VG Stuttgart, Beschluss vom 14.08.2012 - A 7 K 2589/12
Fundstelle
openJur 2013, 15232
  • Rkr:

Im Hinblick auf die Entscheidung des EuGH vom 21.12.2011 (C-411/10 und 493/10) ist derzeit ernsthaft zu befürchten, dass Asylbewerber aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Ungarn bei einer Rückführung Gefahr laufen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden.

Tenor

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 5.7.2012 wird angeordnet. Die Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn ist unzulässig. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

Die Antragsgegnerin zu 1 trägt die außergerichtlichen Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Antragsgegners zu 2, die der Antragsteller trägt.

Gründe

I.

Der Antragsteller, ein nach seinen Angaben in Beirut geborener Palästinenser aus dem Libanon, reiste nach seinen Angaben am 25.7.2011 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er stellte am 14.9.2011 einen Asylantrag und wurde am 10.10.2011 zu seinen persönlichen Daten und seinem Reiseweg nach Deutschland angehört. Dabei gab er an, in einem fremden Land für zwei Wochen inhaftiert worden zu sein. Dann habe man ihn einfach so wieder freigelassen. Danach habe er sich dort noch zwei bis drei Wochen aufgehalten. Er habe im Freien übernachtet. Durch einen Schleuser sei er dann nach Deutschland gebracht worden. Er habe nirgendwo anders einen Asylantrag gestellt. Auf Vorhalt, dass dem Bundesamt Erkenntnisse vorlägen, der Antragsteller habe bereits in Ungarn um Asyl nachgesucht, antwortete der Antragsteller, er werde in so einem Land, in dem er erniedrigt und geschlagen worden sei, niemals einen Asylantrag stellen. In diesem Land seien ihm Fingerabdrücke genommen worden. Er habe in diesem Land keine richtigen Personalien angegeben, da er Angst gehabt habe, abgeschoben zu werden.

Mit Bescheid vom 5.7.2012 wurde der Asylantrag des Antragstellers als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung nach Ungarn angeordnet. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Antragsteller habe laut Eurodac-Datenbank bereits am 22.6.2011 in Ungarn Asyl beantragt. Auf das Übernahmeersuchen des Bundesamts vom 19.6.2012 hätten die ungarischen Behörden mit Schreiben vom 22.6.2012 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags gemäß Art. 16 Abs. 1 c Dublin-Verordnung erklärt. Daher werde der Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland nicht materiell geprüft.

Der Bescheid wurde dem Antragsteller als Anlage zum Schreiben des Antragsgegners zu 2 vom 30.7.2012 am 2.8.2012 zugestellt.

Der Antragsteller hat am 6.8.2012 Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners zu 1 erhoben, mit der er neben der Aufhebung des Bescheids vom 5.7.2012 die Verpflichtung der Antragsgegnerin zu 1 begehrt, ein Asylverfahren durchzuführen und über seinen Asylantrag zu entscheiden (A 7 K 2588/12).

Zugleich hat er einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt. Weder die Klage noch der Antrag ist begründet worden.

Der Antragsteller beantragt sinngemäß,

die aufschiebende Wirkung der Klage vom 6.8.2012 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin zu 1 vom 5.7.2012 anzuordnensowie dem Antragsgegner zu 2 zu untersagen, ihn vor Entscheidung über seine Klage vom 6.8.2012 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin zu 1 vom 5.7.2012 nach Ungarn abzuschieben.

