorliegt, die durch das Merkmal der sexuellen Ausrichtung gebildet wird, immer das jeweils von dem betreffenden Schutzsuchenden zu erwartende Verhalten entsprechend der oben dargestellten Maßstäbe der Prüfung des Schutzbegehrens zugrunde zu legen ist. Dies entspricht auch dem Ansatz der RL 2004/83/EG, nach der Anträge auf internationalen Schutz nach Art. 4 Abs. 3 RL 2004/83/EG grundsätzlich individuell zu prüfen sind. Die Richtlinie differenziert nicht danach, ob dem Betroffenen eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder aus individuellen Gründen droht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 06.07.2012 - 10 B 19/12 u.a. -, Juris Rn. 4).

Daher bedarf es in jedem Einzelfall, in dem ein Antragsteller aus Nigeria geltend macht, er werde wegen seiner sexuellen Ausrichtung verfolgt, einer Gesamtwürdigung seiner Person und seines gesellschaftlichen Lebens und darauf aufbauend einer individuellen Gefahrenprognose.

cc) Dem Kläger droht in Nigeria jedoch wegen seiner Homosexualität Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG sowie Art. 6 Buchst. c RL 2004/83/EG, ohne dass ihm von dem nigerianischen Staat ausreichend Schutz im Sinne von Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG geboten wird.

(1) Der Kläger war bereits verfolgt sowie von Verfolgung unmittelbar bedroht, was nach Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG einen ernsthaften Hinweis darauf darstellt, dass seine Furcht vor Verfolgung weiterhin begründet ist.

(a) Der Senat ist überzeugt davon, dass der Kläger wegen seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Homosexuellen in Nigeria (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG) durch nichtstaatliche Akteure eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a RL 2004/83/EG erlitten hat. Der Kläger wurde am 20.12.2008 auf der Straße von zwei Tätern zusammengeschlagen und mit einem Messer auf der Brust verletzt. Die Verletzung ist noch heute als Narbe sichtbar, sie ergibt sich aus einem bei den Akten des Verwaltungsgerichts befindlichen Foto. Der Kläger hat den Vorfall in der mündlichen Verhandlung lebensnah und glaubhaft geschildert. Seine Behauptungen entsprachen im Wesentlichen seinen Angaben beim Bundesamt und beim Verwaltungsgericht, nennenswerte Widersprüche und Ungereimtheiten waren nicht feststellbar.

Die körperliche Misshandlung beruht auch kausal im Sinne von Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG auf einem Verfolgungsgrund im Sinne von Art. 10 RL 2004/83/EG. Der Angriff erfolgte nach den überzeugenden Angaben des Klägers allein deshalb, weil er offensichtlich homosexuell ist und sich feminin bewegt und verhält sowie in einer femininen Weise spricht. Die Täter haben dies ausdrücklich als Grund für die Verletzung genannt. Sie hätten gesagt, er sei homosexuell und habe nicht verdient zu leben. Vor dem Bundesamt hat er weiter angegeben, der Täter habe gemeint, wenn er die Narbe sehe, werde er jedes Mal an diese Demütigung denken.

(b) Entgegen der Meinung des Verwaltungsgerichts ist dieser Vorfall trotz des Umstands, dass ein Polizist dazugekommen ist, verfolgungsrelevant. Denn dem Kläger stand kein effektiver staatlicher Schutz im Sinne von Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG zur Verfügung.

(aa) Nach Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG ist generell Schutz gewährleistet, wenn u.a. der Staat geeignete Schritte einleitet, um die Verfolgung oder den ernsthaften Schaden zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden darstellen, und wenn der Antragsteller Zugang zu diesem Schutz hat. Für diese Nachprüfung haben die zuständigen Behörden insbesondere die Funktionsweise der Institutionen, Behörden und Sicherheitskräfte einerseits und aller Gruppen oder Einheiten des Drittlandes, die durch ihr Tun oder Unterlassen für Verfolgungshandlungen gegen die betreffende Person im Fall ihrer Rückkehr in dieses Land ursächlich werden können, andererseits zu beurteilen. Nach Art. 4 Abs. 3 RL 2004/83/EG, der sich auf die Prüfung der Ereignisse und Umstände bezieht, können die zuständigen Behörden insbesondere die Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslandes und die Weise, in der sie angewandt werden, sowie den Umfang, in dem in diesem Land die Achtung der grundlegenden Menschenrechte gewährleistet ist, berücksichtigen (vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 02.03.2010, a.a.O., Rn. 70 f.).

