VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.05.1994 - 1 S 1397/94
Fundstelle
openJur 2013, 9188
  • Rkr:

1. Eine Versammlung im Sinne des Versammlungsgesetzes ist eine Mehrheit von natürlichen Personen, die an einem gemeinsamen Ort zu einem gemeinsamen verbindenden Zweck zusammenkommen, um unter Einwirkung der Öffentlichkeit in einer öffentlichen Angelegenheit eine Diskussion zu führen und/oder eine kollektive Aussage zu artikulieren.

2. Kulturelle und wissenschaftliche öffentliche Veranstaltungen erfüllen regelmäßig nicht den gesetzlichen Versammlungsbegriff.

3. In eine öffentliche Versammlung eingebundene Darbietungen (hier: musikalische und tänzerische Darbietungen sowie Straßentheater), die dem verbindenden Zweck dienen, in einer öffentlichen Angelegenheit Stellung zu beziehen, werden vom Grundrechtsschutz des Art 8 Abs 1 GG erfaßt.

Gründe

Die zulässige Beschwerde ist auch begründet. Anders als das Verwaltungsgericht hält es der Senat für angezeigt, dem Antragsteller vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die von ihm mit Schreiben vom 28.4.1994 angemeldete Kundgebung nach dem Versammlungsgesetz zu behandeln.

Der Antrag, mit dem der Antragsteller die - vorbeugende - Sicherung eines behaupteten Anspruches auf erlaubnisfreie Abhaltung einer Veranstaltung auf dem Marktplatz der Antragsgegnerin begehrt, ist als Antrag auf Erlaß einer Sicherungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO statthaft. Er ist auch im übrigen zulässig; insbesondere steht der Zulässigkeit nicht das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache entgegen. Dies hat das Verwaltungsgericht in der angegriffenen Entscheidung insoweit zutreffend ausgeführt, so daß der Senat hierauf verweisen kann (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO).

Der Antrag ist auch begründet, denn der Antragsteller hat das Vorliegen eines Anordnungsanspruches glaubhaft gemacht. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin ergibt sich ein derartiger Anordnungsanspruch aus §§ 1 Abs. 1, 14 VersG. Denn nach den dem Senat vorliegenden Unterlagen dürfte es sich bei der vom Antragsteller für den 29.5.1994 angemeldeten Veranstaltung um eine Versammlung im Sinne des § 1 Abs. 1 VersG handeln.

Eine Versammlung im Sinne des Versammlungsgesetzes ist eine Mehrheit natürlicher Personen, die an einem gemeinsamen Ort zu einem gemeinsamen verbindenden Zweck zusammenkommen, um unter Einwirkung auf die Öffentlichkeit in einer öffentlichen Angelegenheit eine Diskussion zu führen und/oder eine kollektive Aussage zu artikulieren (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.4.1989 - 7 C 50/88 -, BVerwGE 82, 34 ff.; BVerfG, Beschl. v. 14.5.1985 - 1 BvR 233, 341/81 -, BVerfGE 69, 315 (343 ff.); Dietel/Gintzel, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, 9. Aufl., RdNr. 163 zu § 1). Wesentliches Kriterium ist danach der gemeinsame Wille, in einer öffentlichen Angelegenheit Stellung zu beziehen. Dabei kommen hinsichtlich des verbindenden Zwecks nicht nur politische Zwecke in Betracht. Öffentliche Versammlungen bedürfen öffentlicher Einladung (§ 2 Abs. 1 VersG), wobei nicht die Öffentlichkeit des Ortes, an dem und zu welchem eingeladen wird, maßgebend ist, sondern die Unbestimmtheit der Adressaten (Dietel/Gintzel, a.a.O., RdNr. 6 zu § 2). Dies bedeutet, daß durch Plakate oder Zeitungsanzeigen, Handzettel u.ä. auf die Veranstaltung aufmerksam gemacht werden muß.

Kulturelle und wissenschaftliche öffentliche Veranstaltungen (Theateraufführungen, Konzerte, Vorträge u.ä.) erfüllen regelmäßig nicht den gesetzlichen Versammlungsbegriff, da sie nicht auf eine "gemeinsame Meinungsbildung und Meinungsäußerung (kollektive Aussage)" (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.4.1989, a.a.O.) hinzielen, sondern der Unterhaltung bzw. der Information der Teilnehmer dienen und diese hierbei Konsumenten bzw. unbeteiligte Empfänger fremder Meinungsäußerungen sind.

