VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.07.1991 - A 12 S 21/91
Fundstelle
openJur 2013, 7839
  • Rkr:

1. Die zur Aufnahme und Unterbringung von Asylbewerbern nach dem Asylbewerber-Unterbringungsgesetz verpflichteten Gemeinden können sich, da insoweit ihr Selbstverwaltungsrecht nach Art 28 Abs 2 GG berührt ist, gegen solche Zuweisungen zur Wehr setzen, die sie über ihre gesetzlich begründete Pflicht hinaus in Anspruch nehmen. Dies schließt das Recht auf Einhaltung der Zuständigkeitsregelungen in § 1 AsylZuVO (AsylZZustV BW) ein (im Anschluß an den Beschluß des Senats vom 04.09.1980, ESVGH 30, 220 ff).

2. Weder aus § 53 Abs 1 LKrO (LKreisO BW) noch aus den der Fachaufsichtsbehörde im Rahmen der Aufsicht zustehenden Befugnissen ergibt sich eine sachliche (funktionelle) Zuständigkeit der Fachaufsichtsbehörde, abweichend von § 1 Nr 2 AsylZuVO (AsylZZuStV BW) an Stelle der zuständigen unteren Verwaltungsbehörde (hier Landratsamt) Zuweisungen von Asylbewerbern nach dem Asylbewerber-Unterbringungsgesetz vorzunehmen.

3. Offen kann bleiben, ob eine Ausnahme hiervon auch im Hinblick auf Art 70 Abs 1 S 1 LV (Verf BW) dann zuzulassen ist, wenn die nachgeordnete Behörde eine ihr erteilte Weisung nicht befolgt oder Gefahr im Verzug vorliegt.

Gründe

Die Beschwerde ist zulässig.

Zwar ist die am 18.12.1990, dem letzten Tag der Beschwerdefrist, eingegangene Beschwerdeschrift vom 14.12.1990 nicht unterschrieben und genügt damit nicht den Formerfordernissen des § 147 Abs. 1 Satz 1 VwGO (vgl. BVerwG, Urteil vom 6.12.1988, NJW 89, 1175). Eine Ausnahme vom Erfordernis der Unterschrift ist jedoch dann zuzulassen, wenn sich bis zum Ablauf der Beschwerdefrist aus anderen Umständen auf den Urheber der Beschwerdeschrift und dessen Willen, eine Beschwerde einzureichen, schließen läßt (vgl. BVerwG, Urteil vom 6.12.1988, a.a.O.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 21.11.1988, VBlBW. 89, 208 zur Klageschrift). Solche anderen Umstände liegen hier vor. Der Prozeßbevollmächtigte der Antragstellerin hat diese bereits im erstinstanzlichen Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vertreten und eine entsprechende Prozeßvollmacht vorgelegt. Der mit der Beschwerde angegriffene Beschluß des Verwaltungsgerichts vom 27.11.1990 wurde diesem auch zugestellt. Der Prozeßbevollmächtigte der Antragstellerin hat sich ferner nach seinen anwaltschaftlich versicherten Angaben noch am 18.12.1990 beim Verwaltungsgericht nach dem Eingang der Beschwerde erkundigt. Dies wurde ihm nach seinen Angaben auch bestätigt. An der Urheberschaft und dem Willen des Prozeßbevollmächtigten der Antragstellerin unter Bezugnahme auf die Vollmacht vom 25.10.1990 im Namen der Antragstellerin Beschwerde einzulegen, bestehen danach keine Zweifel.

Die Beschwerde ist auch begründet. Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts liegt ein besonderes öffentliches Interesse am sofortigen Vollzug der Verfügungen vom 12.10. und 16.10.1990 nicht vor. Denn diese Verfügungen sind nach der in diesem Verfahren des vorläufigen Rechtschutzes gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage bereits aus formellen Gründen rechtswidrig. Das Regierungspräsidium K war als Fachaufsichtsbehörde zum Erlaß dieser Verfügungen nicht zuständig. Dieser Mangel führt zwar nicht zur Nichtigkeit, aber jedenfalls zur Rechtswidrigkeit der Verfügungen (vgl. Kopp, VwVfG, 4. Aufl., § 46 Randnr. 16; § 44 Randnr. 12 jeweils mit weiteren Nachweisen; Ladner, NVwZ 91, 200). Die Antragstellerin wird dadurch auch in ihren Rechten verletzt. Die zur Aufnahme und Unterbringung von Asylbewerbern nach dem Asylbewerber-Unterbringungsgesetz verpflichteten Gemeinden können sich, da insoweit ihr Selbstverwaltungsrecht nach Art. 28 Abs. 2 GG berührt ist, gegen solche Zuweisungen zur Wehr setzen, die sie über ihre gesetzlich begründete Pflicht hinaus in Anspruch nehmen (vgl. Beschluß des Senats vom 4.9.1980, ESVGH 30, 222). Dies schließt das Recht auf Einhaltung der Zuständigkeitsregelungen für die Zuweisung von Asylbewerbern ein.