Soweit ersichtlich ist vom Bundesverwaltungsgericht noch nicht geklärt, ob damit das vor Inkrafttreten der RL 2004/83/EG von der Rechtsprechung vertretene Zurechnungsprinzip fortgilt oder ob nun auf die sog. „Schutzlehre“ abzustellen ist (so: VG Karlsruhe, Urteil vom 10.03.2005 - A 2 K 12193/03 -, NVwZ 2005, 725; Marx, a.a.O., § 18 Rn. 17, 26 ff.; Göbel-Zimmermann/Masuch, a.a.O., § 60 AufenthG Rn. 44; Treiber, in: GK-AufenthG, § 60 Rn. 135 <Bearb.-Stand: April 2011>). Fraglich ist damit, wie mit Schutzlücken umzugehen ist, obwohl der Staat an sich schutzwillig ist. Nach der RL 2004/83/EG muss der Einzelne jedenfalls wirksamen Zugang zum nationalen Schutzsystem haben, unabhängig davon, ob der Staat im Übrigen generell Schutz gewährleistet (vgl, EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 02.03.2010, a.a.O., Rn. 70; Marx, a.a.O., § 18 Rn. 28). Dies impliziert wohl, dass das Fortbestehen vereinzelter Verfolgungshandlungen die Wirksamkeit des Schutzes nicht ausschließt, soweit diese effektiv geahndet werden (vgl. Wittkopp, ZAR 2010, 170, 173).

(bb) Ausgehend hiervon hat der Kläger im Zusammenhang mit dem Messerangriff am 20.12.2008 keinen effektiven staatlichen Schutz erlangt.

Zwar hat der Kläger vor dem Bundesamt angegeben, die Polizei helfe einem, wenn man angegriffen werde, und vor dem Verwaltungsgericht hat er ausgeführt, ihm sei ein Polizist zur Hilfe gekommen. Vor dem Senat hat der Kläger angegeben, ein Polizist sei zur Situation zufällig hinzugekommen. Zugleich hat er jedoch auch angegeben, dass zuvor bereits mehrere Menschen dazu gekommen seien, nachdem er um Hilfe gerufen hatte. Sowohl die Leute als auch die Polizei hätten gefragt, was das Problem sei beziehungsweise was er gemacht habe. Er habe gesagt, er habe nichts gemacht. Der Polizist habe dann versucht, ihn zu befreien. Anschließend sei er ins Krankenhaus gebracht worden. Ob die Täter strafrechtlich verfolgt worden seien, wisse er nicht.

Damit hat der Kläger keinen ausreichenden Schutz erfahren. Denn das Eingreifen des Polizisten, der zufällig vorbei kam, hat die Verletzung des Klägers nicht verhindert. Sie war bereits eingetreten. Darüber hinaus war das zufällige Hinzukommen auch nur teilweise kausal dafür, dass der Kläger aus der Hand der Täter befreit werden konnte. Denn zuvor waren bereits andere Leute dazugekommen. Entscheidend nach Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG für die Gewährung effektiven Schutzes vor Verfolgung ist jedoch auch, dass vom Staat Maßnahmen der Strafverfolgung eingeleitet werden. Dies ist hier nicht geschehen. Der Kläger hat weder gesehen, dass der Polizist die beiden Täter hat festnehmen lassen, noch ist ihm etwas von einer Strafverfolgung bekannt. Wäre gegen die Täter ein Strafverfahren eingeleitet worden, hätte der Kläger als Opfer hiervon Kenntnis erlangen müssen. Gegen das Vorliegen eines effektiven Schutzes spricht nicht zuletzt die Erkenntnislage. Zur Begründung wird auf die unten stehenden Ausführungen verwiesen (siehe <c> <bb> <?>).

(c) Der Kläger war auch nach diesem Vorfall weiterhin unmittelbar von Verfolgung bedroht im Sinne von Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG.