Nach den dargelegten Grundsätzen ist entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts eine innere Verbindung der Teilnehmer durch einen gemeinsamen Zweck für den hier zu beurteilenden Sachverhalt zu bejahen. Die für den 29.5.1994 auf dem Marktplatz der Antragsgegnerin geplante Veranstaltung unter dem Motto "Völkerverständigung; Spirituelle Lösungen für materielle Probleme" soll als Auftaktveranstaltung im Rahmen einer "Pilgerprozession", der sogenannten "Padayatra-Prozession", aus Anlaß des bevorstehenden 100. Jahrestags des Geburtstags eines indischen Schriftstellers, Philosophen und Lehrers stattfinden. Unter dem genannten Motto soll, wie der für die Öffentlichkeit bestimmten Einladung zur Kundgebung zu entnehmen ist, ausgehend von indischen Lehrsätzen ("Der Mensch soll daher nur Dinge annehmen, die er braucht und die ihm als Anteil zur Verfügung gestellt sind"), Problemlösungen zu Themen wie Umweltzerstörung, Ausländerprobleme und vor allem Krankheit der Psyche artikuliert und die Teilnehmer zur geistigen Auseinandersetzung mit dem Thema "Spirituelle Lösungen für materielle Probleme" aufgefordert werden. Dies ergibt sich aus dem zur Verteilung vorgesehenen Flugblatt, in welchem u.a. ausgeführt wird: "Wir müssen die Empfehlungen der Weisen ernst nehmen, um in Harmonie mit den kosmischen Gesetzen und der Natur, insbesondere auch mit den Tieren leben zu können. Alle sind wir spirituelle Seelen und daher Brüder und Schwestern! Daher laßt uns zusammenkommen, um für ein einfaches Leben und hohes Denken einzutreten, wie dies seit tausenden von Jahren von den Weisen Indiens angeraten wird. Daher treten wir insbesondere gegen Schlachthäuser und Ausländerhaß und für ein liebevolles Miteinander ein".

Als Mittel dieser Aussage sind neben einer Ansprache auch musikalische und tänzerische Darbietungen sowie ein mit dem Thema zusammenhängendes Theaterstück vorgesehen. Auch diese in die Veranstaltung eingebundenen Darbietungen dienen dem verbindenden Zweck, in einer öffentlichen Angelegenheit Stellung zu beziehen. Sie sind somit im vorliegenden Fall von dem Grundrechtschutz des Art. 8 GG erfaßt und bedürfen, entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin und des Verwaltungsgerichts, keiner straßenrechtlichen Sondernutzungserlaubnis (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.4.1989, a.a.O.). Sie unterscheiden sich von den durch Art. 8 GG grundsätzlich nicht erfaßten, anläßlich einer Demonstration aufgestellten Imbißständen, bei denen den Demonstrationsteilnehmern lediglich ein Versorgungsangebot gemacht wird (vgl. Senatsbeschl. v. 16.12.1993 - 1 S 1957/93 -, VBlBW, 1994, 199), den sogenannten Informationsständen, durch die zufällig vorbeigehenden Passanten ein einseitiges Informationsangebot gemacht wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 7.6.1978, - 7 C 5/78 -, BVerwGE 56, 63) sowie Musikgruppen und Straßenaufführungen, die zur Unterhaltung der Passanten gedacht sind, darin, daß sie der Veranschaulichung und Untermalung des öffentlichen Anliegens der Versammlungsteilnehmer dienen, indem sie den von ihnen propagierten natürlichen Lebensstil präsentieren sollen. Daß nur etwa eine Anzahl von 20 Teilnehmern für die musikalischen und tänzerischen Darbietungen sowie für das Theaterstück vorgesehen sind, steht dieser Annahme nicht entgegen.

Denn bei einer Veranstaltung, die insgesamt auf Meinungsbildung und Meinungsäußerung in Gruppenform gerichtet ist, wirkt auch bei den darin eingebundenen Darbietungen der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG, wenn die Teilnehmer zur Mitwirkung angeregt werden sollen bzw. durch ihre Anwesenheit Solidarität mit der darin zum Ausdruck kommenden kollektiven Aussage artikulieren sollen. Dies ist nach den erkennbaren Umständen hier der Fall.

Bei der vom Senat ausgesprochenen Sicherungsanordnung ist die Antragsgegnerin nicht gehindert, gemäß § 15 VersG die Versammlung von bestimmten Auflagen abhängig zu machen, wenn die dort genannten Voraussetzungen hierfür vorliegen.