Die Antragsgegnerin zu 1 beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Zur Begründung führt sie aus, einem Antrag nach § 80 oder § 123 VwGO stehe schon § 34 a Abs. 2 AsylVfG entgegen, wonach eine nach § 34 a Abs. 1 AsylVfG angeordnete Abschiebung in einen sicheren Drittstaat im Sinne des § 36 a AsylVfG nicht ausgesetzt werden dürfe. Aus dem Konzept der normativen Vergewisserung folge, dass Belgien (gemeint ist wohl Ungarn) als sicherer Drittstaat einem Flüchtling, der sein Gebiet erreicht habe, nach der Genfer Flüchtlingskonvention und der Konvention zum Schutz der Menschenrecht und Grundfreiheiten Schutz vor politischer Verfolgung anderen im Herkunftsstaat drohenden schwerwiegenden Beeinträchtigungen seines Lebens, seiner Gesundheit und Freiheit gewähre. Nur wenn im Einzelfall Umstände vorlägen, die ihrer Eigenart nach nicht vorweg im Rahmen des Konzepts normativer Vergewisserung von Verfassung oder Gesetz berücksichtigt werden könnten, habe die Bundesrepublik Deutschland Schutz zu gewähren. Ein solcher Ausnahmefall liege hier nicht vor. Anhaltspunkte dafür, dass Belgien (gemeint ist wohl Ungarn) bei Dublin-Rückkehrern gegen das Non-Refoulement-Gebot verstoße, seien nicht ersichtlich. Es sei ebenfalls nicht ersichtlich, dass der Antragsteller bei einer Rückschiebung nach Ungarn Gefahr laufe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 Grundrechtscharta ausgesetzt zu werden. Es bestehe lediglich die Gefahr, dass gegen den Antragsteller nach einer Überstellung nach Ungarn ein Ausweisungsbescheid ergehe und er infolge dessen in Haft genommen werde. Der Erlass eines derartigen Ausweisungsbescheids sowie die Unterbringung in einer Haftanstalt stellten jedoch keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 Grundrechtscharta dar, da jedenfalls das Asylgesuch des Antragstellers vor einer Abschiebung aus Ungarn in vollem Umfang geprüft werde. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-Verordnung durch die Bundesrepublik Deutschland erforderlich machen könnten, seien nicht geltend gemacht und auch nicht erkennbar.

Der Antragsgegner hat unter Hinweis auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 31.5.2011 (A 11 S 1523/11) darauf hingewiesen, dass er nicht Antragsgegner sein könne, da er für die Prüfung auch nicht zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse nicht zuständig sei.

Mit Schriftsatz per Fax vom 14.8.2012 hat sich der Prozessbevollmächtigte für den Antragsteller bestellt. Er gibt an, der Antragsteller habe seinen Asylantrag mit Schreiben vom 14.8.2012 zurückgenommen und verweist auf entsprechende Belege, die dem Fax nicht beigefügt waren. Der Antragsteller beantrage nunmehr nur noch subsidiären Schutz nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers verwies diesbezüglich auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 29.6.2012 (A 2 K 1958/12).

Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte des vorliegenden Verfahren und des Verfahrens in der Hauptsache (A 7 K 2588/12) sowie die Akten des Antragsgegners zu 2 verwiesen. Der Antragsgegner zu 1 hat keine Akten vorgelegt.

II.

Die Entscheidung ergeht gemäß § 76 Abs. 4 AsylVfG durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin.

Der Antrag gegen den Antragsgegner zu 1 ist als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO statthaft, nachdem das Bundesamt am 5.7.2012 einen Bescheid erlassen hat, mit welchem der Asylantrag des Antragsstellers als unzulässig zurückgewiesen und die Abschiebung nach Ungarn angeordnet wurde, und dieser dem Antragsteller mit Schreiben des Antragsgegners zu 2 vom 30.7.2012 zugesandt wurde. Die am 6.8.2012 erhobene Anfechtungsklage gegen diesen Bescheid hat kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung (§ 75 Satz 1 VwGO).

Der so verstandene Antrag gegen den Antragsgegner zu 1 ist zulässig und begründet.

Der Antrag ist fristgerecht erhoben. Die Wochenfrist des § 36 AsylVfG findet auf den vorliegenden Fall keine Anwendung (vgl. ausführlich hierzu VG Gießen, B.v. 10.3.2011 - 1 L 468/11.GI.A -, zit. nach juris). Durch Klageerhebung am 6.8.2012 ist jedenfalls die Zweiwochenfrist (§ 74 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) eingehalten worden. Der Bescheid wurde dem Antragsteller mit Schreiben des Antragsgegners vom 30.7.3012 am 2.8.2012 zugestellt.

