VG Karlsruhe, Beschluss vom 11.10.2012 - A 9 K 2386/12
Fundstelle
openJur 2013, 15293
  • Rkr:

1. Ein Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, mit dem ein Asylantrag gemäß §§ 31 Abs. 1 S. 4 i.V.m. 27a AsylVfG (juris: AsylVfG 1992) als unzulässig eingestuft wird, muss auch in den sog. "Aufgriffsfällen" wohl jedenfalls dann ergehen, wenn der grenznah aufgegriffene Ausländer in Deutschland einen Asylantrag stellt und sich in der Sache auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylVfG (juris: AsylVfG 1992) beruft.

2. Das Bundesamt ist als zuständige Behörde im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes in die Pflicht zu nehmen, da der Rechtsschutz in der Hauptsache in diesen Fällen letztlich auf eine Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland zur Durchführung eines Asylverfahrens und damit jedenfalls auf die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.02.2003 (sog. "Dublin II-VO") (juris: EGV 343/2003) gerichtet ist.

3. Für die Durchführung eines solchen Asylverfahrens und die dem vorangehende Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach der Dublin II-VO unter Berücksichtigung von Art. 4 der Europäischen Grundrechtecharta (juris: EUGrdRCh) ist das Bundesamt zuständig, da nur dieses über den Asylantrag in der Sache entscheiden kann und darf.

4. Es bedarf in den sog. "Aufgriffsfällen" keines zusätzlichen Eilverfahrens gegen die nach § 71 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG (juris: AufenthG 2004) mit der Zurückschiebung gemäß § 18 AsylVfG (juris: AsylVfG 1992) i.V.m. § 57 AufenthG (juris: AufenthG 2004) betraute Grenzbehörde, da diese von einer Zurückschiebung gemäß § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylVfG (juris: AsylVfG 1992) einstweilen abzusehen hat, nachdem das Bundesamt ihr mitgeteilt hat, dass der Ausländer aufgrund gerichtlicher Anordnung nicht in den nach der Dublin II-VO zuständigen Mitgliedstaat zurückgeschoben werden darf, weil erhebliche Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens in diesem Mitgliedstaat bestehen.

TenorDem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wird im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, der Bundespolizeiinspektion Weil am Rhein mitzuteilen, dass der Antragsteller nicht nach Italien zurückgeschoben werden darf.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tenor

Dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wird im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, der Bundespolizeiinspektion Weil am Rhein mitzuteilen, dass der Antragsteller nicht nach Italien zurückgeschoben werden darf.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

Der Antrag des Antragstellers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zur Abwendung seiner Abschiebung nach Italien ist bei sachdienlicher Auslegung nach § 123 VwGO statthaft. § 123 Abs. 5 VwGO steht dem nicht entgegen, denn ein Fall des § 80 VwGO liegt nicht vor. Ein Bescheid des Bundesamts, mit dem der Asylantrag des Antragstellers als unzulässig eingestuft und seine Abschiebung nach Italien angeordnet wird, wurde dem Antragsteller bisher entgegen § 31 Abs. 1 S. 4 AsylVfG nicht zugestellt. Ein solcher Bescheid des Bundesamts muss auch in den sog. „Aufgriffsfällen“ - entgegen der im Vermerk des Bundesamts vom 02.10.2012 in Bezug genommenen Weisung des BMI, nach der ein Asylantrag in derartigen Fällen „nicht in Behandlung zu nehmen“ sei - wohl jedenfalls dann ergehen, wenn der aufgegriffene Ausländer - wie hier - in Deutschland einen Asylantrag stellt und sich in der Sache auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylVfG beruft.

Der somit allein statthafte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist sachdienlich auf die Verpflichtung der Antragsgegnerin gerichtet, der Bundespolizeiinspektion Weil am Rhein als der für die Durchführung der Abschiebung zuständigen Behörde mitzuteilen, dass der Antragsteller nicht nach Italien zurückgeschoben werden darf. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - und nicht die Bundespolizeiinspektion Weil am Rhein - ist hier auch auf Seiten der Antragsgegnerin zur Prozessführung berufen und als zuständige Behörde im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes in die Pflicht zu nehmen, da der Rechtsschutz in der Hauptsache in Fällen der vorliegenden Art letztlich auf eine Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Durchführung eines Asylverfahrens in der Bundesrepublik und damit jedenfalls auf die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.02.2003 (sog. „Dublin II-VO“) gerichtet ist (vgl. dazu VG Sigmaringen, Beschluss vom 26.10.2009 - A 1 K 1757/09, juris, Rn. 12: Verpflichtung des Bundesamts zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts, keine Pflicht des Gerichts zum Durchentscheiden; weitergehend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.06.2012 - A 2 S 1355/11, juris, Rn. 27 ff.: Verpflichtung des Bundesamts zur inhaltlichen Prüfung des Asylantrags, ggfs. Herstellung der Spruchreife durch das Gericht).

