VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 18.06.1996 - 9 S 558/96
Fundstelle
openJur 2013, 10080
  • Rkr:

1. Der Senat hält daran fest, daß für einen Normenkontrollantrag - und für einen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung im Normenkontrollverfahren - das Rechtsschutzinteresse fehlt, wenn die zu kontrollierende untergesetzliche Vorschrift - hier: § 1 Abs 4 der Berufsordnung der Landesärztekammer Baden-Württemberg idF vom 9.8.1995 (BO) - denselben Inhalt hat wie eine unmittelbar geltende gesetzliche Bestimmung - hier: § 30 Abs 3 KG (st Rspr des Senats seit Beschluß vom 27.1.1987, NJW 1987, 1350). Dies gilt jedenfalls dann, wenn die gesetzliche Norm nicht auf eine Verfassungsbeschwerde beseitigt werden kann, zB wegen Ablaufs der Frist des § 93 Abs 3 BVerfGG.

2. In einem solchen Fall ist es zumindest nicht dringlich, die untergesetzliche Norm durch einstweilige Anordnung außer Vollzug zu setzen.

Tatbestand

Die Antragstellerin, welche seit August 1995 die Rechtsform einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung hat, begutachtet seit 1980 biomedizinische Forschungsvorhaben, besonders Vorhaben der klinischen Prüfung von Arzneimitteln an Menschen, nach ethischen, rechtlichen und medizinischen Gesichtspunkten. Die Kommission besteht aus mindestens sieben Mitgliedern, nämlich Ärzten und medizinischen Laien, z.B. Theologen und Juristen. Neben der Antragstellerin sind auch bei der Landesärztekammer und den medizinischen Fakultäten der Universitäten (sog. öffentlich-rechtliche) Ethikkommissionen tätig.

Nach § 1 Abs. 4 Satz 1 der Berufsordnung der Landesärztekammer Baden-Württemberg vom 23.2.1994 (Ärzteblatt Baden-Württemberg 1994, 78) - BO - sollte der Arzt vor der Durchführung klinischer Versuche am Menschen oder der epidemiologischen Forschung mit personenbezogenen Daten eine bei der Landesärztekammer oder einer medizinischen Fakultät gebildete Ethikkommission anrufen, um sich über die mit seinem Vorhaben verbundenen berufsethischen und berufsrechtlichen Fragen beraten zu lassen. Vor der Forschung mit vitalen menschlichen Gameten und lebendem embryonalem Gewebe mußte der Arzt eine solche Kommission zu Rate ziehen.

Die Änderung des § 40 des Arzneimittelgesetzes vom 9.8.1994 (BGBl. I S. 2071) veranlaßte den Landesgesetzgeber zum Erlaß des Gesetzes zur Änderung des Kammergesetzes vom 12.12.1994 (GBl. S. 641) - KG -, in Kraft getreten am 24.12.1994. Dabei wurde § 30 KG durch einen zusätzlichen Absatz 3 ergänzt, der wie folgt lautet:

Die Mitglieder der Landesärztekammer und der Landeszahnärztekammer müssen sich vor der Durchführung klinischer Versuche am Menschen, vor der Forschung mit vitalen menschlichen Gameten und lebendem embryonalem Gewebe sowie vor der epidemiologischen Forschung mit personenbezogenen Daten durch eine Ethikkommission gem. § 5 Abs. 1 Satz 1 oder Satz 2 beraten lassen.

Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 KG wird bei der Landesärztekammer und der Landeszahnärztekammer durch Satzung eine Ethikkommission errichtet, nach § 5 Abs. 1 Satz 2 KG erlassen die Universitäten entsprechende Satzungen.

Durch Satzung der Landesärztekammer Baden-Württemberg zu Änderung der Berufsordnung vom 9.8.1995 (Ärzteblatt Baden-Württemberg 1995, 393) wurde § 1 Abs. 4 BO wie folgt "neu gefaßt":

Die Mitglieder der Landesärztekammer müssen sich vor der Durchführung klinischer Versuche am Menschen, vor der Forschung mit vitalen menschlichen Gameten und lebendem embryonalem Gewebe sowie vor der epidemiologischen Forschung mit personenbezogenen Daten durch die Ethikkommission bei der Landesärztekammer oder eine bei den Universitäten des Landes errichtete Ethikkommission beraten lassen.

