VG Karlsruhe, Beschluss vom 02.06.2005 - 6 K 1058/05
Fundstelle
openJur 2013, 13883
  • Rkr:
Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.

2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

3. Der Streitwert für das Verfahren wird auf 5.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I. Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen eine mit Sofortvollzug versehene Verfügung, mit der ihm eine „Nacktradel-Aktion“ entlang des Rheins im Landkreis Rastatt untersagt wurde.

Am 23.04.2005 meldete der Antragsteller beim Landratsamt Rastatt die dargestellte Veranstaltung für den 11.06.2005 an; nach seinen Angaben beabsichtigen 3 bis 12 Teilnehmer, im Rahmen des „Weltnacktradeltags“ in der Zeit von 13.00 bis 17.30 Uhr ab der Staustufe Iffezheim in Richtung Süden bis zur Landkreisgrenze und wieder zurück zum Ausgangspunkt nackt zu radeln. Ziel der Aktion ist, „für Nacktheit als zweckdienliche und gesellschaftsfähige Kleidung und gegen das Verstecken von Körpern in blickdichten und gebührenpflichtigen Ghettos einzutreten“.

Nach Anhörung des Antragstellers verbot das Landratsamt Rastatt unter dem 09.05.2005 die angemeldete „Nacktradel-Aktion“ sowie jede Form einer Ersatzveranstaltung; die sofortige Vollziehung der Verfügung wurde angeordnet. Zur Begründung gab das Landratsamt unter anderem Folgendes an: Aus der Terminierung, der Auswahl der Fahrstrecke und den Äußerungen des Antragstellers ergebe sich, dass eine große Anzahl fremder Menschen ungewollt mit der Nacktheit der Teilnehmer des Aufzugs konfrontiert werden solle. Das „Nacktfahrradfahren“ in der Öffentlichkeit stelle eine Belästigung bzw. eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung dar. Denn das unbekleidete Präsentieren eines menschlichen Körpers auf öffentlichen Straßen und in öffentlichen Anlagen stehe nach wie vor regelmäßig im Gegensatz zu den allgemein anerkannten Regeln der ungeschriebenen Gemeinschaftsordnung; hier sei das Scham- und Anstandsgefühl der sich ungewollt mit fremder Nacktheit konfrontierten Menschen nachhaltig tangiert. Ein milderes Mittel als das Verbot des Aufzugs - etwa in Form der Auflage, bekleidet Rad zu fahren - sei nicht ersichtlich, weil die Teilnehmer die Veranstaltung ihrem Zweck nach in jedem Fall nackt durchführen wollten. Schließlich sei die Anordnung des Sofortvollzugs geboten, ansonsten bestünde die begründete Gefahr irreparabler Verletzungen elementarer Rechtsgüter Dritter.

Gegen die Verfügung des Landratsamts Rastatt vom 09.05.2005 erhob der Antragsteller unter dem 16.05.2005 Widerspruch, über den noch nicht entschieden worden ist. Zur Begründung gab er unter anderem an, an allen Nebengewässern an der Strecke entlang des Rheins sei das Nacktbaden inzwischen üblich. Die Mehrheit der Bürger wolle nicht, dass sie vor dem Anblick nackter Menschen beschützt würde, zumal man heutzutage mit Nacktheit täglich im Fernsehen und sonstigen Medien konfrontiert werde. Das Interesse vereinzelter Bürger, die sich durch einen Aufzug unbekleideter Radfahrer auf dem Rheindamm in ihren Lebensvorstellungen beeinträchtigt fühlten, müsse hinter dem Recht der Meinungsfreiheit bzw. der Versammlungsfreiheit zurücktreten. Im Übrigen sei die ganze Aktion in Sekunden vorbei, wer nicht hinsehen wollte, müsse dies auch nicht tun. Da beim Nacktradeln die inkriminierten Körperteile ohnehin nur wenig hervorträten, könne man nicht von einer „Schampräsentation“ sprechen.