Für die Durchführung eines solchen Asylverfahrens und die dem vorangehende Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach der Dublin II-VO unter Berücksichtigung von Art. 4 der Europäischen Grundrechtecharta (vgl. dazu jüngst EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 21.12.2011 in den verbundenen Rechtssachen C-411/10 und C-493/10 - „N. S./Secretary of State for the Home Department u. a.“, NVwZ 2012, 417), deren einstweiliger Sicherung das vorliegende Eilverfahren dient, ist jedoch das Bundesamt zuständig, da nur dieses über den Asylantrag in der Sache entscheiden kann und darf (vgl. dazu nur Funke-Kaiser, in GK-AsylVfG, § 27a, Rn. 149 ff.).

Etwas anderes ergibt sich weder aus § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylVfG, noch aus § 3 AsylZBV, da in beiden Vorschriften eine Zuweisung der Zuständigkeit für einen - hier letztlich in der Hauptsache verfahrensgegenständlichen - Selbsteintritt der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 Abs. 2 der Dublin II-VO zu den Grenzbehörden nicht erfolgt. Es bedarf - jedenfalls in „Aufgriffsfällen“ der vorliegenden Art - auch keines zusätzlichen Eilverfahrens gegen die nach § 71 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG mit der Zurückschiebung gemäß § 18 AsylVfG i.V.m. § 57 AufenthG betraute Grenzbehörde (hier die Bundespolizeiinspektion Weil am Rhein), da diese von einer Zurückschiebung gemäß § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylVfG einstweilen abzusehen hat, nachdem das Bundesamt ihr die im Tenor bezeichnete Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland mitgeteilt hat (anders wohl Funke-Kaiser, in GK-AsylVfG, § 18, Rn. 63 sowie derselbe, in GK-AufenthG, § 57, Rn. 65 ff. sowie Rn. 16 ff., dort auch zur Rechtsnatur der Zurückschiebung).

Mit diesem Begehren ist der Antrag auch sonst zulässig. § 34a Abs. 2 AsylVfG vermag die Zulässigkeit des Antrags nicht auszuschließen. Hiernach darf die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat, der - wie hier - auf dem Wege des § 27a AsylVfG zu ermitteln ist, zwar nicht nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden; in verfassungskonformer Auslegung dieser Bestimmung kommt die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes jedoch dann in Betracht, wenn eine die konkrete Schutzgewährung in Zweifel ziehende Sachlage in dem für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gegeben ist.

Dies ist hier der Fall.

Der mit der Bestimmung zum sicheren Drittstaat gemäß Art. 16a Abs. 2 GG einhergehende Ausschluss des Eilrechtsschutzes erfordert, dass in dem jeweiligen Drittstaat die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskommission, - GFK - vom 28.07.1951 (BGBl. 1953 II S. 560) und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - vom 4.11.1950 (BGBl. 1952 II S. 953) sichergestellt ist. Diese Voraussetzung ist für Drittstaaten außerhalb der Europäischen Union in Art. 16a Abs. 2 S. 1 GG ausdrücklich normiert, gilt aber aufgrund der gebotenen Wertungsgleichheit entsprechend auch für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Für Letztere sind die aus den genannten Regelungen folgenden Verpflichtungen zudem unter anderem in der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 01.12.2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft und in der Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27.01.2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten konkretisiert worden.

Die feststellbare Verletzung von Kernanforderungen des vorgenannten Rechts, die mit einer Gefährdung des Betroffenen insbesondere in seinem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG einhergeht, ist ein Sonderfall im Sinne der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung. Eilrechtsschutz bleibt in diesen Ausnahmefällen möglich und zulässig (vgl. VG Gießen, Beschl. v. 10.03.2011 - 1 L 468/11.GI.A, juris, m.w.N.). Dem entsprechend hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 14.05.1996 klargestellt, dass die Ausschlussregelung des § 34a Abs. 2 AsylVfG nur bei sinnentsprechender restriktiver Auslegung mit Art. 16a Abs. 2 S. 3 GG in Einklang steht. Aufgrund des mit Art. 16a Abs. 2 GG verfolgten Konzepts normativer Vergewisserung könne sich der Ausländer daher nicht mit Erfolg darauf berufen, dass in seinem Einzelfall die Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht erfüllt würden. Eine Prüfung, ob der Zurückweisung oder sofortigen Rückverbringung in den Drittstaat ausnahmsweise Hinderungsgründe entgegenstünden, könne der Ausländer nur erreichen, wenn es sich aufgrund bestimmter Tatsachen aufdränge, dass er von einem der im normativen Vergewisserungskonzept nicht aufgefangenen Sonderfälle betroffen sei (vgl. BVerfG, Urteil vom 14.05.1996 - 2 BvR 1938/93 u.a., BVerfGE 94, 49).

