VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21.07.1980 - 3 S 838/80
Fundstelle
openJur 2013, 46898
  • Rkr:

1. Eine telegraphische Beschwerdeeinlegung genügt den Anforderungen an die Schriftform, wenn das Aufgabetelegramm handschriftlich unterschrieben ist und dies aus dem Ankunftstelegramm entnommen werden kann.

Das in den BBauG § 30, BBauG § 34 Abs 1 enthaltene Erfordernis einer ordnungsmäßigen Erschließung einer baulichen Anlage dient nicht zumindest auch dem Interesse des Nachbarn, sondern allein einer geordneten städtebaulichen Entwicklung.

Gründe

Der Beigeladene beabsichtigt, auf seinem 9,15 ar großen Grundstück Flurstück-Nr ... auf der Gemarkung der Gemeinde F. (Landkreis H.) ein Wohngebäude mit neun Wohnungen, fünf Garagen im Untergeschoß des Hauses und vier Stellplätze zu errichten. Das Grundstück, das im räumlichen Geltungsbereich des Bebauungsplans "K.-F.-Straße" der Gemeinde F. liegt, ist über den S.-Weg im Westen und über die K.-Straße im Süden zu erreichen. Die Garagen sollen von dem etwa 4 m breiten S.-Weg und die Stellplätze von der K.-Straße aus angefahren werden.

Auf das Baugesuch vom November 1979 genehmigte das Landratsamt H. am 12. Dezember 1979 das Bauvorhaben des Beigeladenen. Hiergegen erhob der Beschwerdeführer Widerspruch mit der Begründung, er sei in seinen Nachbarrechten deshalb verletzt, weil der S.-Weg ein Fußweg sei, nicht von Kraftfahrzeugen befahren werden dürfe und mit der Zulassung eines Fahrzeugverkehrs ein Unfallrisiko entstehe. Der Beschwerdeführer ist Inhaber einer Eigentumswohnung auf dem nördlich angrenzenden Wohnbaugrundstück Flurstück-Nr ... (E.-Straße ... ). Das Regierungspräsidium S. wies am 15. Februar 1980 den Widerspruch zurück, weil die angefochtene Baugenehmigung nicht gegen nachbarschützende Vorschriften verstoße. Gleichzeitig ordnete es die sofortige Vollziehung der angefochtenen Baugenehmigung gemäß § 80 Abs 2 Nr 4 VwGO in die Belange des Beschwerdeführers überwiegenden Interesse des Beigeladenen an.

Der Beschwerdeführer reichte am 3. März 1980 Anfechtungsklage beim Verwaltungsgericht Stuttgart ein, über die noch nicht entschieden ist. Er leitete gleichzeitig das Aussetzungsverfahren des § 80 Abs 5 Satz 1 VwGO ein und machte geltend, daß die Erschließung des Baugrundstücks nur über die K.-Straße erfolgen dürfe, weil der S.-Weg für eine Zufahrt mit Kraftfahrzeugen nicht geeignet sei. Er beantragte, die aufschiebende Wirkung seiner Anfechtungsklage gegen die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung des Landratsamts H. vom 12. Dezember 1979 wiederherzustellen. Der Beschwerdegegner und der Beigeladene beantragten, den Antrag zurückzuweisen, weil der Beschwerdeführer durch die angefochtene Baugenehmigung nicht in eigenen Rechten verletzt werde.

Das Verwaltungsgericht Stuttgart wies mit Beschluß vom 28. März 1980 - 5 K 44/80 - den Aussetzungsantrag zurück mit der Begründung, eine Verletzung nachbarschützender Vorschriften sei nicht erkennbar. Das Interesse des Beigeladenen sei höher zu bewerten als das des Beschwerdeführers.

Gegen diesen am 9. April 1980 zugestellten Beschluß hat der Beschwerdeführer am 23. April 1980 telegrafisch Beschwerde eingelegt und im wesentlichen auf sein Vorbringen im ersten Rechtszug verwiesen.

Der Beschwerdeführer beantragt,

den Beschluß des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 28. März 1980 - 5 K 44/80 - zu ändern und die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung des Landratsamtes H. vom 12. Dezember 1979 wiederherzustellen.

Der Beschwerdegegner und der Beigeladene beantragen,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den vorgetragenen Inhalt der von den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie auf den Inhalt der vom Beschwerdegegner vorgelegten einschlägigen Bauakten Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde hat keinen Erfolg.

Sie ist zulässig, weil sie fristgerecht und formgerecht eingelegt worden ist (vgl § 147 Abs 1 Satz VwGO).