(aa) Nicht nur derjenige ist verfolgt ausgereist, der noch während der Dauer eines Pogroms oder individueller Verfolgung seinen Heimatstaat verlässt. Dies kann vielmehr auch bei einer Ausreise erst nach dem Ende einer Verfolgung der Fall sein. Die Ausreise muss dann aber unter Umständen geschehen, die bei objektiver Betrachtungsweise noch das äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck der erlittenen Verfolgung stattfindenden Flucht ergeben. Nur wenn ein durch die erlittene Verfolgung hervorgerufenes Trauma in einem solchen äußeren Zusammenhang eine Entsprechung findet, kann es als beachtlich angesehen werden. In dieser Hinsicht kommt der zwischen dem Abschluss der politischen Verfolgung und der Ausreise verstrichenen Zeit eine entscheidende Bedeutung zu. Je länger der Ausländer nach erlittener Verfolgung in seinem Heimatland unbehelligt verbleibt, um so mehr schwindet der objektive äußere Zusammenhang mit seiner Ausreise dahin. Daher kann allein schon bloßer Zeitablauf dazu führen, dass eine Ausreise den Charakter einer unter dem Druck einer früheren politischen Verfolgung stehenden Flucht verliert. Daraus folgt, dass ein Ausländer, dessen politische Verfolgung in der Vergangenheit ihr Ende gefunden hat, grundsätzlich nur dann als verfolgt ausgereist angesehen werden kann, wenn er seinen Heimatstaat in nahem zeitlichen Zusammenhang mit der Beendigung der Verfolgung verlässt. Das bedeutet nicht, dass er zwangsläufig stets sofort oder unmittelbar danach ausreisen müsste. Es ist ausreichend, aber auch erforderlich, dass die Ausreise zeitnah zur Beendigung der Verfolgung stattfindet. Welche Zeitspanne in dieser Hinsicht maßgebend ist, hängt von den Umständen der jeweiligen Verhältnisse ab. Jedenfalls kann ein Ausländer, der nach einer beendeten politischen Verfolgung über mehrere Jahre hinweg in seinem Heimatstaat verblieben ist, ohne dort erneut von politischer Verfolgung bedroht zu sein, nicht als verfolgt ausgereist und damit als vorverfolgt angesehen werden, wenn er später seinen Heimatstaat verlässt (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.10.1990 - 9 C 60/89 -, BVerwGE 87, 52; Marx, a.a.O., § 29 Rn. 59 ff.). Eine Vorverfolgung kann nicht schon wegen einer im Zeitpunkt der Ausreise bestehenden Fluchtalternative in einem anderen Teil des Herkunftsstaates verneint werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.01.2009, a.a.O.).

Referenzfälle politischer Verfolgung sowie ein Klima allgemeiner moralischer, religiöser oder gesellschaftlicher Verachtung sind gewichtige Indizien für eine gegenwärtige Gefahr politischer Verfolgung. Sie können begründete Verfolgungsfurcht entstehen lassen, so dass ihm nicht zuzumuten ist, in seinem Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Wann eine Verfolgungsfurcht als begründet und flüchtlingsrechtlich beachtlich anzusehen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die für eine Verfolgung sprechenden Umstände müssen jedoch nach ihrer Intensität und Häufigkeit von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung die begründete Furcht ableiten lässt, selbst ein Opfer solcher Verfolgungsmaßnahmen zu werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.07.1991 - 9 C 154/90 -, BVerwGE 88, 367).

(bb) Bei Anwendung dieser Vorgaben war der Kläger bis zu seiner Ausreise von Verfolgung unmittelbar bedroht. Dies ergibt sich jedoch allein aufgrund einer Gesamtwürdigung seiner Person und einer darauf aufbauenden individuellen Gefahrenprognose. Das Konzept der Gruppenverfolgung kann auch mit Blick auf die von nichtstaatlichen Akteuren in Nigeria ausgehenden Verfolgungsgefahren für Homosexuelle keine Anwendung finden, weil es auch insoweit an der hierfür erforderlichen Verfolgungsdichte fehlt und es für die Annahme einer Verfolgung auf das jeweils individuelle Verhalten ankommt.

(?) Der Kläger, der offensichtlich feminine Züge hat und jedenfalls ersichtlich homosexuell ist, hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft mitgeteilt, dass er auch nach dem Vorfall im Dezember 2008 bis zu seiner Ausreise im November 2010 Angst hatte, auf die Straße zu gehen, weil er ständig beleidigt, erniedrigt und teilweise auch zusammengeschlagen wurde. Vor dem Bundesamt hat der Kläger zu seinem Ausreiseentschluss angegeben, er habe Nigeria verlassen, weil ihn dort alle hassten. Er sei gekommen, weil er nicht zu jung sterben wolle. Auf der Grundlage dieser glaubhaften Angaben war er weiterhin davon bedroht, wegen seiner Homosexualität (Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG) Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. a RL 2004/83/EG zu erleiden.

Die Richtigkeit dieser Einschätzung wird durch die Erkenntnislage bestätigt. Nach den im Wesentlichen übereinstimmenden Auskünften verschiedener Erkenntnisquellen herrscht in Nigeria ein allgemeines Klima der gewaltbereiten Verachtung und des Hasses auf Homosexuelle. Daraus ergeben sich einzelne Referenzfälle gewalttätiger Übergriffe auf Homosexuelle. Daher kann - entsprechend der oben für die staatliche Verfolgung getroffenen Differenzierung - für solche Personen, die offen ihre homosexuelle Veranlagung leben und damit öffentlich als Homosexuelle bemerkbar sind, eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit gegeben sein.

Das Auswärtige Amt führt im Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand: April 2012) dazu aus:

„Homosexuelle, Transvestiten und transsexuelle Personen können ihre sexuelle Orientierung nicht öffentlich ausleben und sind nach wie vor Diskriminierungen und Anfeindungen ausgesetzt.“ (S. 18).