Mit seinem am 18.05.2005 bei Gericht eingegangenen Antrag beantragt der Antragsteller sinngemäß,

die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen die Verbotsverfügung des Landratsamts Rastatt vom 09.05.2005 wiederherzustellen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die gewechselten Schriftsätze, wegen der sonstigen Einzelheiten auf die vom Antragsgegner vorgelegte Akte (1 Band) verwiesen.

II. Der auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des vom Antragsteller erhobenen Widerspruchs gegen das kraft behördlicher Anordnung (§ 80 Abs.2 Satz 1 Nr.4 VwGO) sofort vollziehbare Versammlungsverbot gerichtete Antrag nach § 80 Abs.5 Satz 1 VwGO ist statthaft und auch ansonsten zulässig.

Der Antrag ist jedoch unbegründet.

Der Antragsgegner hat die sofortige Vollziehung der angegriffenen Verfügung formell ordnungsgemäß angeordnet (vgl. § 80 Abs.3 VwGO). Die von der Behörde gegebene Begründung genügt auch den Anforderungen an ein besonderes Vollzugsinteresse, weil bei der Durchführung der „Nacktradel-Aktion“ am 11.06.2005 die Begehung einer Ordnungswidrigkeit zu erwarten ist und damit die besondere Eilbedürftigkeit außer Frage steht.

Sind die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung erfüllt, so ergibt die bei einer Entscheidung nach § 80 Abs.5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung, dass das öffentliche Interesse am Sofortvollzug der streitgegenständlichen Verbotsverfügung das entgegenstehende Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Entscheidung überwiegt, weil das Versammlungsverbot bei summarischer Prüfung rechtlichen Bedenken nicht unterliegt.

Rechtsgrundlage für die vom Antragsteller angemeldete Versammlung bzw. den von ihm angemeldeten Aufzug in Form einer „Nacktradel-Aktion“ ist § 15 Abs.1 VersammlungsG. Zunächst ist festzuhalten, dass das Versammlungsgesetz auf die Veranstaltung des Antragstellers anwendbar ist. Es handelt sich um eine Versammlung, nämlich eine Personenmehrheit mit einem verbindenden Zweck, in Form eines Aufzugs. Die Aktion ist durch gemeinschaftliche Kommunikation geprägt und zielt auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinung ab. Unerheblich ist, ob die Teilnehmer der Veranstaltung etwa Plakate mitführen oder sich in Form von Parolen zu ihren Zielen bekennen. Durch die vom Antragsteller beabsichtigte Bekanntmachung der Veranstaltung und die Darbietung der „nackten Körper“ der Veranstaltungsteilnehmer wird nach außen ausreichend deutlich, dass für „öffentliche Nacktheit“ als Lebensform und gegen „Nacktheit ausschließlich in abgetrennten Bereichen“ geworben wird. Da sich die Versammlung „auf dem Fahrrad“ unter freiem Himmel fortbewegt, handelt es sich um einen Aufzug im Sinne des Versammlungsgesetzes. Durch Ortswechsel soll ein größerer Personenkreis mit der demonstrativen Aussage der Teilnehmer konfrontiert werden; Art, Ort und Geschwindigkeit der Fortbewegung eines Aufzugs sind unerheblich. Vor diesem Hintergrund stellt das Versammlungsgesetz eine abschließende Regelung dar, die einen Rückgriff auf das allgemeine Polizeirecht als Ermächtigungsgrundlage ausschließt (vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, 13.Aufl., § 15 Rd.Nr.4).

Nach § 15 Abs.1 VersammlG kann die zuständige Behörde - hier das Landratsamt Rastatt als Kreispolizeibehörde - den Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung des Aufzugs unmittelbar gefährdet ist. Schutzgut der öffentlichen Sicherheit sind subjektive Rechtsgüter und Rechte des Einzelnen, die Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates und sonstiger Träger von Hoheitsgewalt sowie die Durchsetzung der in der objektiven Rechtsordnung begründeten Verhaltenspflichten. Dazu gehört vor allem die Verhütung und vorbeugende Bekämpfung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten. Denn die Ausübung der Versammlungsfreiheit gibt keine Rechtfertigung für strafbares oder ordnungswidriges Verhalten.