Am 21.2.1996 hat die Antragstellerin beim Verwaltungsgerichtshof ein Normenkontrollverfahren eingeleitet (9 S 557/96) mit dem Ziel, § 1 Abs. 4 BO in der oben genannten Neufassung für ungültig zu erklären, insbesondere wegen Verstoßes gegen Art. 12 und 14 GG. Zugleich hat sie gem. § 47 Abs. 8 VwGO den Erlaß einer einstweiligen Anordnung begehrt. Sie macht geltend, seit dem Inkrafttreten des neu gefaßten § 1 Abs. 4 BO würden sich ihre bisherigen Klienten weitgehend nur noch an die öffentlich-rechtlichen Ethikkommissionen wenden. Dadurch gingen bei ihr die Gutachtensaufträge deutlich zurück, z.B. von 50 im Juli 1995 auf nur noch 7 im Januar 1996. Damit sei ihre wirtschaftliche Existenz gefährdet. Demgegenüber wären die öffentlichen Interessen bei einer Aussetzung des Normvollzugs nicht beeinträchtigt, da sich bei ihrer langjährigen Tätigkeit keinerlei Mißbräuche ergeben hätten. Für ihre Anträge bestehe trotz der gesetzlichen Regelung des Sachverhalts in § 30 Abs. 3 KG ein Rechtsschutzbedürfnis. Diese Vorschrift sei nicht wortgleich mit § 1 Abs. 4 BO und für sich allein nicht vollziehbar, zumal nach § 31 KG die Berufsordnung das Nähere über die Berufspflichten und die in § 5 Abs. 1 KG vorgeschriebenen Satzungen die Aufgaben der öffentlich-rechtlichen Ethikkommissionen regelten. Eine eigenständige, vollziehbare Regelung enthalte also allein § 1 Abs. 4 BO. Im übrigen sei es anerkannt, daß untergesetzliche Normen neben gesetzlichen bestehen könnten. Das werde jedenfalls dann erheblich, wenn § 30 Abs. 3 KG auf eine Verfassungsbeschwerde für nichtig erklärt würde. Eine solche Verfassungsbeschwerde werde sie noch erheben. Die dafür einzuhaltende Jahresfrist des § 93 Abs. 3 BVerfGG sei noch nicht abgelaufen, da § 30 Abs. 3 KG erst nach der im Herbst 1995 erfolgten Errichtung der öffentlich-rechtlichen Ethikkommissionen anwendbar sei.

Die Antragstellerin beantragt,

es den Mitgliedern der Landesärztekammer bis zur Entscheidung über den Normenkontrollantrag 9 S 557/96 zur Erfüllung ihrer Verpflichtung nach § 1 Abs. 4 BO zu gestatten, sich vor der Durchführung klinischer Versuche am Menschen auch durch die Antragstellerin beraten zu lassen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Sie hält den Normenkontrollantrag und das Begehren nach § 47 Abs. 8 VwGO wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses für unzulässig. Nach der Rechtsprechung des beschließenden Senats sei dies der Fall, wenn eine untergesetzliche Norm - wie hier - nur eine unmittelbar geltende gesetzliche Bestimmung wiederhole (Beschluß vom 27.1.1987, NJW 1987, 1350). Im übrigen fehle der Antragstellerin die Antragsbefugnis, da es ihr nur darum gehe, wirtschaftliche Nachteile zu vermeiden.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im einzelnen wird auf die im Hauptsacheverfahren und Eilverfahren gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

Gründe

Der Antrag, der trotz der etwas anderen Formulierung darauf abzielt, § 1 Abs. 4 BO (i.d.F. vom 9.8.1995) hinsichtlich der Beratung vor klinischen Versuchen am Menschen (wozu insbesondere die klinische Prüfung von Arzneimitteln gehört) bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Normenkontrollantrag der Antragstellerin im Verfahren 9 S 557/96 außer Vollzug zu setzen, ist mit diesem Begehren nach § 47 Abs. 8 VwGO statthaft. Er ist aber wegen fehlenden Rechtsschutzinteresses unzulässig (1). Außerdem ist der Erlaß einer einstweiligen Anordnung nicht dringlich (2).