Gemäß § 1 Nr. 2 der Verordnung des Innenministeriums über die Zuständigkeit zur Zuweisung von Asylbewerbern vom 12. Dezember 1988 (GBl. S. 407) -- AsylZuVO -- sind zuständige Behörden für die Zuweisung von Asylbewerbern nach dem Asylbewerber-Unterbringungsgesetz vom 12. Dezember 1988 (GBl. S. 400) -- AsylUG -- an nicht in § 1 Nr. 1 AsylZuVO genannte Gemeinden -- wie hier die Antragstellerin -- die Landratsämter als untere Verwaltungsbehörden. Danach sind Zuweisungen von Asylbewerbern nach diesem Gesetz an die Antragstellerin vom örtlich zuständigen Landratsamt R als untere Verwaltungsbehörde vorzunehmen. Darüber besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit. Der Senat vermag der Ansicht des Antragsgegners, daß im vorliegenden Fall das Regierungspräsidium K als zuständige Fachaufsichtsbehörde entgegen dieser Zuständigkeitsregelung ausnahmsweise zum Erlaß der beiden Verfügungen zuständig gewesen wäre, nicht zu folgen. Denn hierfür besteht keine Rechtsgrundlage, auch wenn sich das Landratsamt R zeitweise geweigert haben sollte, Zuweisungsverfügungen zu erlassen.

Rechtlich unzutreffend im Beschluß des Verwaltungsgerichts ist zunächst die Heranziehung des § 123 GemO über die Ersatzvornahme. Denn die entsprechende Anwendung der Vorschriften des Vierten Teils der Gemeindeordnung über die Aufsicht auf Landkreise findet gemäß § 51 Abs. 2 Satz 1 LKrO nur im Rahmen der Rechtsaufsicht über die Landkreise als Selbstverwaltungskörperschaften statt. Bei der Zuweisung von Asylbewerbern an Gemeinden handelt das Landratsamt jedoch als untere Verwaltungsbehörde und damit als Staatsbehörde (§ 1 Abs. 3 Satz 2 LKrO). Auszugehen ist danach von § 53 Abs. 1 LKrO. Hiernach ist der Landrat als Leiter der unteren Verwaltungsbehörde dem Land für die ordnungsgemäße Erledigung ihrer Geschäfte verantwortlich und unterliegt insoweit den Weisungen der Fachaufsichtsbehörden und der Dienstaufsicht des Regierungspräsidiums. Ein generelles Selbsteintrittsrecht des Regierungspräsidiums K als Fachaufsichtsbehörde (§ 22 Nr. 2 LVG) ergibt sich hieraus jedoch nicht. Ein solches folgt auch aus den der Fachaufsichtsbehörde zustehenden Befugnissen nicht. Insbesondere umfaßt die Aufsicht grundsätzlich nicht die Erstentscheidung (vgl. BayVGH, Beschluß vom 19.3.1977, BayVBl. 77, 503; Beschluß vom 19.3.1981, DÖV 82, 84; Süß, BayVBl. 87, 1 ff.; Engel, DVBl. 82, 757, 761; Wilhelm, BayVBl. 64, 277, 278). Vielmehr sind wegen des Vorbehaltes des Gesetzes (vgl. Art. 70 Abs. 1 Satz 1 LV) die Verwaltungsbehörden an ihre durch Rechtsnorm festgelegten Zuständigkeiten gebunden. Sie sind grundsätzlich nur berechtigt, in ihrem übertragenen Zuständigkeitsbereich tätig zu werden. Dies gilt auch im Verhältnis von übergeordneten zu nachgeordneten Behörden. Ausnahmen bedürfen gesetzlicher Regelung, die hier nicht gegeben ist (vgl. Kunze/Bronner/Katz. Gemeindeordnung für Baden-Württemberg, § 119 Randnr. 8; Ladner, a.a.O.; Wilhelm, a.a.O.). Hiervon geht auch der Antragsgegner aus.

Offenbleiben kann, ob von diesem Grundsatz auch im Hinblick auf Art. 70 Abs. 1 LV dann eine Ausnahme gemacht werden kann, wenn die nachgeordnete Behörde einer Weisung nicht Folge leistet oder wenn Gefahr im Verzug vorliegt (vgl. BayVGH, Beschluß vom 19.3.1981, a.a.O.; Brunner, DÖV 69, 773 ff.; Engel, a.a.O.; Wilhelm, a.a.O.; Ladner, a.a.O.). Denn keine dieser Voraussetzungen war bei Erlaß der Verfügungen gegeben.