Gemessen daran ist hier das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit betroffen, weil durch die „Nacktradel-Aktion“ des Antragstellers die Begehung von Ordnungswidrigkeiten - hier Belästigung der Allgemeinheit nach § 118 OWiG - droht. Wer sich unbekleidet auf öffentlichen Straßen und in öffentlichen Anlagen, in denen die Begegnung mit nackten Menschen nicht zu erwarten ist, in einer Weise aufhält, dass er anderen Benutzern den Anblick seines nackten Körpers aufdrängt, handelt ordnungswidrig im Sinne von § 118 OWiG (vgl. zum Nacktjoggen als Belästigung der Allgemeinheit: OLG Karlsruhe, Senat für Bußgeldsachen, Beschl. v. 04.05.2000 - 2 Ss 166/99 -, NStZ-RR 2000, 309). Im Einzelnen:

Nach § 118 Abs.1 OWiG handelt ordnungswidrig, wer eine grob ungehörige Handlung vornimmt, die geeignet ist, die Allgemeinheit zu belästigen oder zu gefährden und die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen. Eine grob ungehörige Handlung liegt dann vor, wenn die Handlung in einem so deutlichen Widerspruch zur Gemeinschaftsordnung steht, dass sie jeder billig denkende Bürger als eine grobe Rücksichtslosigkeit gegenüber jedem Mitbürger ansehen würde, sie sich also gleichsam als eine Missachtung der durch die Gemeinschaftsordnung geschützten Interessen darstellt. Solch ein schutzwürdiges Interesse ist auch das Schamgefühl. In der Schamhaftigkeit offenbart sich vor allem die Scheu des Menschen, die eigene Nacktheit unberufenen fremden Blicken auszusetzen, ihr kann es aber auch widerstreben, mit nackten fremden Menschen konfrontiert zu werden. Die Anschauungen darüber, ob das Schamgefühl der Allgemeinheit in diesem Sinne tangiert wird, sind freilich zeitbedingt und damit dem Wandel unterworfen. Die Rechtsprechung hat sich bei dieser Beurteilung weder nach den Auffassungen besonders prüder noch ungewöhnlich liberaler Kreise zu richten. Allerdings sind tiefgreifende und nachhaltige Änderungen der sittlichen Wertvorstellungen der Allgemeinheit, die von einer gegenüber früheren Zeiten unbefangeneren und freieren Auffassung hinsichtlich der Konfrontation mit menschlicher Nacktheit gekennzeichnet sind, zu berücksichtigen; entscheidend sind jeweils die Umstände des Einzelfalles (vgl. zum Ganzen OLG Karlsruhe, aaO.).

An diesem Maßstab orientiert steht das unbekleidete Präsentieren eines menschlichen Körpers auf öffentlichen Straßen und in öffentlichen Anlagen nach wie vor regelmäßig im Gegensatz zu den allgemein anerkannten Regeln der ungeschriebenen Gemeinschaftsordnung. Denn das Verhalten des Antragstellers und der übrigen Teilnehmer ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie Benutzern öffentlicher Straßen und Wege den Anblick ihrer nackten Körper aufdrängen, ohne dass diese frei entscheiden könnten, ob sie mit deren Anblick konfrontiert werden wollen oder nicht. Gerade die unfreiwillige Konfrontation an Orten, an denen die Begegnung mit nackten Menschen nicht zu erwarten ist, berührt aber auch nach heute noch allgemein vorherrschender Vorstellung das Schamgefühl in besonderer Weise (vgl. zum Ganzen: OLG Karlsruhe, aaO.). Zwar ist dem Antragsteller zuzugeben, dass gegenüber früheren Zeiten eine unbefangenere und freiere Einstellung hinsichtlich nackten Badens an Stränden oder in Schwimmbädern - in Schwimmbädern dürfte allerdings nur „oben ohne“ üblicher geworden sein -, auch wenn es sich nicht um ein abgeschlossenes FKK-Areal handelt, breiten Raum gewonnen hat; insbesondere an den Baggerseen und Nebenarmen des Rheines mag in bestimmten Bereichen Nacktbaden üblich sein. Der Bevölkerung sind diese Verhaltensweisen in bestimmten Bereichen aber durchaus geläufig, jeder kann sein Verhalten durch die Wahl seines Badeortes danach ausrichten. Anders liegt der Fall hier. Dem Antragsteller geht es gerade darum, jedermann entlang des Rheines auf seiner Fahrtstrecke - sei es auf öffentlichen Straßen, Liegewiesen, Campingplätzen, Gaststätten oder Spazierwegen -, also ganz überwiegend an Orten, an denen man „völlige Nacktheit“ nicht erwartet, mit seiner Lebenseinstellung zu konfrontieren. Dass die Betroffenen das Ganze übersehen oder wegschauen können, stellt die unfreiwillige Konfrontation nicht in Frage. Gleiches gilt für die Angabe des Antragstellers, auf dem Fahrrad seien die Schamteile kaum einsehbar; die Nacktheit der Teilnehmer des Aufzugs ist jedenfalls für jedermann erkennbar, zumal sie als größere Gruppe massiv auftreten.