1. Für einen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung im Normenkontrollverfahren nach § 47 Abs. 8 VwGO gelten dieselben allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen wie für den Normenkontrollantrag selbst (Senatsbeschluß vom 27.1.1987, NJW 1987, 1350; Kopp, VwGO, 10. Aufl., § 47 RdNr. 76, jeweils m.w.N.). Es muß für ihn also auch ein Rechtsschutzinteresse bestehen. Dieses fehlt nach ständiger Rechtsprechung des beschließenden Senats, wenn die untergesetzliche Norm, welche den Gegenstand des Normenkontrollverfahrens bildet und deren Vollzug ausgesetzt werden soll, nur eine unmittelbar geltende gesetzliche Bestimmung wiederholt (Senatsbeschlüsse vom 27.1.1987, a.a.O., vom 2.7.1987 - 9 S 1413/87 - und vom 7.6.1993, VBlBW 1993, 375). Denn wenn die untergesetzliche Norm für nichtig erklärt, erst recht wenn sie nur nach § 47 Abs. 8 VwGO außer Vollzug gesetzt wird, bleibt die - nicht mit einer Normenkontrolle nach § 47 VwGO angreifbare - höherrangige Norm und damit die vom Antragsteller bekämpfte vorgegebene Rechtslage unberührt und vollziehbar. Das bedeutet hier, daß die Mitglieder der Landesärztekammer sich vor Durchführung klinischer Versuche am Menschen nach wie vor durch eine öffentlich-rechtliche Ethikkommission gem. § 5 Abs. 1 KG beraten lassen müssen. An somit ins Leere gehenden Entscheidungen nach § 47 VwGO kann ein Antragsteller kein schützenswertes Interesse haben.

Die von der Antragstellerin - bezogen auf ihren Fall - gegen diese Rechtsprechung erhobenen Einwände sind nicht stichhaltig.

§ 30 Abs. 3 KG stimmt zwar nicht wortwörtlich mit § 1 Abs. 4 BO überein, weil im Gesetz von einer Ethikkommission gem. § 5 Abs. 1 Sätze 1 oder 2 KG die Rede ist, während in der Berufsordnung diese Ethikkommissionen namentlich als diejenigen bei der Landesärztekammer oder bei den Universitäten des Landes genannt werden. Da es sich dabei aber um eben die Ethikkommissionen handelt, die nach § 5 Abs. 1 KG zu errichten sind, haben § 30 Abs. 3 KG und § 1 Abs. 4 BO denselben Inhalt (abgesehen von den in § 30 Abs. 3 KG zusätzlich genannten Mitgliedern der Landeszahnärztekammer, über die die Berufsordnung der Landesärztekammer naturgemäß nichts regeln kann). Nur darauf kann es aber ankommen, wenn es darum geht, ob ein Rechtsschutzbedürfnis dafür besteht, eine Norm für nichtig zu erklären oder sie außer Vollzug zu setzen. Soweit der Senat in den obengenannten Beschlüssen von "wortgleichen" Regelungen gesprochen hat, lag dies allein daran, daß die konkurrierenden Normen in den jeweils zu entscheidenden Fällen tatsächlich nicht nur ihrem Inhalt nach, sondern sogar wörtlich übereinstimmten, der höchste Grad der Übereinstimmung also erreicht war.

Entgegen der Ansicht der Antragstellerin trifft § 30 Abs. 3 KG zumindest in dem Punkt, welcher der Gegenstand des vorliegenden Normenkontrollverfahrens ist, eine vollständige ("vollziehbare") Regelung. Denn er legt selbst unmittelbar fest, daß sich die Mitglieder der Landesärztekammer in bestimmten Fällen von den öffentlich-rechtlichen Ethikkommissionen beraten lassen müssen. Gerade diese Regelung beschwert aber die Antragstellerin, weil sie ein faktisches Monopol der öffentlich-rechtlichen Ethikkommissionen schafft. Insoweit enthält also § 30 Abs. 3 KG gegenüber der Antragstellerin eine unmittelbar wirkende Regelung, nicht etwa nur eine Ermächtigung zum Erlaß einer autonomen Satzung der Landesärztekammer (diese Ermächtigung befindet sich für die öffentlich-rechtlichen Ethikkommissionen in § 5 Abs. 1 KG und für die Antragstellerin in §§ 9, 10 Nr. 15 KG) oder eine Norm, die erst durch weitere autonome "Ausführungsverordnungen" oder Verwaltungsakte vollzogen werden kann. Verwaltungsakte, etwa Verbote gegenüber der Antragstellerin, keine Gutachten zu erstatten, kommen hier nicht in Frage, da ihr diese Tätigkeit nicht verboten ist. Auch soweit § 31 Abs. 1 KG bestimmt, daß das Nähere über die Berufspflichten in der Berufungsordnung geregelt wird, ist das die Antragstellerin belastende Erfordernis eines Gutachtens der öffentlich-rechtlichen Ethikkommissionen damit nicht gemeint. Nach alledem könnte man sogar daran zweifeln, ob § 1 Abs. 4 BO überhaupt noch "Regelungscharakter" hat, zumal § 30 Abs. 3 KG gerade deshalb in das Gesetz aufgenommen wurde, weil man meinte, wegen der dann tangierten Grundrechte der Ärzte (und Zahnärzte) aus Art. 12 Abs. 1 und 5 Abs. 3 GG eine formell-gesetzliche Grundlage schaffen zu müssen (Änderungsantrag zum Entwurf des KG-Änderungsgesetzes, Lt-Drs. 11/4644). Dies braucht jedoch nicht näher untersucht zu werden, weil das Rechtsschutzinteresse der Antragstellerin auch dann fehlt, wenn § 30 Abs. 3 KG und § 1 Abs. 4 BO als jeweils unmittelbar wirkende, inhaltsgleiche Regelungen verschiedenen Ranges nebeneinander gelten (vgl. zu einem derartigen Nebeneinander von Normen Stern, Staatsrecht I, S. 570, 572).