In seiner Auskunft an den Senat vom 15.11.2012 hat das Auswärtige Amt mitgeteilt:

„Es besteht keine immanente Gefahr bei einer bloßen homosexuellen Disposition, die nicht praktiziert wird.

Für Homosexuelle, die eine diskrete Lebensweise pflegen, besteht keine immanente Gefahr, solange deren Lebensweise nicht öffentlich bekannt wird.“

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Auskunft an den Senat vom 24.10.2012 zu den von Dritten ausgehenden Gefahren Folgendes mitteilt:

„Gewalt gegen LGBT-Personen, auch von Seiten der eigenen Familie, ist weit verbreitet und nur die wenigsten Homosexuellen outen sich. Die ab 2006 lancierte Debatte zur Verschärfung der Strafe für Homosexuelle hat die Gewalt gegen LGBT-Personen zusätzlich geschürt. Da selbst die Regierung homophobe Gesetze unterstützt, bedeutet das für viele eine Freikarte für Gewalt gegen LGBT-Personen, da sie davon ausgehen, nicht strafrechtlich verfolgt zu werden. Gemäß Edgebosten, einer amerikanischen Schwulenwebsite, ist die Gewalt in Nigeria gegen Homosexuelle sogar unter den afrikanischen Ländern, die für ihre Homophobie bekannt sind, besonders ausgeprägt.

Eine Studie aus dem Jahr 2007 zeigt, dass 97 Prozent der NigerianerInnen Homosexualität ablehnen. Viele sind überzeugt, dass Homosexuelle teuflisch und der afrikanischen Kultur fremd sind, es handle sich um einen Import aus dem Westen. Sie glauben, Homosexualität sei eine Krankheit und Homosexuelle - sowohl Frauen wie Männer - werden deshalb 'heilenden Vergewaltigungen' unterworfen. Auch mit exorzistischen Riten wird versucht, Homosexualität auszutreiben. Im Rahmen der Frauenfußball-WM 2011 sorgte die nigerianische Trainerin Eucharia Uche mit ihren Äußerungen zu Homosexualität für Aufregung: Homosexualität sei eine 'schmutzige Sache' und 'spirituell und moralisch falsch'. Uche berichtete, sie habe auf die Gerüchte reagiert, wonach lesbische Spielerinnen im Team sein sollen und mit Gebeten, Bibelstudium und mit der Hilfe eines Priesters die 'Ordnung' wieder hergestellt. Auch 2012 wurden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens von Medien als homosexuell bezeichnet. Diese lancierten daraufhin regelrechte Kampagnen mit Bekräftigungen von Freunden und Bekannten, um ihre Unschuld, das heißt ihre Heterosexualität, zu bezeugen.

Der Hass auf Homosexuelle zieht sich durch alle Schichten und Kreise. Schwule seine Pädophile, wettere der anglikanische Erzbischof Nicolas Okoh. Die Hetze gegen Homosexuelle ist für Politiker eines der wenigen Themen, mit dem sie sowohl im christlichen Süden wie auch im muslimischen Norden punkten können. Die Medien unterstützen diese Haltung und sind auch mitverantwortlich für die Homophobie im Land.

Aktivisten. Nicht nur Personen, die verdächtigt werden, homosexuell zu sein, sind gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt, sondern auch Aktivisten, die sich für LGBT-Rechte einsetzen. Rowland Jide Macaulay, der Gründer einer LGBT-freundlichen Kirche in Lagos, der House of Rainbow Metropolitan Community Church, musste zwei Jahre nachdem er die Kirche 2006 in Lagos aufgebaut hatte, das Land wegen Todesdrohungen verlassen. Auch Mac-Iyalla, ein weiterer nigerianischer Schwulenaktivist, der 2005 in Nigeria den Zweig von Changing Attitude ins Leben gerufen hatte, musste nach Todesdrohungen das Land verlassen. Er hat in der Zwischenzeit in Großbritannien Asyl erhalten. …

Diskriminierung. LGBT-Personen werden nicht nur vom Bildungssystem ausgeschlossen, sondern auch in anderen Lebensbereichen diskriminiert. Die nigerianische Gesellschaft geht davon aus, dass HIV/Aids die Bestrafung für unmoralisches Verhalten und homosexuelle Handlungen sei. Homosexuelle werden deshalb oft mit steigenden HIV/Aids-Raten in Verbindung gebracht. HIV/Aids-Kranke Menschen werden entsprechend diskriminiert, verlieren ihre Arbeit und ihnen wird der Zugang zur Gesundheitsversorgung verweigert. Die Diskriminierung und Ausgrenzung macht LGBT-Personen bezüglich HIV/Aids deshalb besonders verletzlich.

Im Juni 2011 verabschiedete der UN-Menschenrechtsrat zum ersten Mal eine Resolution, die Kriminalisierung und Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität verurteilt. Nigeria stimmte dagegen, wie auch 19 weitere vor allem afrikanische und muslimische Länder.