Der Zulässigkeit des Antrags steht auch nicht § 34 a Abs. 2 AsylVfG entgegen, wonach eine Abschiebungsanordnung in den Fällen des § 26 a AsylVfG und jenen des § 27 a AsylVfG nicht ausgesetzt werden darf.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (U.v. 14.5.1996 - 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 -, BVerfGE 94, 49) kann ein Ausländer, der in einen sicheren Drittstaat zurückverbracht werden soll, den Schutz der Bundesrepublik Deutschland vor einer politischen Verfolgung oder sonstigen schwerwiegenden Beeinträchtigungen in seinem Herkunftsstaat zwar grundsätzlich nicht mit der Begründung einfordern, für ihn bestehe in dem betreffenden Drittstaat keine Sicherheit, weil dort die Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht erfüllt würden. Deswegen kommen für ihn entsprechend dem mit Art. 16 a Abs. 2 GG verfolgten „Konzept normativer Vergewisserung“ über die Sicherheit im Drittstaat auch die materiellen Rechtspositionen, auf die ein Ausländer sich sonst gegen seine Abschiebung stützen kann, nicht in Betracht. Vergleichbares gilt nach dem Willen des Gesetzgebers, wenn es um die Rückführung eines Ausländers in den für seinen Asylantrag zuständigen Staat im Sinne des § 27 a AsylVfG geht.

Die Bundesrepublik Deutschland hat allerdings dann Schutz zu gewähren, wenn Abschiebungsverbote nach § 60 AufenthG durch Umstände begründet werden, die ihrer Eigenart nach nicht vorweg im Rahmen des „Konzepts normativer Vergewisserung“ durch Gesetz berücksichtigt werden können. Ausnahmen sind nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts u.a. dann geboten, wenn der Drittstaat gegenüber dem Schutzsuchenden selbst zu Maßnahmen politischer Verfolgung oder unmenschlicher Behandlung greift und dadurch zum Verfolgerstaat wird, und wenn offen zu Tage tritt, dass der Drittstaat sich von seinen Schutzverpflichtungen lösen und einem bestimmten Ausländer den Schutz dadurch verweigern wird, dass er sich seiner ohne jede Prüfung des Schutzgesuchs entledigen wird.

Den vom Bundesverfassungsgericht angeführten Sonderfällen liegt die Zielsetzung zugrunde, dem Asylsuchenden den gebotenen Schutz nicht durch die Rückführung in den Drittstaat zu versagen. Ob dies auf einzelfallbezogenen Erwägungen beruht oder auf den allgemeinen Bedingungen in dem jeweiligen Staat, ist insoweit nicht von maßgeblicher Bedeutung. Mit Blick auf die Schutzbedürftigkeit des Betroffenen ist vorläufiger Rechtsschutz auf der Grundlage einer verfassungskonformen Auslegung des § 34 a Abs. 2 AsylVfG dann möglich, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der nach Art. 16 a Abs. 2 Satz 1 GG in dem Drittstaat europarechtlich zu gewährleistende Schutz tatsächlich nicht zumindest im Kern sichergestellt ist. Ob dies tatsächlich der Fall ist und welche Folgen dies für das Asylbegehren des Betroffenen in Deutschland hat, gilt es im Hauptsacheverfahren zu klären.

Ungarn ist als Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft gemäß § 26 a Abs. 2 AsylVfG ein sicherer Drittstaat und Art 16 a Abs. 2 GG geht grundsätzlich davon aus, dass als Mitgliedstaaten der Europäischen Union die von ihnen eingegangenen Verpflichtungen nach der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention erfüllen. Angesichts der aktuellen Auskunftslage bestehen aber Anhaltspunkte dafür, dass dies beim Aufnahmestaat Ungarn nicht zutrifft (vgl. VG Sigmaringen, B.v. 29.6.2012 - A 2 K 1958/12 -, www.asyl.net; VG Magdeburg, B.v. 20.5.2012 - 5 B 1236/12 MD -, www.fluechtlingsrat-Isa.de/?= Ungarn; VG Trier, U.v.30.5.2012 - 5 K 967/11.TR -, juris). Es ist deshalb eine verfassungskonforme einschränkende Auslegung des § 34 a Abs. 2 AsylVfG geboten.

Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (U.v. 21.12.2011 - C-411/10 und C-492/10 -, juris, Rn. 80, 86). Danach gilt zunächst die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht. Ist dagegen ernsthaft zu befürchten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesem Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber i.S. von Art. 4 der Grundrechtscharta implizieren, so wäre die Rücküberstellung von Asylbewerbern mit dieser Bestimmung unvereinbar.

Nach den vorliegenden Erkenntnissen (UNHCR vom April 2012, Ungarn als Asylland, Bericht zur Situation für Asylsuchende und Flüchtlinge in Ungarn; UNHCR-Büro Wien vom 3.2.2012, Stellungnahme an den Asylgerichtshof zur Situation von Asylsuchenden in Ungarn; Pro Asyl vom März 2012, Ungarn: Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit, Bericht einer einjährigen Recherche bis Februar 2012; Ungarisches Helsinki-Komitee vom Dezember 2011, Zugang zu Schutz in Gefahr, Bericht über die Behandlung von Dublin-Rückkehrern in Ungarn; Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE - vom 2.3.2012, BT-Drs. 17/8836) liegt in Bezug auf Ungarn mindestens ein schwerwiegender systemischer Mangel bezüglich der Durchführung des Asylverfahrens vor. Aus den genannten Auskünften ergibt sich, dass Asylsuchende, die aufgrund der Dublin-II-Verordnung rücküberstellt werden, für die ungarischen Behörden nicht automatisch als Asylsuchende gelten. Sie müssen nach ihrer Überstellung nach Ungarn erneut Asyl beantragen, auch wenn sie zuvor in einem anderen europäischen Staat um Schutz nachgesucht haben (UNHCR vom April 2012, a.a.O.). Auch Asylbewerber, die zuvor in Ungarn einen Asylantrag gestellt haben, können ihr unterbrochenes Asylverfahren nicht fortsetzen (Pro Asyl vom Februar 2012, a.a.O.). Diese Anträge werden als Folgeanträge angesehen. Folgeanträge, bei denen kein neuer Sachvortrag vorliegt, werden bereits in der ersten Stufe der Prüfung im Asylverfahren abgelehnt mit der Folge, dass der Asylantrag inhaltlich nicht geprüft wird. Das Asylverfahren in Ungarn gliedert sich in zwei Verfahrensschritte. Im sog. Vorverfahren, das auch eine erste Anhörung beinhaltet, wird nach einer ersten Anhörung geprüft, ob der Asylantrag unzulässig, offensichtlich unbegründet oder aber aufgrund der Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats nach der Dublin-II-Verordnung eingestellt wird. In der zweiten Stufe des Verfahrens erfolgt eine zweite detaillierte ausführlichere Anhörung durch die Asylbehörde, der dann eine Entscheidung folgt. Das bedeutet jedoch für diejenigen Asylbewerber, die bislang kein Verfahren in Ungarn durchgeführt haben oder deren Verfahren mangels Mitwirkung, da sie z.B. weitergereist sind, eingestellt wurde, dass ihr Asylbegehren nicht inhaltlich geprüft wird. Dies widerspricht jedoch Art. 16 Abs. 1 a) und b) der Dublin-II-Verordnung. Danach ist der für das Asylverfahren zuständige Mitgliedstaat nicht nur verpflichtet, Asylsuchende zurückzunehmen, sondern auch gehalten, die Prüfung des Asylantrags abzuschließen. Dies ist jedoch nach dem vorstehenden nicht gewährleistet. Zudem ist der antragstellenden Person der Verbleib im Land bis zu einer Entscheidung der zuständigen Behörde über ihren Antrag zu gestatten (Art. 7 der Asylverfahrensrichtlinie - RL 2005/85/EG) und sicherzustellen, dass sie ein Dokument erhält, das ihren Statur als asylsuchend bestätigt oder aus dem hervorgeht, dass sie zum Verbleib im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats berechtigt ist, solange ihr Asylverfahren anhängig ist bzw. ihr Antrag geprüft wird (Art. 6 Abs. 1 der Aufnahmerichtlinie - RL 2003/9/EG). Auch hier liegen Mängel vor.