Die Frist von zwei Wochen ist gewahrt. Der angefochtene Beschluß ist dem Beschwerdeführer am 9.4.1980 zugestellt worden. Das Telegramm des Beschwerdeführers ist am 23. April 1980 beim Verwaltungsgericht Stuttgart eingegangen.

Auch die erforderliche Schriftform ist gewahrt. Schriftlichkeit bedeutet, daß die Beschwerde in schriftlicher abgefaßter Form bei Gericht eingereicht werden muß. Die Schriftform ist grundsätzlich nur beachtet, wenn die Beschwerdeschrift vom Beschwerdeführer oder seinem Prozeßbevollmächtigten handschriftlich unterschrieben ist. Denn nur damit besteht hinreichende Gewähr, daß sie vom Beschwerdeführer stammt und daß es sich um eine Beschwerde und nicht nur um einen Entwurf handelt. Ausnahmen bzw geringere Anforderungen an die Schriftform sind nur anzuerkennen, wenn aus der Beschwerdeschrift oder den ihr beigefügten Unterlagen sich eindeutig und ohne daß darüber Beweis erhoben werden müßte, ergibt, daß die Beschwerde vom Beschwerdeführer herrührt und mit dessen Willen an das Gericht gelangt ist. In diesem Sinne genügt die telegrafische Beschwerdeeinlegung, wenn das Aufgabetelegramm handschriftlich unterschrieben ist (vgl hierzu Koch, VwGO, 4. Aufl, 1979, § 81 VwGO RdNr 5 und 9 mit weiteren Nachweisen). All diesen Anforderungen wird das Ankunftstelegramm vom 23. April 1980 gerecht. Aus ihm kann entnommen werden, daß das Aufgabetelegramm unterschrieben ist.

Sie ist unbegründet.

Ebenso wie das Verwaltungsgericht macht auch der Senat von dem ihm eingeräumten Ermessen, die aufschiebende Wirkung der von dem Beschwerdeführer erhobenen Anfechtungsklage wiederherstellen zu können, keinen Gebrauch (vgl § 80 Abs 5 Satz 1 VwGO). Er sieht davon ab, die Vollziehung der angefochtenen Baugenehmigung des Landratsamts H. für die Errichtung des Wohngebäudes nebst Garagen sowie für die Anlage der Stellplätze auf dem Grundstück des Beigeladenen bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die eingereichte Anfechtungsklage auszusetzen. Der Senat hält die Auffassung des Regierungspräsidiums S., das die sofortige Vollziehung angeordnet hat, und des Verwaltungsgerichts für zutreffend, wonach das Interesse des Beigeladenen, mit der Verwirklichung seines Bauvorhabens sofort beginnen zu können, die nachbarlichen Interessen des Beschwerdeführers, vor den Folgen der sich aus der Baugenehmigung ergebenden Rechte aus Gründen eines effektiven Rechtsschutzes vorläufig verschont zu bleiben, überwiegt. Der sofortige Baubeginn ist für den Beigeladenen aus wirtschaftlichen Gründen von so wesentlicher Bedeutung, daß er dem Beschwerdeführer zugemutet werden kann, auch ohne daß dieser zuvor völlige Rechtsgewißheit darüber erlangt hat, ob die angefochtene Baugenehmigung des Landratsamts H. Bestand haben wird oder nicht. Bei dieser Abwägung der widerstreitenden Interessen fällt entscheidend ins Gewicht, daß die Aussichten des Beschwerdeführers, mit seiner Anfechtungsklage durchzudringen, bei der im Aussetzungsverfahren des § 80 Abs 5 Satz 1 VwGO gebotenen summarischen Betrachtung gering erscheint.

Die Wahrscheinlichkeit, daß die angefochtene Baugenehmigung des Landratsamts H. vom 12. Dezember 1979 gegenüber den Angriffen des Beschwerdeführers im Verfahren der Hauptsache Bestand haben wird, ist weitaus größer als die umgekehrte Möglichkeit. Die Anfechtungsklage ist zwar zulässig, jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit unbegründet. Nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand spricht nichts dafür, daß die angefochtene Baugenehmigung den Beschwerdeführer in seinen Rechten verletzt (vgl § 113 Abs 1 Satz 1 VwGO).