Erpressungen. Die International Gay and Lesbian Human Rights Comission berichtete im Februar 2011, dass Homosexuelle in Nigeria Opfer von Erpressungen werden. Die Erpressungen finden meistens im Zusammenhang mit der Onlinekontaktsuche in größeren Städten wie Lagos, Port Hartcourt ober Abuja statt. Betroffene geben auf der Website Tipps und publizieren Warnungen mit den Profilen der Erpresser.“

Das vom österreichischen Roten Kreuz betriebene Auskunftszentrum „ACCORD“ berichtete am 21.06.2011 über „Nigeria - Frauen, sexuelle Orientierung und Gesundheitsversorgung“ unter anderem (vgl. S. 24 f.):

„Lesben und bisexuelle Frauen seien von Formen der Erpressung betroffen, die nicht auf die Bezahlung von Geld beschränkt seien. Einige Frauen würden zu sexuellen Gefälligkeiten und gefährlichen Botengängen gezwungen. Erpressung von Homosexuellen sei laut Angaben der NGO The Initiative for Equal Rights (TIERS) zu einem Trend geworden Erpressung werde gewöhnlich straffrei begangen und durch das Gesetz verstärkt….Politische, soziokulturelle und religiöse Überzeugungen würden gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehr verbieten und jene, die diesen ausüben, würden als 'böse' angesehen und diskriminiert. Dies könne in einigen Fällen zu körperlichen Angriffen und Schikanierung führen. … 2009 seien laut Amnesty International weiterhin Übergriffe auf Menschen verübt worden, die gleichgeschlechtlicher sexueller Beziehungen verdächtigt worden seien. Homophobie und Transphobie führe laut AI regelmäßig zu Gewalt gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transsexuelle. Die Behörden würden keinen ausreichenden Schutz gewährleisten können oder wollen. … Lesben würden oft zum Ziel sogenannter 'heilender Vergewaltigung' werden. Die OMCT beschreibt den Fall zweier Männer, die in der Öffentlichkeit schwer beleidigt und mit Steinigung bedroht worden wären, während sie einem Scharia-Gericht vorgeführt worden seien. Die Bundespolizei habe die beiden Männer den Scharia-Behörden übergeben, da sie nach dem Strafgesetz nicht angeklagt werden konnten.

Amnesty International hat in seiner Auskunft vom 09.11.2012 an den Senat dazu Folgendes mitgeteilt:

„Seit der Einbringung des Same Sex Marriage (Prohibition) Bill ins Parlament sowie in die öffentliche Diskussion im Jahr 2006 hat sich die Verfolgungssituation für Homosexuelle weiter verschärft. Jegliche Verdächtigungen auf Homosexualität werden mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Anzeige gebracht und von den Medien veröffentlicht. In der Folge kommt es zu gewaltsamen Übergriffen und Verfolgung durch die Bevölkerung, aber auch durch staatliche Sicherheitskräfte.

Daher gibt es keinen Schutz von LGBTI-Personen gegenüber Dritten.

Nach der medialen Veröffentlichung von Fotos, Namen und Adressen von Mitgliedern der House of Rainbow Metropolitan Community Church in Lagos sah sich ihr Pastor gezwungen, aus Nigeria zu fliehen. Kirchenmitglieder waren von Zeitungen als Unterstützer von Homosexuellen bezeichnet worden. Die Polizei schikanierte die Kirchenmitglieder, warf Steine auf sie und schlug sie.

Im März 2011 vergewaltigten 10 Männer drei Mädchen in Benin (Edo State), weil sie annahmen, dass sie lesbisch seien. Die Vergewaltigung wurde aufgezeichnet und im Staat zirkuliert.“

(?) Darüber hinaus war der nigerianische Staat weiterhin nicht in der Lage oder willens, dem Kläger Schutz im Sinne von Art. 7 Abs. 1 und 2 RL 2004/83/EG zu gewähren.

Das Auswärtige Amt führt im Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand: April 2012) aus:

„Staatspräsident Goodluck Jonathan…bekennt sich wie sein Vorgänger grundsätzlich öffentlich zur Rechtsstaatlichkeit und scheint um eine nachhaltige, reformorientierte Wirtschaftspolitik bemüht. Bisher gibt es jedoch keine greifbare Verbesserung der Lage der Bevölkerung.