Eher stellt sich im vorliegenden Fall die auch von der Antragstellerin unter Bezugnahme auf das von ihr eingeholte Rechtsgutachten von Prof. Dr. Schenke aufgeworfene Frage, ob sie nicht jedenfalls deshalb des Rechtsschutzes nach § 47 Abs. 1 bzw. Abs. 8 VwGO bedarf, weil selbst oder gerade bei einer Nichtigerklärung der höherrangigen Norm des § 30 Abs. 3 KG die angegriffene Regelung des § 1 Abs. 4 BO anwendbar bliebe. Ob allein dies für ein Rechtsschutzinteresse ausreicht, kann im vorliegenden Fall offenbleiben. Denn nach Sachlage kann die Antragstellerin die gesetzliche Regelung des § 30 Abs. 3 KG nur durch eine - noch zu erhebende - Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG beseitigen. Eine solche Verfassungsbeschwerde verspricht aber keinen Erfolg (mehr), da die in § 93 Abs. 3 BVerfGG für ihre Erhebung vorgeschriebene Jahresfrist verstrichen ist. Diese begann nach dem eindeutigen Wortlaut des § 93 Abs. 3 BVerfGG mit Inkrafttreten des Änderungsgesetzes zum Kammergesetz vom 12.12.1994 am 24.12.1994 zu laufen, ist also inzwischen verstrichen. Das Gegenargument der Antragstellerin, diese Frist sei erst angelaufen, als die öffentlich-rechtliche Ethikkommissionen im Herbst 1995 "etabliert" worden seien, überzeugt nicht. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG ist § 93 Abs. 3 BVerfGG aus Gründen der Rechtssicherheit eng auszulegen (BVerfGE 18, 1/9; 23, 153/164; 24, 252/257). Es kommt also nicht darauf an, wann die Rechtswirkungen des Gesetzes dem Betroffenen gegenüber eingetreten sind (Umbach/Clemens, BVerfGG, § 93 RdNr. 30). Es ist zwar nicht zu verkennen, daß es auch nach der Rechtsprechung des BVerfG Ausnahmen gibt, bei deren Vorliegen die Jahresfrist des § 93 Abs. 3 BVerfGG erst nach Inkrafttreten des jeweiligen Gesetzes zu laufen beginnt, nämlich nach Inkrafttreten gesetzesabhängiger Verordnungen. Diese Rechtsprechung betrifft jedoch - soweit sie hier überhaupt einschlägig ist - nur Fälle, in denen das mit der Verfassungsbeschwerde bekämpfte Gesetz selbst noch nicht bestimmte, ob und wodurch die geltend gemachten Grundrechtsverstöße eintreten können, sondern diese Aktualisierungen dem durch das Gesetz ermächtigten Verordnungsgeber überließ. So betrifft das Urteil vom 6.12.1972 (BVerfGE 34, 165/178 f.) Förderstufen in hessischen Schulen, deren Einführung und räumlicher Bereich erst durch Ausführungsverordnung bestimmt werden sollte. Der Beschluß vom 12.12.1984 (BVerfGE 68, 319/324 f.) bezieht sich auf eine Verfassungsbeschwerde gegen § 11 BÄO, einer Ermächtigung zum Erlaß einer ärztlichen Gebührenordnung; dabei führte erst diese Verordnung zum geltend gemachten Grundrechtsverstoß. Im Fall der Antragstellerin regelt jedoch - wie bereits dargelegt - der Gesetzgeber selbst, daß die bisherige Rechtsstellung der Antragstellerin eingeschränkt wird und wodurch dies geschieht, nämlich durch die Verpflichtung der Ärzte, die in § 5 Abs. 1 KG genannten öffentlich-rechtlichen Ethikkommissionen anzurufen. Lediglich der Zeitpunkt, ab dem diese Ethikkommissionen aufgrund der neuen Satzungen nach geändertem Recht ihre Arbeit aufnehmen konnten, wurde vom Gesetzgeber nicht bestimmt. Das ändert jedoch nichts daran, daß für die Antragstellerin die alsbald zu erwartenden Auswirkungen der Regelung des § 30 Abs. 3 KG bereits mit dessen Inkrafttreten hinreichend absehbar waren. Gerade darauf stellt aber das Bundesverfassungsgericht bei § 93 Abs. 3 BVerfGG ab (BVerfGE 43, 291/387; 74, 297/319 f.). Auf den völlig ungewissen Zeitpunkt der "Etablierung" der öffentlich-rechtlichen Ethikkommissionen abzuheben, verbietet sich im übrigen schon wegen dieser Unbestimmtheit. Auch insoweit verhält es sich hier anders als in den vom BVerfG entschiedenen Ausnahmefällen.