Mit seinen auf Griechenland bezogenen Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht diese Auffassung bestätigt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 08.09.2009 - 2 BvQ 56/09, NVwZ 2009, 1281; Beschluss vom 22.12.2009 - 2 BvR 2879/09, NVwZ 2010, 318). Schließlich ist auch nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil der Großen Kammer vom 21.12.2011 in den verbundenen Rechtssachen C-411/10 und C-493/10 - „N. S./Secretary of State for the Home Department u. a.“, NVwZ 2012, 417) trotz der Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechtecharta, der GFK und der EMRK steht, die Überstellung eines Asylbewerbers in einen Staat mit Art. 4 Grundrechtecharta unvereinbar, wenn systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Einen solchen Sonderfall hat der Antragsteller glaubhaft gemacht.

Ihm steht auch ein Anordnungsgrund zur Seite, da die Bundespolizeiinspektion Weil am Rhein seine Überstellung nach Italien betreibt.

Schließlich ist auch ein Anordnungsanspruch gegeben, denn es bestehen schwerwiegende Bedenken, ob die Praxis der Durchführung von Asylverfahren in Italien den oben zitierten Kernanforderungen entspricht. Das Gericht hat nach derzeitigem Erkenntnisstand erhebliche Zweifel an der Gewährleistung der Mindestanforderungen für Asylsuchende in Italien. Dies folgt aus zahlreichen Erkenntnisquellen, die in den -ebenfalls entsprechenden Eilanträgen stattgebenden - Beschlüssen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (vom 01.03.2012 - 1 B 234/12.A), der Verwaltungsgerichte Augsburg (vom 17.07.2012 - Au 3 E 12.30208), Stuttgart (vom 01.07.2012 - A 7 K 1877/12), Arnsberg (vom 18.03.2011 - 8 L 92/11.A), Gießen (vom 10.03.2011 - 1 L 468/11.GI.A), Freiburg (vom 17.02.2012 - A 2 K 286/12 und vom 24.01.2011 - A 1 K 117/11), Darmstadt (vom 11.01.2011 - 4 L 1889/10.DA.A), Köln (vom 10.01.2011 - 20 L 1920/10.A) und Minden (vom 07.12.2010 - 3 L 625/10.A) sowie in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 06.03.2012 - A 3 K 3069/11 und in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 26.07.2011 - 9 A 346/10 verwertet wurden und die auch das erkennende Gericht seiner Entscheidung zugrunde legt.

Dabei wird nicht verkannt, dass es nach wie vor keine Empfehlung des UNHCR gibt, generell nicht nach Italien zu überstellen, wie dies bei Griechenland der Fall war. Die in den zitierten Gerichtsentscheidungen verwerteten Erkenntnisquellen mögen auch einer abweichenden Gewichtung und Würdigung zugänglich sein. Dementsprechend ist die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung uneinheitlich (vgl. dazu die Aufstellung eine Zulässigkeit der Rückführung nach Italien bejahender Entscheidungen im Entscheiderbrief des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge 7/2011, S. 3 f.).

Gleichwohl spricht auf der Grundlage der vorliegenden Erkenntnisquellen vieles dafür, dass der Antragsteller in Italien der Gefahr von Obdachlosigkeit und mangelnder Versorgung ausgesetzt wäre und die gebotene Prüfung und Bescheidung seines Asylantrags nach Maßgabe der unionsrechtlichen Verfahrensgarantien nicht erreichen würde (vgl. zur Situation in Italien jüngst Dominik Bender, Warum Italien ein „Dublin-Thema“ ist, Asylmagazin 2012, 11 ff.). Dieser Eindruck kann mit hinreichender Gewissheit auch nicht durch die Auskunft des Auswärtigen Amts an das Verwaltungsgericht Freiburg vom 11.07.2012 entkräftet werden, da die darin enthaltenen Angaben nur sehr allgemein gehalten sind.

Eine eingehende und abschließende Würdigung der Sach- und Rechtslage kann vor diesem Hintergrund nicht im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes erfolgen, sondern bedarf - gegebenenfalls nach einer Beweisaufnahme - einer Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren. Bei dieser Sachlage hat das unionsrechtliche Interesse an der konsequenten Umsetzung der Zuständigkeitsregelungen der Dublin II-VO hinter dem Schutzanspruch des Antragstellers zurückzutreten.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylVfG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).