Die Menschen- und Bürgerrechte sind zwar im Grundrechtskatalog der Verfassung gewährleistet; die Verfassungswirklichkeit bleibt hinter diesen Ansprüchen aber weit zurück. Große menschenrechtliche Defizite bestehen nach wie vor bei den verschiedenen Sicherheitskräften, deren Vorgehen noch immer durch zum Teil exzessive Gewaltanwendung, willkürliche Verhaftungen, Folter und extra-legale Tötungen bzw. Verschwindenlassen von Untersuchungshäftlingen gekennzeichnet ist. Die Zahl der extralegalen Tötungen durch die Sicherheitskräfte wird von der staatlichen Menschenrechtskommission auf jährlich 5.000 geschätzt.“ (S. 5).

„Die Verfassung sieht Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz vor. In der Realität ist die Justiz allerdings, trotz persönlich hoher Unabhängigkeit einzelner Richterinnen und Richter und wiederholter Urteile gegen Entscheidungen der Administration, der Einflussnahme von Exekutive und Legislative sowie von einzelnen politischen Führungspersonen ausgesetzt. Die insgesamt zu geringe personelle und finanzielle Ausstattung behindert außerdem die Funktionsfähigkeit des Justizapparats. Das Recht auf ein zügiges Verfahren wird zwar von der Verfassung garantiert, ist jedoch kaum gewährleistet. Auch der gesetzlich garantierte Zugang zu Rechtsbeistand oder Familienangehörigen wird nicht immer ermöglicht. Den Untersuchungshäftlingen - d.h. ca. 65 % der Gefängnisinsassen - wird oft nicht einmal mitgeteilt, welche Verstöße ihnen zur Last gelegt werden.“ (S. 8).

„Die allgemeinen Polizei- und Ordnungsaufgaben obliegen der (Bundes-)Polizei, die dem Generalinspekteur der Polizei in Abuja untersteht. Die Lage der ca. 360.000 Mann starken Polizeitruppe ist durch schlechte Besoldung und Ausrüstung, Ausbildung und Unterbringung gekennzeichnet. Korruption ist bei der Polizei weit verbreitet; Gelderpressungen an Straßensperren sind an der Tagesordnung. Ca. 100.000 Polizisten sollen zudem als Sicherheitskräfte bei Personen des öffentlichen Lebens und einflussreichen Privatpersonen tätig sein. Die Polizeiführung versucht in begrenztem Maße gegenzusteuern und veranstaltet zusammen mit Nichtregierungsorganisationen Menschenrechtskurse und Fortbildungsmaßnahmen. Die harsche Zurückweisung eines 2009 veröffentlichten Berichts Amnesty Internationals, der der Polizei ebenfalls Folter, extralegale Tötungen und Verschwindenlassen vorwarf, verdeutlichte jedoch einmal mehr, dass menschenrechtliche Fragen für die Polizeiführung keine besondere Priorität haben.“ (S. 9).

„Eine willkürliche Strafverfolgung bzw. Strafzumessungspraxis durch Polizei und Justiz, die nach Rasse, Nationalität o.ä. diskriminiert, ist nicht erkennbar. Das bestehende System benachteiligt jedoch tendenziell Ungebildete und Arme, die sich weder von Beschuldigungen freikaufen noch eine Freilassung auf Kaution erwirken können. Zudem ist vielen eine angemessene Wahrung ihrer Rechte auf Grund von fehlenden Kenntnissen selbst elementarster Grund- und Verfahrensrechte nicht möglich. Auch der Zugang zu staatlicher Prozesskostenhilfe ist in Nigeria beschränkt.“ (S. 14).

In seiner Auskunft an den Senat vom 15.11.2012 hat das Auswärtige Amt mitgeteilt:

„Da in Nigeria Homosexualität illegal ist, bietet die nigerianische Regierung bzw. deren Behörden keinen besonderen Schutz für Homosexuelle an.“

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Auskunft an den Senat vom 24.10.2012 zu staatlichem Schutz vor Übergriffen Dritter Folgendes mitgeteilt:

„Gewalttäter gegen Homosexuelle werden kaum strafrechtlich verfolgt. Edgeboston berichtet über einen jungen Schwulen, der in Lagos von einer Gruppe angegriffen wurde, welche die Stadt von Homosexuellen säubern wollten. Niemand wurde strafrechtlich verfolgt, selbst dann nicht, als er an seinen Verletzungen starb. Die Behörden unternahmen auch nichts gegen die Schläger, welche 2008 Mitglieder der House of Rainbow Metropolitan Community Church angegriffen hatten, einer LGBT-freundlichen Kirche in Lagos. Die Angriffe fanden nach einer Hetzkampagne verschiedener Zeitungen statt, welche 2008 Namen, Fotos und Adressen von Mitgliedern der Kirche publiziert hatten. Im März 2011 kursierte ein Video, welches die Vergewaltigung von drei jungen Frauen durch zehn Männer zeigt. Die Frauen waren verdächtigt, lesbisch zu sein und sollten 'geheilt' werden. In der Folge versteckten sich die Mädchen aus Angst vor weiteren Übergriffen. Die Männer wurden nicht angezeigt.“

Amnesty International hat in seiner Auskunft vom 09.11.2012 an den Senat mitgeteilt:

„Da Diskriminierung von Homosexuellen vom Staat rechtlich institutionalisiert ist, werden diskriminierende rechtliche Vorgaben instrumentalisiert und als eine Aufforderung zur Gewaltanwendung gegen Homosexuelle in der gesamten Gesellschaft verstanden. Da dieser Bevölkerungsgruppe ein Teil ihrer Rechte abgesprochen wurde, hat sie kaum eine Möglichkeit, als Opfer von Menschenrechtsverletzungen Zugang zu Rechtshilfe und Entschädigung zu bekommen, während die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen werden.