Das hier gefundene Ergebnis widerspricht auch nicht § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG, wonach die Verfassungsbeschwerde erst nach Erschöpfung des Rechtswegs erhoben werden kann (Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde). Dieser Grundsatz besagt zwar u.a., daß jemand, der eine durch ein Gesetz entstandene Grundrechtsverletzung geltend macht, sich zunächst an die Fachgerichtsbarkeit wenden und durch sie die auf dem Gesetz beruhenden Vollzugsakte überprüfen lassen muß (umfangreiche Nachweise zur Rechtsprechung des BVerfG bei Umbach/Clemens, a.a.O., § 90 RdNrn. 100 ff.). Vollzugsakte, die eine gesetzesunmittelbare Verfassungsbeschwerde ausschließen, können zwar auch Normen sein, z.B. Rechtsverordnungen und Satzungen, welche der Normenkontrolle nach § 47 VwGO unterliegen (BVerfGE 53, 366/389; 68, 319/325). Aus diesen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts wird jedoch deutlich, daß dies Normen sein müssen, welche Vollzugscharakter haben, also z.B. Rechtsverordnungen, die aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung erlassen wurden. Demgegenüber ist § 1 Abs. 4 BO nicht etwa aufgrund von § 30 Abs. 3 KG erlassen worden, wie bereits ausgeführt wurde. Beide Vorschriften regeln vielmehr inhaltsgleich dasselbe. In einem solchen Fall ist auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht zunächst die Fachgerichtsbarkeit anzurufen, bevor eine gesetzesunmittelbare Verfassungsbeschwerde erhoben werden kann.

Da der Antrag somit bereits wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig ist, kann es offenbleiben, ob dies auch deshalb der Fall ist, weil die Antragstellerin als von § 1 Abs. 4 BO nur reflexartig Betroffene nicht antragsbefugt im Sinne von § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO ist (so Hess. VGH, Urteil vom 29.6.1983, ESVGH 43, 296).

Erst recht ist nicht zur Sache zu entscheiden, nämlich ob § 1 Abs. 4 BO durch die faktische Monopolbildung zugunsten der öffentlich-rechtlichen Ethikkommissionen Grundrechte der Antragstellerin aus Art. 12, 14 GG verletzt, was im Hinblick auf die im vorgelegten Rechtsgutachten und in NJW 1996, 745 von Prof. Dr. Schenke aufgeworfenen schwierigen Rechtsfragen nicht eindeutig zu beantworten ist.