Eine Rechtsverletzung des Beschwerdeführers entsteht entgegen seiner Auffassung nicht dadurch, daß das Landratsamt H. auf dem Grundstück des Beigeladenen im Untergeschoß des Wohngebäudes den Bau von fünf Garagen genehmigt hat, die nur über den etwa 4 m breiten S.-Weg angefahren werden sollen. Der in diesem Zusammenhang behauptete Erschließungsmangel, der darin liegen soll, daß der S.-Weg nur als Fußweg geplant und zum Befahren mit Kraftfahrzeugen rechtlich nicht zugelassen sei, ist zwar geeignet, die Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung in bezug auf die Garagen in Zweifel zu ziehen. Denn nach dem gemäß § 29 Satz 1 BBauG anwendbaren § 30 BBauG oder im Falle der Ungültigkeit des Bebauungsplans "K.-F.-Straße" der Gemeinde F. nach dem anwendbaren § 34 Abs 1 BBauG hängt die Zulässigkeit eines Bauvorhabens, das die Errichtung von genehmigungsbedürftigen (§ 87 Abs 1 LBO) Garagen zum Inhalt hat, ua auch davon ab, daß deren verkehrsmäßige Erschließung gesichert ist. Indessen ist der behauptete Erschließungsmangel nicht geeignet, zu einer Rechtsverletzung des Beschwerdeführers zu führen. Denn das Erfordernis einer ordnungsmäßigen Erschließung einer baulichen Anlage dient nicht zumindest auch dem Schutze des Nachbarn. Die Anforderungen in den §§ 30, 34 Abs 1 BBauG an die verkehrsmäßige Erschließung dienen allein der geordneten städtebaulichen Entwicklung (vgl Ernst- Zinkahn-Bielenberg, BBauG, Stand Oktober 1979, RdNr 158 zu § 31 BBauG).

Eine Rechtsverletzung des Beschwerdeführers entsteht auch nicht durch die genehmigte Anordnung der Garagen auf dem Grundstück des Beigeladenen. Gemäß § 69 Abs 9 LBO müssen Garagen so abgeordnet und hergestellt werden, daß sie ua das Wohnen, die Ruhe und die Erholung in der Umgebung durch Lärm oder Gerüche nicht erheblich stören. Eine Störung ist erheblich, wenn sie für die Umgebung unzumutbar ist. Diese Voraussetzung ist nicht gegeben. Durch die Anlage des in Ziff 32 der Bedingungen und Auflagen zur angefochtenen Baugenehmigung auferlegten Erdwalles entlang der nördlichen Grundstücksgrenze vom S.-Weg an bis zum Grundstück Flurstück-Nr ... ist eindeutig ausgeschlossen, daß es zu Störungen in dem oben umschriebenen Maße durch den Betrieb der fünf Garagen kommt. Im übrigen ist durch Ziff 31 ausgeschlossen worden, daß auf der Freifläche zwischen dem Wohngebäude des Beigeladenen und der Grenze zum Grundstück Flurstück-Nr ... , auf dem der Beigeladene seine Eigentumswohnung hat, Personenkraftwagen abgestellt werden, diese Fläche also nicht für Stellplätze in Anspruch genommen werden darf.

Letztlich scheidet ein nachbarliches Abwehrrecht des Beschwerdeführers auch aus Art 14 GG aus. Hieraus besteht ein Nachbarschutz dann, wenn ein Vorhaben infolge eines Verstoßes gegen nicht nachbarschützende Vorschriften des Bauplanungsrechts und Bauordnungsrechts das Eigentum des Nachbarn verletzt. Dies ist im Falle der hier allein in Betracht kommenden mittelbaren Beeinträchtigung dann der Fall, wenn das Vorhaben die vorgegebene Grundstückssituation nachhaltig verändert und dadurch den Beschwerdeführer schwer und unerträglich trifft. Ein schwerer Eingriff ist nur dann nicht unerträglich, wenn er sich ungeachtet seiner Schwere im Rahmen der Sozialgebundenheit hält, mit anderen Worten für den Beschwerdeführer zumutbar ist (BVerwG, Urt v 21. Juni 1974; BRS 28 Nr 138; BVerwG, Urt v 5. Juli 1974; BRS 28 Nr 4). Ob durch die Anordnung der Garagen auf dem Grundstück des Beigeladenen und durch die Zuwegung zu ihnen die Grundstückssituation nachhaltig verändert wird, und ob durch sie in das Eigentum des Beschwerdeführers in schwerer Weise eingegriffen wird, kann dahinstehen. Denn selbst wenn dies der Fall wäre, wäre dieser Eingriff für ihn nicht unerträglich. Denn er ist, wie bereits oben dargestellt, zumutbar.