Die Polizei gilt als korrupt, nicht vertrauenswürdig und hat sich in der Vergangenheit selbst an Übergriffen auf Personen beteiligt, die verdächtigt wurden, homosexuell zu sein. Der einzig mögliche Rechtsschutz besteht durch engagierte Rechtsanwälte und Organisationen, die Rechtshilfe für Betroffene anbieten. Diese würden durch den neuen Gesetzentwurf allerdings auch kriminalisiert werden.“

Vor diesem Hintergrund ist der Senat davon überzeugt, dass der Schutz der Grundrechte und der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit in Nigeria nur gering ausgeprägt sind, so dass effektiver Schutz gegen gewalttätige Übergriffe von Privatpersonen - insbesondere eine effektive Strafverfolgung der Täter - nicht allgemein gewährleistet ist. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass der nigerianische Staat homosexuelle Handlungen unter Strafe stellt. Der Wille zur Strafverfolgung ist daher nicht hinreichend gegeben, zumal nach den vorliegenden Erkenntnismitteln gewaltsame Übergriffe nicht nur vereinzelt auch von staatlichen Sicherheitskräften ausgeübt werden.

(2) Es bestehen weiterhin gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass der Kläger nicht erneut von einer solchen Verfolgung bedroht wird.

Vielmehr ist ausgehend von den eingeholten Erkenntnismitteln anzunehmen, dass der Kläger damit rechnen muss, erneut Opfer von Verfolgungshandlungen durch nichtstaatliche Akteure zu werden, gegen die durch den Staat Nigeria kein effektiver Schutz im Sinne von Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG gewährleistet wird.

(3) Der Kläger kann auch nicht auf eine nun vorliegende inländische Fluchtalternative (§ 60 Abs. 1 Satz 4 a.E. AufenthG) verwiesen werden.

Das Verwaltungsgericht hat unter Bezugnahme auf Entscheidungen des Verwaltungsgerichts München vom 09.01.2006 (M 12 K 05.50666, Juris), des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 09.05.2003 (6 A 30358/97.A, Juris) sowie des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 07.10.2011 (RN 5 K 11.30261) angenommen, dass es in größeren Städten - insbesondere innerhalb der westlich ausgebildeten Elite und nigerianischen Oberschicht - Zentren einigermaßen tolerierter Homosexualität gebe, die einen Umgang mit Homosexualität möglich machten. Diese Entscheidungen nehmen insoweit vor allem Bezug auf ein Gutachten des Instituts für Afrikakunde vom 19.01.2006, eine Auskunft des Instituts für Afrikakunde an das VG Oldenburg vom 11.11.2002 beziehungsweise eine Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stuttgart vom 17.05.2004.

Die genannte tatsächliche Annahme einer inländischen Fluchtalternative wird jedoch durch die nun vorliegenden aktuellen Auskünfte widerlegt.

Danach ist die Verfolgungsgefahr für Homosexuelle in den nördlichen Bundesstaaten, in denen die Scharia gilt, zwar noch größer als in den übrigen Bundesstaaten. Doch in diesem übrigen Teil bestehen keine signifikanten Unterschiede zwischen den größeren Städten und dem übrigen Land. Auch in der Stadt kann Homosexualität nur diskret gefahrlos gelebt werden. Ist ein Homosexueller jedoch öffentlich als solcher erkennbar, fehlt es auch in größeren an internem Schutz im Sinne von Art. 8 RL 2004/83/EG.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Auskunft an den Senat vom 24.10.2012 dazu Folgendes mitgeteilt:

„Aufgrund der gesellschaftlich verankerten Tabuisierung von Homosexualität halten die meisten ihre Homosexualität geheim. Es existieren kaum Gruppierungen oder Personen, die sich zu ihrer Homosexualität offen bekennen. Das österreichische Außenministerium empfiehlt Homosexuellen, sich in der Öffentlichkeit nicht zu exponieren.