Zum einen hat sich das Landratsamt R einer förmlichen Weisung nicht widersetzt. Nachdem es ausweislich der vorgelegten Akten über Jahre hinweg bis April 1990 zahlreiche Zuweisungsverfügungen gegenüber der Antragstellerin erlassen hatte, hat der Landrat des R-Kreises mit Schreiben vom 5.9.1990 dem Regierungspräsidium mitgeteilt, daß er sich an weiteren Zuweisungen an seiner Zuständigkeit unterliegenden Gemeinden gehindert sehe, weil eine ungleiche Zuweisungssituation zwischen der Stadt M einerseits und den Gemeinden des R-Kreises andererseits bestehe. Mit weiterem Schreiben vom 14.9.1990 an das Regierungspräsidium K hat das Landratsamt R dann mitgeteilt, daß es die Zuweisung von insgesamt 136 Personen an Gemeinden des Kreises nicht vornehmen werde. Daraufhin wurde der Landrat des R-Kreises unter dem 17.10.1990, also nach dem Erlaß der hier streitigen Verfügungen vom 12.10. und 16.10.1990, durch das Regierungspräsidium K angewiesen, die Zuweisung von Asylbewerbern an die Gemeinden des Landkreises in Form von zahlenmäßigen Zuweisungsverfügungen vorzunehmen. Dieser (erstmaligen) förmlichen Weisung kam das Landratsamt R in der Folgezeit auch nach und hat ausweislich der Akten weitere Zuweisungsverfügungen an die Antragstellerin erlassen.

Zum anderen lag auch keine "Gefahr im Verzug" vor, die das Regierungspräsidium K zum Erlaß der Verfügungen vom 12.10. und 16.10.1990 ermächtigt hätte. Zwar wird eine solche Notzuständigkeit auch der übergeordneten Behörde teilweise in Anlehnung an polizeirechtliche Grundsätze, teilweise in analoger Anwendung des die örtliche Zuständigkeit betreffenden § 3 Abs. 4 LVwVfG begründet (vgl. Kopp, a.a.O., § 3 Randnr. 47). Für das Vorliegen von Gefahr im Verzug muß es sich aber in jedem Fall um eine konkrete Gefahr für die Allgemeinheit, einen Beteiligten oder Dritten handeln, d.h. es muß der Eintritt eines unmittelbar bevorstehenden Schadens für wichtige Rechtsgüter drohen (vgl. Kopp, a.a.O., Randnr. 48 m.w.N.). Davon kann im vorliegenden Fall jedoch nicht ausgegangen werden. Zwar ist auch der Senat der Auffassung, daß eine zügige und reibungslose Zuweisung von Asylbewerbern nach dem AsylUG in besonderem Maße im öffentlichen Interesse liegt (vgl. Beschluß des Senats vom 4.3.1991 -- A 12 S 3036/90 --) und durch eine Weigerung einer zuständigen Behörde, Asylbewerber innerhalb ihres Zuständigkeitsbereiches zuzuweisen, erhebliche Belange des Antragsgegners und der Allgemeinheit berührt sind. Dies entbindet die zuständige Fachaufsichtsbehörde jedoch nicht davon, zunächst zu versuchen, die ihr als Aufsichtsbehörde zur Verfügung stehenden Mittel kurzfristig einzusetzen, was ja auch im vorliegenden Fall nachträglich wirksam geschehen ist (vgl. hierzu auch BayVGH, Beschluß vom 19.3.1981, a.a.O.). Es ist auch nicht zu erkennen, daß durch diese kurzfristige Verzögerung der Zuweisung von Asylbewerbern im Zuständigkeitsbereich des Landratsamtes R die weitere Verteilung von Asylbewerbern im Regierungsbezirk K oder gar im Land Baden-Württemberg unmittelbar gefährdet gewesen wäre, selbst wenn man auf sämtliche 136 Asylbewerber und nicht auf die 11 der Antragstellerin zugewiesenen Asylbewerber abstellt. Denn es ist nichts dazu vorgetragen oder sonst ersichtlich, daß diese 136 Asylbewerber nicht noch kurzfristig in den staatlichen Sammelunterkünften hätten verbleiben oder anderen Gemeinden außerhalb des Zuständigkeitsbereiches des Landratsamtes R im Rahmen der schrittweisen Auffüllung der Quote hätten zugewiesen werden können und die entsprechende weitere Anzahl von Asylbewerbern im R-Kreis nach Erlaß der Weisung in deren Befolgung hätten zugewiesen werden können.

Die fehlende Zuständigkeit des Regierungspräsidiums K zum Erlaß der Verfügungen ist schließlich auch nicht nach § 46 LVwVfG unbeachtlich. Denn abgesehen von dem Vorliegen ihrer sonstigen Voraussetzungen ist diese Vorschrift auf Verletzungen von Vorschriften über die funktionelle (instanzielle) Zuständigkeit als Unterform der sachlichen Zuständigkeit nicht anwendbar (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 18.5.1978, DÖV 78, 696; Kopp, a.a.O., § 46 Randnr. 16; Stelkens/Bonk/Leonhardt, VwVfG, 3. Aufl., § 46 Randnr. 23 ff. m.w.N.).

Dem Antrag war danach stattzugeben, ohne daß es auf die sonstigen Gründe der Antragstellerin noch ankäme. Der Senat weist allerdings darauf hin, daß die vom Verwaltungsgericht insoweit vorgenommene Würdigung der Belange der Antragstellerin der, vom Verwaltungsgericht auch angeführten, ständigen Rechtsprechung des Senats entsprechen dürfte.