2. Selbst wenn man der hier vertretenen Ansicht nicht folgt, der Antragstellerin das Rechtsschutzinteresse (noch) nicht abspricht, z.B. weil über die verfassungsprozessualen Fragen der Zulässigkeit einer gesetzesunmittelbaren Verfassungsbeschwerde gegen § 30 Abs. 3 KG und ihrer Subsidiarität nur das Bundesverfassungsgericht selbst verbindlich zu entscheiden hat, kann der Senat § 1 Abs. 4 BO nicht im beantragten Umfang außer Vollzug setzen. Denn das darauf gerichtete Begehren der Antragsteller wäre in diesem Fall unbegründet, weil der Erlaß einer einstweiligen Anordnung nicht dringlich im Sinne von § 47 Abs. 8 VwGO wäre. Das Erfordernis der Dringlichkeit einer einstweiligen Anordnung besteht auch dann, wenn die nach § 47 Abs. 8 VwGO - in Anlehnung an § 32 BVerfGG - vorzunehmende Folgenabwägung zugunsten der Antragstellerin ausginge. Bei dieser Abwägung wären einerseits die Folgen zu berücksichtigen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erlassen wird, der Normenkontrollantrag aber in der Hauptsache Erfolg hätte, andererseits aber die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erginge, der Normenkontrollantrag aber erfolglos bliebe (vgl. zu dieser Folgenabwägung die st.Rspr. des Senats, z.B. Beschluß vom 24.1.1994 - 9 S 1956/93 - m.w.N.; Kopp, a.a.O., § 47 RdNr. 78; zu § 32 BVerfGG Umbach/Clemens, a.a.O., § 32 RdNr. 177 m.u.N.). Denn auch hinsichtlich der Dringlichkeit einer einstweiligen Anordnung gelten die Voraussetzungen des vorläufigen Rechtsschutzes im verfassungsgerichtlichen Verfahren (§ 32 BVerfGG) entsprechend, und hier wird die Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung neben einer für den Antragsteller günstigen Folgenabwägung verlangt (st.Rspr. des BVerfG seit BVerfGE 6, 1/4; umfangreiche Nachweise bei Umbach/Clemens, a.a.O., § 32 RdNr. 177). Dringlich ist eine vorläufige Regelung hier aber deshalb nicht, weil es - wie bereits in anderem Zusammenhang dargelegt - die Rechtsposition der Antragstellerin zumindest zunächst nicht verbessern würde, wenn § 1 Abs. 4 BO im beantragten Umfang außer Vollzug gesetzt würde. Eine einstweilige Anordnung nach § 47 Abs. 8 VwGO zu erlassen, kann für die Antragstellerin also nur und erst dann dringlich sein, wenn entweder § 30 Abs. 3 KG aufgrund einer erfolgreichen Verfassungsbeschwerde durch das Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt, wenigstens aber der Vollzug dieser Norm ausgesetzt würde oder wenn das Bundesverfassungsgericht die Antragstellerin wegen des Subsidiaritätsgrundsatzes des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zunächst an die Fachgerichtsbarkeit (hier: den Verwaltungsgerichtshof) verweisen würde. Im ersten Fall wäre die Antragstellerin darauf angewiesen, daß auch § 1 Abs. 4 BO suspendiert wird, um ihr Ziel, nämlich das faktische Monopol der öffentlich-rechtlichen Ethikkommissionen zu verhindern, zu erreichen. Im zweiten Fall müßte ihr der Weg zu einer Verfassungsbeschwerde durch eine Entscheidung nach § 47 Abs. 1 und/oder § 47 Abs. 8 VwGO freigemacht werden. Beide Fallgestaltungen liegen aber derzeit nicht vor. Auch ist weder die eine noch die andere mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten, weil - wie ebenfalls schon dargelegt - die Verfassungsbeschwerde an der verstrichenen Jahresfrist scheitern dürfte und ihr wohl auch nicht die Subsidiarität nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG entgegensteht. Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, daß der Antragstellerin (schon jetzt) vorläufiger Rechtsschutz gewährt werden muß, eine solche Maßnahme also unter anderem dringlich ist, wäre jedoch ebenfalls Voraussetzung für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 8 VwGO. Insoweit gelten nämlich dieselben Grundsätze wie bei einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO (Kopp, a.a.O., § 47 RdNr. 76 m.w.N.). Da die Antragstellerin ohnehin eine Verfassungsbeschwerde erheben will, braucht auch nicht geprüft zu werden, ob ihr dies zumutbar ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung aus §§ 13 Abs. 1 Satz 1, 20 Abs. 3 GKG.

Dieser Beschluß ist unanfechtbar.