Es gibt keine explizite Schwulenszene in Nigeria. Schwul sein bedeutet, unsichtbar zu sein. Viele Kontakte werden über Internet auf Webseiten sozialer Netzwerke geknüpft. In den größeren Städten bieten einige wenige Clubs gewisse Möglichkeiten für Treffen. Die TAZ schrieb über einen 30-jährigen Aktivisten in Lagos, der sich in der Schwulenszene engagiert und Partys organisiert. Doch auch er versucht mit allen Mitteln zu verhindern, als Schwuler geoutet zu werden. Er würde sonst seinen Job verlieren und von seiner Familie verstoßen werden.

Im Mai 2007 verabschiedete der Bundesstaat Lagos eine eigene Gesetzgebung gegen Homosexuelle. Sie ist ähnlich drastisch wie der Gesetzgebungsvorschlag der Same Sex Marriage (Prohibition) Bill. Eine Sprecherin der NGO Global Rights bezeichnete diese Gesetzgebung als alarmierend und meinte, dass in Lagos, der kosmopolitischsten Stadt des Landes, der Trend zu immer konservativeren und intoleranteren Haltungen festzustellen sei. Dies zeige sich auch bei Verhaftungen von Frauen, die aufgrund unangemessener Kleidung, wie beispielsweise Hosen, inhaftiert werden.

Die Mitglieder der House of Rainbow Metropolitan Community Church in Lagos erhielten auch 2011 weiterhin anonyme Drohnachrichten und Drohanrufe. Eine im Dezember 2011 geplante Konferenz in Lagos und Abuja zu 'Sexuelle Rechte und Gesundheit' musste aus Angst vor Übergriffen abgesagt werden.“

Amnesty International hat in seiner Auskunft vom 09.11.2012 an den Senat zu innerstaatlichen Fluchtalternativen ausgeführt:

„Es gibt in Nigeria keine Regionen oder geschlossenen gesellschaftlichen Kreise, in denen Homosexualität diskret oder offen gelebt werden kann. Die Gefahr für Homosexuelle ist im Norden des Landes durch die schärfere Gesetzgebung der Scharia und deren Durchsetzung durch Hisbah-Milizen stärker ausgeprägt als im Süden. Ferner ist die Situation für Homosexuelle auf dem Land schwieriger als in den Millionenstädten, wo es zumindest noch eine temporäre Möglichkeit geben kann, unentdeckt zu bleiben.

Es ist davon auszugehen, dass den Eliten mehr Mittel zur Verfügung stehen, ihre Rechte durch guten Rechtsbeistand zu sichern, als den ärmeren Bevölkerungsgruppen. Sie sind daher weniger der Justizwillkür ausgesetzt.

In seiner Auskunft vom15.11.2012 teilte das Auswärtige Amt dem Senat mit:

„Wie schon erläutert, ist die Situation für Homosexuelle bzw. deren Lebensweise in den verschiedenen Landesteilen durchaus unterschiedlich.

Homosexuelle in urbanen Orten, wie beispielsweise Lagos, können ihre sexuelle Orientierung bzw. Lebensweise einigermaßen gefahrlos leben, wenn sie dabei diskret bleiben. Darüber hinaus bleibt allerdings festzuhalten, dass Homosexualität im allgemeinen Bewusstsein der Nigerianer als abnormal wahrgenommen wird und Homosexuelle, die sich dazu öffentlich bekennen und ihre Lebensweise öffentlich propagieren, deshalb u.U. auch Ziele von gewaltsamen Attacken werden können.“

Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnislage liegen damit hinsichtlich des Klägers keine stichhaltigen Gründe im Sinne von Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG vor, dass es inländische Fluchtalternativen im Sinne von Art. 8 RL 2004/83/EG gibt. Dem im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG vorverfolgten Asylantragsteller kommt die Beweiserleichterung nach dieser Bestimmung auch bei der Prüfung zugute, ob für ihn im Gebiet einer internen Schutzalternative gemäß Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG keine begründete Furcht vor Verfolgung besteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.05.2009 - 10 C 21/08 -, NVwZ 1308, 1310).

Darüber hinaus gehört der Kläger auch nicht zur westlich ausgebildeten Elite oder gar zur nigerianischen Oberschicht. Zwar war sein damaliger Freund E... wohl Geschäftsmann. Der Kläger selbst, der bei seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung insgesamt einen recht naiven Eindruck gemacht hat, hat dagegen lediglich die Grundschule und die Sekundarschule besucht, jedoch keinen Beruf erlernt und hat auch nicht gearbeitet. Er hat sich vielmehr mit der Hilfe von Bekannten oder zum Teil seines Bruders durchgeschlagen.

II.

Die in Ziffer 4 des angefochtenen Bescheids des Bundesamts vom 12.01.2012 enthaltene Abschiebungsandrohung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG hätte die Abschiebungsandrohung nicht erlassen werden dürfen. Der Kläger hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach § 30 RVG.

IV.

Die Revision wird nicht zugelassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.