Hinzu kommt, dass in den meisten Fällen Rückkehrer nach der Dublin-II-Verordnung inhaftiert werden. Denn es handelt sich häufig um Personen, die bereits in Ungarn erfolglos einen Asylantrag gestellt oder die sich illegal in Ungarn aufgehalten haben. Für beide Personenkreise gilt in der Regel, dass vollziehbare Ausreiseaufforderungen vorliegen. Dies bedeutet für den Fall von Überstellungen, dass die für den Vollzug der Ausweisung zuständigen Institutionen verpflichtet sind, zur Sicherstellung der Ausweisung Haft anzuordnen (Antwort der Bundesregierung vom 2.3.2012, a.a.O.). Hieran ändert sich auch nichts, wenn der rücküberstellte Asylbewerber aus der Haft einen Folgeantrag stellt. Dieser wird, wie oben gezeigt, als Folgeantrag gewertet. Die Stellung eines Folgeantrags hat jedoch keine aufschiebende Wirkung, selbst wenn dieser beachtlich sein sollte. Daher spricht viel dafür, dass Ungarn jedenfalls teilweise auch Art. 18 der Richtlinie 2005/85/EG nicht beachtet, wonach Mitgliedstaaten eine Person nicht allein deshalb in Gewahrsam nehmen dürfen, weil sie ein Asylbewerber ist.

Darüber hinaus dürfte die Behandlung der Asylbewerber in Haft weder im Einklang mit den vom EGMR in der Rechtssache S. gegen Vereinigtes Königreich (U.v. 29.1.2008 - 13229/03 -, juris) formulierten Standards noch mit dem Erwägungsgrund 9 der EU-Rückführungsrichtlinie (Richtlinie 2008/115/EG) stehen, da sie der von mutmaßlichen Straftätern gleichkommt. Ausweislich des Berichts des UNHCR vom April 2012 wird in dauerhaft bestehenden Hafteinrichtungen ein strenges Gefängnisregime angewendet, selbst wenn die Insassen nur die kleineren Vergehen der irregulären Einreise oder des irregulären Aufenthalts begangen haben. Asylbewerber werden bei der Vorführung vor Gericht oder bei Erledigungen außerhalb der Einrichtungen - etwa zur Bank oder zum Postamt - mit Handschellen gefesselt. Zudem werden sie an Leinen geführt, die normalerweise für Angeklagte in Strafverfahren verwendet werden. Der EGMR hat indessen in seiner Entscheidung unter anderem ausgeführt, dass Haftort und Haftbedingungen angemessen und von der Überlegung geleitet sein sollten, dass die Maßnahme nicht auf Straftäter sondern auf Ausländer angewendet wird, die oft aus Angst um ihr Leben aus ihrem eigenen Land geflüchtet sind. Nach dem Erwägungsgrund 9 der Rückführungsrichtlinie sollten Drittstaatsangehörige, die in einem Mitgliedstaat Asyl beantragt haben, so lange nicht als illegal im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhältige Person gelten, bis eine abschlägige Entscheidung über den Antrag oder eine Entscheidung, mit der sein Aufenthaltsrecht als Asylbewerber beendet wird, bestandskräftig geworden ist.

Des Weiteren haben UNHCR (Bericht vom April 2012) und Pro Asyl (Bericht vom März 2012) die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende in Ungarn als nicht dem internationalen und EU-Standard entsprechend kritisiert.