Die grobe Ungehörigkeit der Handlungen des Antragstellers ist auch geeignet, gerade die Allgemeinheit, d.h. eine unbestimmte, nicht individuell abgegrenzte Mehrheit von Personen, zu belästigen. Rechtlich ohne Belang ist in diesem Zusammenhang, ob ein Teil der betroffenen Bürger eine Begegnung mit den unbekleideten Radlern billigend, gleichgültig oder belustigend hinnehmen würde. Bei der Frage, ob die Handlungen des Antragstellers geeignet sind, die Allgemeinheit zu belästigen, kommt es nur auf das Werturteil an, das die Gesamtheit des an der Verkehrssitte interessierten Publikums über den Vorgang fällt. Der vom Antragsteller angeführte Gesichtspunkt des Minderheitenschutzes - insbesondere die grundrechtlich geschützte Verhaltensfreiheit - darf zwar nicht „zu kurz kommen“, d.h. eine extreme Sexualmoral darf nicht zum Maß aller Dinge erhoben werden, die Interessen des Antragstellers müssen aber dann zurücktreten, wenn - wie hier - das fragliche Verhalten von einer Mehrheit missbilligt wird.

Schließlich ist - vor dem Hintergrund des bisher Dargelegten - die Eignung der Aktion des Antragstellers zur Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung zu bejahen; die einzelnen Merkmale des Tatbestandes des § 118 Abs.1 OWiG überschneiden sich insoweit (vgl. Senge in Erbs-Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze OWiG § 118 Rd.Nr.4).

Vor diesem Hintergrund durfte die Versammlungsbehörde nach § 15 Abs.1 VersammlG diejenigen Maßnahmen ergreifen, die ihr nach pflichtgemäßem Ermessen erforderlich erschienen, um der Begehung von Ordnungswidrigkeiten und damit Gefahren für die öffentliche Sicherheit vorzubeugen. Das vollständige Verbot des Aufzugs entspricht auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, weil mildere Maßnahmen nicht ersichtlich sind. So scheidet insbesondere etwa eine behördliche Auflage „nicht vollständig nackt Rad zu fahren“ schon deshalb aus, weil es dem Antragsteller entsprechend der Zielsetzung der Veranstaltung gerade auf die Nacktheit ankommt.

Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 161 Abs.1, 154 Abs.1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs.3 Nr.2, 52 Abs.1 GKG i.V.m. dem Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung vom Juli 2004 (vgl. VBlBW 2004, 474 unter Nr.45.4). Eine Halbierung des Auffangstreitwerts im Hinblick auf den vorläufigen Charakter dieser Entscheidung kommt nicht in Betracht, weil damit - angesichts der Festsetzung der Veranstaltung auf den 11.06.2005 - eine Vorwegnahme der Hauptsache der Sache verbunden ist.