Nach dieser Sachlage würde dem Antragsteller bei einer Rücküberstellung nach Ungarn mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Inhaftierung drohen und es besteht die konkrete Gefahr, dass sein Asylbegehren aufgrund der aufgezeigten Verfahrensweise inhaltlich nicht geprüft wird und er in seinen Heimatstaat bzw. in ein anderes zur Aufnahme bereites Land abgeschoben wird. Daher bestehen hier hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass der nach Art. 16 a Abs. 2 Satz 1 GG in einem Drittstaat europarechtlich zu gewährleistende Schutz tatsächlich nicht zumindest im Kern sichergestellt ist, so dass vorliegend die Ausschlusswirkung des § 34 a Abs. 2 AsylVfG nach verfassungskonformer Auslegung nicht greift.

Nach alldem ist der Antrag gegen den Antragsgegner zu 1 auch begründet. Denn es bestehen nach dem oben Ausgeführten ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ablehnung des Asylantrags des Antragstellers als unzulässig gemäß § 27 a AsylVfG und der Anordnung der Abschiebung nach Italien.

Daher fällt auch die im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO zu treffende Interessenabwägung zugunsten des Antragstellers aus. Abzuwägen sind das private Interesse an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs und das gesetzlich vermutete besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes. Das Gewicht dieser gegenläufigen Interessen wird vor allem durch die summarisch zu prüfenden Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache, aber auch durch die voraussichtlichen Folgen des Suspensiveffekts einerseits und der sofortigen Vollziehung andererseits bestimmt. Bei der Abwägung auf Grund summarischer Erfolgsprüfung gilt nach ständiger Rechtsprechung, dass das Suspensivinteresse umso größeres Gewicht hat, je mehr der Rechtsbehelf Aussicht auf Erfolg hat, und dass umgekehrt das Vollzugsinteresse umso mehr Gewicht hat, je weniger Aussicht auf Erfolg der Rechtsbehelf hat (vgl. BVerwG, B.v. 12.11.1992, DÖV 1993, S. 432; s.a. VGH BW, B.v. 13.3.1997, VBlBW 1997, S. 390).

Die Nachteile für den Antragsteller, der im Falle einer Abschiebung in Ungarn mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Unterkunft erhalten würde und Rechtsschutz gegen den Bescheid des Bundesamts nicht mehr erreichen könnte, wiegen schwerer als diejenigen, die durch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung und damit die Aussetzung der Abschiebung entstehen.

Der Antrag gegen den Antragsgegner zu 2 auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat keinen Erfolg. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (B.v. 31.5.2011 - A 11 S 1523/11 -, juris) hat das Bundesamt vor Erlass einer Abschiebungsanordnung nach § 34 a AsylVfG auch zu prüfen, ob Abschiebungshindernisse bzw. -verbote oder Duldungsgründe vorliegen. Anders als bei der Entscheidung über Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG im Zusammenhang mit dem Erlass einer Abschiebungsandrohung ist es nicht auf die Prüfung von sog. „zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten“, hier also solchen bezüglich Ungarns, beschränkt. § 34 a AsylVfG bestimmt ausdrücklich, dass das Bundesamt die Abschiebung anordnet, „sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann“. Das Bundesamt hat danach auch zu prüfen, ob die Abschiebung in den Drittstaat aus subjektiven, in der Person des Ausländers liegenden Gründen rechtlich oder tatsächlich möglich ist. Es hat demnach die umfassende Prüfungs- und Entscheidungskompetenz bezüglich der Zulässigkeit der Abschiebung nach Ungarn; eine Prüfung von Abschiebungshindernissen durch die Ausländerbehörde scheidet aus. Dies hat zur Folge, dass der Antragsgegner zu 2 nicht passivlegitimiert ist.

Soweit der Prozessbevollmächtigte mit Fax vom 14.8.2012 mitteilt, dass der Asylantrag zurückgenommen wurde, lagen zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts die entsprechenden Nachweise hierfür nicht vor. Das Gericht war daher nicht veranlasst zu der Frage Stellung zu nehmen, ob die Rücknahme des Asylantrags zur Folge hat, dass die Bundesrepublik Deutschland zur Prüfung des subsidiären Schutzanspruchs gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG zuständig ist (vgl. hierzu VG Sigmaringen, B.v. 29.6.2012 - A 2 K 1958/12 -, a.a.O., m.w.N.).

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 83 b AsylVfG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).